Küng | Fremde Freunde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten, eBook

Küng Fremde Freunde


1. Auflage, neue Ausgabe 2021
ISBN: 978-3-0369-9459-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 432 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9459-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Einladung klingt perfekt: Eine Woche Ferien in einem idyllischen Haus in Frankreich. Einfach mal wieder die Seele baumeln lassen. Sü?es Dolcefarniente genie?en. Und natürlich: Essen wie Gott in Frankreich! Doch leider kommt es dann so, wie es oft kommt: Ganz, ganz anders.

Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim Magazin des Tages-Anzeigers. Er war Easy Listening-DJ, Debitorenbuchhalter und Tanztheatermusiker. Zuletzt erschienen seine Kolumnensammlung Die Rettung der Dinge und sein Roman Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück. Max Küng lebt in Zürich.
Küng Fremde Freunde jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


L’arrivée


Die Ankunft


Schwer hingen die Reisetaschen an Jeans Armen. »Verdammt, habt ihr da Plutonium reingepackt?«, sagte er zu niemand Bestimmtem. Er wollte nicht jammern, denn er wusste, jammernde Männer kamen nie gut an. Die Henkel der Taschen schnitten ihm in die Handflächen, er tat Schritt um Schritt, stellte die Taschen vor der Haustüre ab und ging zurück zum Wagen, dessen Metallic-Lack in der Mittagssonne schillerte wie der Panzer eines Waldlaufkäfers. Zwei weitere Reisetaschen lud er aus dem Gepäckraum, zudem einen voluminösen Hartschalenkoffer. Als er Laurent mit nichts als dem iPad in den Händen und auch noch ohne Schuhe an den Füßen zum Haus schlurfen sah, blaffte er seinen Sohn an, ob er sich nicht auch beteiligen wolle am Unvermeidbaren, dem Hereintragen des Gepäcks, denn das gehöre schließlich dazu, wenn es »dem Monsieur« zumutbar und nicht zu viel verlangt wäre, vielleicht, bitte, ja? Laurent bemühte sich um eine mitleiderweckende Miene, als er seinen Vater anblickte und mit dünner Stimme sagte, ihm sei schlecht, von der Autofahrt, so richtig kotzübel. In der Tat wirkte er fahl im Gesicht. Sein Vater wollte eben anmerken, das käme halt davon, wenn man während der Autofahrt die ganze Zeit in diese elektronischen Geräte starrte, anstatt – so wie er es ihm wiederholt geraten hatte – aus dem Fenster zu schauen. Jean hatte den Mund schon geöffnet, die erste Silbe lag ihm schon auf der Zunge, da hörte er Jacqueline rufen. »Leg dich drinnen aufs Sofa, Schatz!«

Es klang fürsorglich, versöhnlich.

»Danke, Mama«, sagte Laurent matt und müde.

Jean schloss seinen Mund, verzog das Gesicht und dachte, danke. So viel zum Thema »Erziehung auf einer Linie«.

Jacqueline mühte sich mit dem Schloss der Dachbox ab, sah Jean an und fragte mit vor Anstrengung verkniffenem Gesicht, ob er ihr nicht helfen könne mit dem verfluchten Ding.

»Ja«, erwiderte Jean ohne übermäßige Begeisterung, die Taschen in seinen Händen zogen ihn zum Erdmittelpunkt hinab. Er empfand es als doch einigermaßen seltsam, dass er so viel Schwere und Last empfinden musste, jetzt, am Anfang der Ferien. Ferien sollten doch Leichtigkeit sein. Ein Zustand des Schwebens. Luftiges Dasein. Glück. Deshalb hatten sie schließlich das Haus gekauft, hier in Saint-Jacques-aux-Bois. Damit sie ohne große Mühe in die Ferien fahren konnten. Das war die Idee gewesen: Spontan und ohne sich groß Gedanken machen zu müssen einfach zu Hause ins Auto klettern, gemütlich nach Frankreich kutschieren, ankommen, aussteigen, genießen! Es war nicht weniger als die Erfüllung eines Traums, ein Haus sein Eigen zu nennen, das man ohne Aufwand nutzen konnte, wo die Vorratsschränke voll waren, wo es warme Kleider gab für kühle Tage und einen Satz Badeklamotten für den Sommer. Und ein Paar Gummistiefel für den seltenen Fall, dass es einmal regnen sollte (so hatte er gescherzt, leider aber sollte sich das mit dem Regen als ganz und gar nicht so seltener Fall herausstellen, sondern als ausgesprochen nasse Regelmäßigkeit). Ein Haus, um »einfach zu sein«, wie Jean gerne sagte. Es gab noch andere Dinge, die Jean gerne sagte, wenn er von ihrem Haus erzählte, voller Stolz und mit entrücktem Lächeln, etwa: »Unser Second-House«. Und Jacqueline echote dann. »Second-House« war ein Begriff, der ihr gefiel. Was konnte man vom Dasein auf Erden mehr erwarten, als eine eigene Firma zu gründen, Kinder in die Welt zu setzen und ein Ferienhaus zu besitzen? Damit war für ein Leben schon viel erreicht, wenn nicht gar alles – wenigstens für Menschen knapp vor oder nach dem fünfzigsten Lebensjahr.

Die Realität jedoch sollte sich als etwas anders geartet herausstellen. Und so luden sie ihren Renault Espace jedes Mal voll bis unters Dach, wenn sie sich auf den Weg machten. Es war unglaublich, was alles mit in die Ferien musste, zwingend, dringend: Skateboards, Inlineskates, Fahrräder und Stand-up-Paddling-Bretter, große Kisten mit Gesellschaftsspielen (die mit schöner Regelmäßigkeit am Ende der Ferien unberührt wieder ins Auto eingeladen wurden), Jacquelines Puzzles, ihre Frühstücksflocken, die Hasen samt Futter und Streu. Auch wenn sie bloß für ein Wochenende fuhren, kam es Jean vor, als würden sie zu einer über alle Kontinente führenden Reise um die Erde aufbrechen.

Verdammt, dachte Jean, sagte aber nichts, bemühte sich, keine schlechten Vibes zu verbreiten, denn er wusste, dass es für alle nicht einfach war. Das Packen, das Einladen, die Abfahrt, die Reise, die Ankunft, die Trennung vom trauten Heim, der Aufbruch in ein zwar nicht gerade exotisch-fernes, aber doch fremdes Land. All das bedeutete Stress. Nicht selten kam es ihm vor, als bräuchte er den größten Teil der Ferien dazu, sich vom Stress zu erholen, den die Reiserei verursacht hatte, um dann, wenn er endlich an einem Punkt angelangt war, den man entfernt als so etwas wie »erholt« nennen konnte, wieder zu packen und die Heimreise anzutreten, die ihm jeweils noch anstrengender vorkam als die Anreise. Denn man konnte ja nicht einfach mir nichts, dir nichts wieder ins Auto steigen und abdüsen, sondern musste das Haus putzen, die Betten abziehen, den Kühlschrank ausräumen, die Heizung runterdrehen und kontrollieren, ob wirklich alle Türen und Fenster verschlossen waren. Zwar hatten sie eine Frau aus dem Dorf, die sich um die Tiefenreinigung kümmerte. Trotzdem, man musste, musste, musste! Was für ein Leben.

»Klemmt«, sagte Jacqueline knapp, als sich Jean an der Dachreling in die Höhe zog, um sich das Problem mit der Transportbox anzusehen, die wie ein grauer Sarg über dem Autodach schwebte. Es war zweifelsohne ein hässliches Ding, aber nützlich, so wie es eben hässlichen Dingen oft zu eigen zu sein scheint.

Die Gäste würden in zwei, drei Stunden ankommen. Bis dahin hätten Jacqueline und Jean genügend Zeit, das Gepäck zu verstauen, das Haus vorzubereiten, Licht und Luft hereinzulassen, die Betten frisch zu beziehen, Frottiertücher in die Bäder zu legen, vielleicht schnell noch mit dem Besen durch die Zimmer zu huschen und die toten Fliegen auf dem Boden wegzufegen. Die toten Fliegen, wo die immer herkamen? Einmal war der Boden schwarz vor geflügelter Leichen. Jacqueline hatte einen spitzen Schrei ausgestoßen, als sie die Türe zu jenem Zimmer unter dem Dach geöffnet hatte. Jean aber hatte bloß mit der Schulter gezuckt und kurzerhand persönlich die Bestattung per Besen besorgt.

Jacqueline würde auf der Wiese einen Strauß Herbstblumen pflücken – etwas, das sie liebte – und den feinen, zarten Strauß im alten Mostkrug auf den Tisch stellen. Sie würde einen kleinen Imbiss herrichten für die sicherlich hungrigen Ankömmlinge. Im Weinkühler stünde eine Flasche Grüner Veltliner, ihr Hauswein, den sie kistenweise von zu Hause mitbrachten, da Jacqueline der hiesige nicht zusagte. Ja, alles wäre parat und ganz wunderbar, wenn ihre Gäste einträfen.

Jean machte sich weiter an der Dachbox zu schaffen. Er fluchte nicht, obwohl ihm danach war; das verdammte Schloss der Dachbox ließ sich einfach nicht öffnen. Er fluchte nicht, da er nicht wollte, dass Jacqueline ihn mit ihrem Ich-hab-dir-doch-gesagt-die-Dachbox-taugt-nichts!-Blick ansah. Sie stand neben dem Wagen, die Arme verschränkt, schaute streng zu ihm hoch. Er schob die Zunge in den Mundwinkel, zog den Schlüssel aus dem Schloss, schob ihn erneut hinein, drehte sachte, mit Gefühl und forschend, erst in die eine, dann in die andere Richtung, dann mit so viel Kraft, dass er die im Mundwinkel geparkte Zunge zurückziehen musste, damit er sie nicht blutig biss.

Es war ein helles Geräusch, das erklang, als der Schlüssel brach, der Bart im Schloss stecken blieb. Jean fluchte leise, als er betrachtete, was er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, klein und silbrig glänzend: ein halber Schlüssel.

»Was ist passiert?«, rief Jacqueline.

»Hm«, murmelte Jean, den bartlosen Schlüssel in seinen Fingern, »abgebrochen.«

Jacqueline erwiderte nichts, aber Jean sah, dass sie nun doch ihren Ich-hab-dir-doch-gesagt-die-Dachbox-taugt-nichts!-Blick aufgesetzt hatte.

»Kein Problem«, meinte Jean. »Ich habe ja noch einen Ersatzschlüssel.«

»Aber, wenn er abgebrochen ist, steckt ja ein Teil des Schlüssels im Schloss, dann bekommst du den Zweitschlüssel nicht rein.«

Richtig, dachte Jean, aber er sagte, während er herunterstieg und den kaputten Schlüssel in seine Hosentasche steckte, ihn verschwinden ließ wie ein korrupter Polizist ein zu unterschlagendes Beweisstück: »Ich krieg den schon raus. Du musst dir deswegen nicht deinen hübschen Kopf zerbrechen. Das übernehme ich. Kein Problem, das Jean nicht lösen könnte, oder? Bringen wir erst mal den Rest rein. Um die Dachbox kümmere ich mich später.«

Jacqueline bedachte ihn nun mit einem anderen Blick. Es war der Ich-weiß-was-das-heißt-wenn-du-sagst-ich-kümmere-mich-später-drum-Blick, eine Mischung aus Warnung und vorweggenommener Enttäuschung. Kaum hatte sich Jean nach den zuvor am Boden deponierten Taschen gebückt, sie ächzend gehoben und »Es muss Plutonium sein« gestöhnt, da hörten sie ein Hupen. Ein Wagen fuhr vor.

Es war ein Toyota Prius mit Schweizer Nummernschild. Am Steuer saß schmal grinsend Bernhard, neben ihm breit lächelnd Veronika, die Augen hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen. Zum offenen Fenster im Fond heraus winkte eine Hand, die Denis gehören musste.

»Viel zu früh … sie sind viel zu früh …«, rief Jacqueline und lachte auf. Jean hörte keine Freude im Lachen seiner Frau, es klang eher nach Besorgnis.

Er ließ die Taschen erneut fallen und hob die rechte...


Küng, Max
Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim Magazin des Tages-Anzeigers. Er war Easy Listening-DJ, Debitorenbuchhalter und Tanztheatermusiker. Zuletzt erschienen seine Kolumnensammlung Die Rettung der Dinge und sein Roman Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück. Max Küng lebt in Zürich.

Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim Magazin des Tages-Anzeigers. Neben diversen Veröffentlichungen erschienen zuletzt seine Kolumnensammlung Die Rettung der Dinge und seine Romane Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück und Fremde Freunde. Wir kennen uns doch kaum ist sein Romandebüt. Max Küng lebt in Zürich.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.