E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Kummer Sicher ist sicher ist sicher
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7296-2046-9
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2046-9
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1976 in Frauenfeld geboren, lebt in Winterthur.1997 veröffentlichte sie einen ersten Text, einen Gedichtband. Es folgten mehrere mit diversen Werkbeiträgen und Preisen ausgezeichnete Erzählungen. Die Autorin schreibt für das Radio SRF Geschichten für Kinder und Erwachsene und bloggt auf thurgaukultur.ch. 2014 war sie mit dem Erfolgstitel ?Alles Gute aus dem Thurgau? auf grosser Lese-Reise. Mit dem Trio ?vergiiget, verjuchzet, verzapft? mit Christine Lauterburg (Jodel) und Dide Marfurt (Musik) performt sie auf der Bühne ihre Spoken-Word-Texte.
Autoren/Hrsg.
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Donnerstag, 21. Dezember
Der Wecker zeigt 02:15. Früher war die Digitalanzeige rot, ein Rot, das mich an Blut zu erinnern begann. Ich musste etwas unternehmen. Für gewöhnlich lasse ich Geräte stoisch reparieren, bis wirklich nichts mehr zu machen ist. Oliwia nennt mich «Öko-Tante». Als ich Dani demonstrierte, dass der Wecker kaputt ist und er ihn entsorgen müsse, sagte er: «Sicher nicht, den haben wir noch nicht lange, der hat sicher noch Garantie.» Damit hatte er Recht. Doch ich hatte die Garantie verschwinden lassen. «Nein, die ist abgelaufen, ich kaufe einen neuen Wecker.»
Müsste man mich beschreiben, würde man bestimmt nicht sagen, dass ich eine Person bin, die für Überraschungen gut ist. Aber hätten Oliwia und Dani sehen können, wie ich die Abdeckung des Weckers abgenommen und zwei Kabel aus seinem Bauch gerissen habe, hätten sie sicher über diese ganz andere Seite von Martina Ortolfi-Rechsteiner gestaunt.
Der Wecker zeigt 02:15 und ich liege still, damit Dani nicht aufwacht. Ab und zu falle ich ins Dösen. Um halb Fünf schleiche ich die Treppe hinab. Im Wohnzimmer wickle ich mich auf dem Sofa in die Wolldecke und starre ins Düstere. Mich beruhigt das schwarze Nichts kurz vor Ende der Nacht, wenn nichts ist, keine Geräusche wahrnehmbar sind. In diesen Stunden kann ich am besten nachdenken. Dann weiß ich, dass Angst vor Spinnen normal ist. Und dass Angst vor dem Tod normal ist. Dann ist mir auch klar, dass es keinen Kurzschluss mit fatalen Folgen gibt, wenn der Stecker nicht bündig in der Buchse steckt. Mein Kopf weiß es. Meine Gefühle hatten es vergessen. Ich habe keine Panikattacken. Aber was ich darüber gelesen habe, leuchtet mir ein; dass man zum Beispiel in einer Menschenmenge auf einmal das Gefühl hat, keine Luft mehr zu kriegen. Ich habe keine Panik, ich habe Befürchtungen, rund um die Uhr, manchmal stärker, manchmal schwächer, manchmal blubbern die Sorgen, manchmal kochen sie. Ich muss immer an sie denken.
Oben geht das Licht an. Ich raffe mich auf, um das Frühstück vorzubereiten. Das ist einfach: Die Gonfi, Mandelcrème und Erdnussbutter sind in Gläsern, ich brauche sie nur auf den Tisch zu stellen, die Margarine ist auch verpackt. Das Brot schneidet Dani lieber selbst. Ich brauche nichts zu berühren, außer den weißen Tellern mit den violetten Blümchen, die uns Danis Eltern zur Hochzeit geschenkt haben, aber die halte ich am äußersten Rand. Während den Vorbereitungen trinke ich einen Orangenblütentee, dieser Tee soll beruhigen, ich trinke ihn als Vorbereitung für den Kaffee, der bald folgt. Kaffee macht mich nervös, aber ich trinke ihn trotzdem, weil ich noch immer die Hoffnung habe, dass er mich aus meiner chronischen Müdigkeit reißt und ich den Tag hindurch so aktiv werde, dass ich abends wieder einmal subito einschlafe. Der Kaffee heizt aber vor allem meinen Stoffwechsel an. Ich hatte nie viel Speck auf den Rippen, aber seit den vielen Sorgen rumpelt und zischt es immer in meinem Darm, ich muss ständig aufs Klo und verliere immer mehr Gewicht.
Mir kommt es vor, als würde Lili die Sachen für die Schule heute betont langsam zusammensuchen. Ich gehe ihr hinterher, lese laut den Stundenplan vor und nenne die Utensilien, die sie braucht: «Zirkel. Turnschuhe. Das Aufsatzheft», und versuche mit der freien Hand, das Vogelnest an ihrem Hinterkopf auseinanderzuzupfen.
«Ich bin die Dessertfee, juhee, ein Pling mit meinem Zauberstab und schon stehen Pudding und Co. für euch parat», murmelt sie vor sich hin.
Dani hat das Frühstück zur Seite geschoben und korrigiert noch einige Arbeiten. Ich hüte mich zu sagen, dass er immer mehr arbeitet, denn dann zählt er auf, was er alles der Familie zuliebe nicht mehr macht. Exkursionen mit der Klasse unternimmt er zum Beispiel keine mehr. Wilhelm fand das nur recht, er sagte dazu: «Dieses zeitraubende Herumgereise ist nicht unsere Aufgabe, sondern die der Eltern!» Dani hatte eine undeutliche Kopfbewegung gemacht, wie eine leichte Drehung um den Nacken zu lockern, die Bewegung hätte aber auch ein Nicken sein können. Bestimmt war er überrumpelt, weil Wilhelm ausnahmsweise in einer beruflichen Frage einer Meinung mit ihm war. Und einmal mehr waren wir überrascht, dass Wilhelm im Präsens sprach, als ob er noch immer eine Klasse hätte.
Sobald Lili und Dani auf dem Weg in die Schule sind, drehe ich meine Runde. Die Fenster müssen geschlossen und die Kippschalter für die Sicherung umgelegt sein. Ausnahme: der Kippschalter für die Küche. Ich hatte ihn ein erstes und letztes Mal gekippt, mit dem Resultat, dass der Kühlschrank auftaute und ich später am Tag in einer Pfütze stand. Am Anfang hatte ich nur die Stecker aus den Dosen gezogen. Bis ich einmal unerwartet lange arbeiten musste, weil sich Linda etwas im Rücken gezerrt hatte. Ich kam als Letzte nach Hause und Dani fragte, was das mit den Steckern solle. «Im Fernsehen haben sie gesagt, dass sich viele Geräte nicht einfach mit dem On-und-off-Schalter abstellen lassen, am einfachsten ist es, wenn man den Stecker zieht. Sicher ist sicher», flunkerte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. «Na dann», sagte Dani. Ich hatte nicht das Gefühl, ihn überzeugt zu haben.
Kurz darauf sagte er aber wie in einem Nebensatz: «Wenn du die Schalter im Sicherungskasten kippst, musst du gar nicht überall die Stecker ziehen.» Offenbar fand er mein Pseudo-Öko-Anliegen doch relevant. Das fand ich natürlich grandios und habe seine Idee sofort umgesetzt. Die Stecker ziehe ich aber trotzdem immer, schließlich könnte noch Strom in der Leitung sein, der in der Buchse zum Kurzschluss führt. Am Schluss des Rundgangs ist der Herd dran. Dann gehe ich aus dem Haus und bin schon so erschöpft, dass ich am liebsten gleich wieder ins Bett würde. Wer rennt denn schon aus dem Haus ohne einen Blick zurück? Das machen doch alle. Ist der Kontrollgang normal oder ein zwanghaftes und krankes Verhalten? Im Buchwerden psychische Krankheiten mit ihren Symptomen und Behandlungsmöglichkeiten für Laien erklärt. Ich habe es gelesen oder besser gesagt: an verschiedenen Stellen aufgeschlagen und zwar im Auftrag von Oliwia, wenn man so will. Eigentlich sieht sie es nicht gern, wenn wir während der Arbeit lesen: «Da kommt ein Kunde rein und sieht nur euren Scheitel!» Während der Sommerferienzeit ist aber alles anders, da scheucht sie uns auf: «Lest, was ihr könnt, und überlegt, wie ihr die Bücher an den Mann und die Frau bringen könnt.»
Vergangenen Sommer habe ich mit Sachbüchern begonnen, erst ein Buch studiert, das erklärt, wie alles in Erfüllung geht, wenn man es sich nur auf die richtige Weise wünscht, ich habe mich über das Leben von Mahatma Gandhi informiert, und schließlich dieses Buch für Menschen, die nicht genau wissen, ob sie verrückt sind oder nicht, aus dem Gestell genommen. Aufgeregt studierte ich das Inhaltsverzeichnis, als mir Oliwia die Hand auf die Schulter legte. «Psychologie?» «Ja, querbeet.» Meine Stimme war verwackelt und meine Ohren glühten vor lauter Ertappt-worden-Sein so sehr, dass Oliwia die Wärme spüren musste. Sie beugte sich über mich: «Aha, das habe ich mir auch schon angeschaut. Es ist ja unglaublich, welche Ängste die Leute haben! Das Buch ist wie eine Realsatire. Einer hat Angst vor Weinbeeren und kann nicht aus dem Haus, es könnte ja sein, es läuft ihm jemand über den Weg, der grad Studentenfutter isst. Und dann gibt es Leute, die …» «Unglaublich», wiederholte ich tonlos, und sie sprach weiter: «Auf jeden Fall ist mir beim Lesen klar geworden, dass ich keine Ängste habe. Das ist ein inoffizielles Verkaufsargument: Lesen Sie das Buch, damit Sie merken, wie gesund Sie sind! Vor allen Dingen habe ich keine Angst vor Eiscafé. Ich hole mir einen. Willst du auch einen?» «Nein, danke».
Als ich das Buch am Abend zurück ins Gestell schob, wusste ich nicht viel über den Inhalt. Ich hatte es nicht geschafft, längere Passagen am Stück zu lesen. Auf eine seltsame Art fürchtete ich mich vor dem Buch, ganz, als könnte die Angst beim Umblättern aus den Seiten springen. Ich hatte die Kapitelüberschriften gelesen, «Depressionen» zum Beispiel, «Bipolare Störungen», «Panikattacken» oder «Ängste». Alles kam mir bedrohlich vor. Ich las die Überschrift «Zwänge». Ein Wort, das ich nicht in Verbindung mit einer Krankheit brachte. Ausgerechnet in diesem Kapitel sprang mir aber ein Satz ins Auge, bei dem ich beim Lesen mehrmals nickte, um danach aufzusehen, um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtet hatte. Es hieß da, dass Zwänge meistens mit Handlungen oder Gedanken verbunden sind, die die Betroffenen selbst nicht verstehen können und selbst abwegig finden, gegen die sie aber trotzdem nichts machen können.
Schließlich bin auf dem Weg zur Buchhandlung und aufgewühlt, weil mich dieser junge Morgen schon so viele Nerven gekostet hat. Und auch wenn ich es schaffe und nicht mehr umkehre, begleitet mich das Gefühl der Unsicherheit doch wie ein treuer Hund.
Über Nacht hat es mächtig geschneit, das Weiß leuchtet im Morgenlicht. In den Medien wird diskutiert, ob die anhaltende Kälte eine Folge des Klimawandels ist. Der Klimawandel sei ein Problem, das nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Und immer, wenn ich das höre, denke ich: «Zum Glück nicht meins.» Für unsere Wohnung bin ich verantwortlich. Für das Klima nicht. Auch nicht für Erdbeben oder Vulkanausbrüche oder Serienmorde und Schießereien. Das wäre der ideale Job für mich: Verantwortliche für das Ausdenken möglicher Katastrophen und Verbrechen. Unmöglich, dass es eine zweite...




