E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Sophia Alvarez
Lingen Suppenbrunzer
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96041-480-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Niederbayern Krimi
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Sophia Alvarez
ISBN: 978-3-96041-480-3
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Aufrüttelnd, erbarmungslos und ungewöhnlich – ein Kriminalroman, der noch lange nachhallt
Sophia Alvarez von der Münchner Mordkommission wird in den Bayerischen Wald strafversetzt. Ausgerechnet! Denn dort kommt sie her, dorthin wollte sie nie wieder zurück. Kaum hat sie einen Fuß in die Provinz gesetzt, ereignet sich ein Unglück, das die dörfliche Gemeinschaft ins Wanken bringt: Ein junges Mädchen geht an Pfingsten in Flammen auf. Ein spektakulärer Suizid? Oder war es Mord? Sophia ermittelt gegen den Willen ihrer Vorgesetzten – und muss sich auch ihrer eigenen Vergangenheit stellen ...
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Sophia hatte die Ettstraße erreicht, steuerte auf das Polizeipräsidium zu, trat durch das gewaltige Eisentor, das in den Innenhof führte, und warf zum ersten Mal dem Hinterteil des auf einer Steinsäule thronenden bayerischen Löwen keine Kusshand zu. Hätte sie sich selbst beobachten können, hätte sie eine sehr schlanke, zierliche Frau Ende dreißig gesehen, die leichtfüßig, als trügen die Beine kaum Gewicht, in Jeans und auf hohen Absätzen die wenigen Stufen nahm, die zu dem Gebäude führten. Einem ehemaligen Kloster der Augustinereremiten, fünf Stock hoch und mit Glockenturm. Sophia war nicht der Typ Frau, der in einer Menschenmenge oder einem Restaurant auffiel. Das heißt, ob sie auffiel oder nicht, hing jeweils vom Blickwinkel ihres Betrachters ab und davon, ob er sich die Zeit nahm, sie zu entdecken oder nicht. Die Augen fast schwarz, die Brauen breit, dunkel und sehr gerade, die Gesichtsform oval, die Nase schmal, aber für Sophias Geschmack zu groß, genauso wie ihr Mund. Je nach Lichteinfall oder Stimmung konnte sich ihr Gesicht dramatisch verändern, sodass man manchmal das Gefühl hatte, Sophia sei mehr als nur eine. Als fände man in ihren Zügen auch die Vielfalt ihrer Ahnen wieder und die strenge Melancholie des Fado, melodiöses Wehklagen und seliges Lächeln. Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten. Ein Satz von Fernando Pessoa, den ihr Vater gern zitiert hatte. Sophia stemmte die schwere Holztür auf, trat ein in die Parallelwelt, die ebenfalls mit viel dunklem Holz gestaltet worden war. Die berüchtigte No-go-Area, dieser Ort, der ein ähnliches Prickeln hervorrief wie »Das Schweigen der Lämmer«. Hier wurde das Verbrechen zur Realität, spornte die Phantasie an, jagte sie durch Wogen wohligen Schauderns. Sie fühlte ihn, noch ehe sie ihn sah. Witterte seine Panik. Wie Hunde über einen Pfotenabdruck den Angstschweiß ihrer Artgenossen. Sie drehte sich ein wenig nach links, in die Richtung, aus der seine Schwingungen sie erreichten. Er war groß, kräftig, schwarz und jung. Zwei Polizisten führten ihn mit Handschellen ab, er schlurfte mit hängenden Schultern, dann wandte er sich ihr zu. Augen wie zwei riesige schwarze Löcher, die Iris kaum noch sichtbar. Drogen, dachte sie noch, als er sich mit der Kraft seines sehnigen Körpers aus dem Griff der Beamten befreite, auf sie zusprang und – sie wich erschrocken zurück – inmitten der Bewegung erstarrte. Schockgefroren. Der Blick entleert. »Was ist mit ihm?«, fragte sie die beiden Polizisten, die ihn immer wieder anstießen: »Hey man, auf geht’s.« »Der Typ ist illegal, wird abgeschoben.« Offenbar erhielten die Nervenbahnen wieder Signale. Zuerst zuckten die Augenlider, dann bebten die Lippen, und schließlich zitterte er am ganzen Leib, so wie Sophia noch keinen Menschen jemals hatte zittern sehen. »Was hat er angestellt?« »Er ist nach dem Abschiebebescheid untergetaucht. Wir haben ihn erwischt, als er was zum Essen geklaut hat.« Sophia nickte, dachte noch, was geht’s mich an, wollte schon weitergehen, als sich der Mann ganz leicht nach vorn beugte und flüsterte: »Help me!« Sophia hatte bereits oft gehört, wie Menschen sie um Hilfe baten, anflehten, aber in dem Ton, mit dem er es sagte, lag etwas … »Help me!« Kein Abschied in den Augen. Sie waren auch nicht mehr leer. Todesangst, das war es, was sie sah und fühlte. Sophia kannte die Zellen im Haftbereich. Klein, eng und fast alle ohne Fenster. Nicht mehr als ein dunkles Loch. »Please!« Hätte die Haut des Mannes die Eigenschaft gehabt, blass zu werden, so wäre er, da war Sophia sicher, mittlerweile kreidebleich. Gerade noch völlig schwarz, war jetzt nur noch Weiß in seinen Augen, Iris und Pupillen nach oben oder unten oder sonst wohin gerutscht. »Gebt ihm wenigstens eine Zelle mit Fenster.« »Ist keine mehr frei.« Man merkte den Polizisten an, wie unwillig sie über ihre Einmischung waren. »Dann tauscht halt mit einem, der das Loch besser aushält als er.« »Der hier hat es übers Mittelmeer bis zu uns geschafft. Der hält schon was aus.« »Help me!« »Hey man, your family is waiting for you.« Die Beamten stießen ihn leicht in die Seite. Sophia dagegen dachte, die Familie hat alle Hoffnung für ein besseres Leben auf ihn gesetzt. Er würde nicht willkommen sein. »Please!« »Don’t cry like a baby.« Der andere Polizist grinste. Sein Flehen. Die Augen. Dieses Blitzlichtgewitter von Angst und Panik, das aus dem Mann förmlich in sie hineinströmte, und dazu das Grinsen des Polizisten. »Sie sind ein verdammter Rassist.« Ihr Herz raste. »Und er kriegt eine Zelle mit Fenster.« Ohne ein Wort führte ein Beamter den Mann ab, der keinen Widerstand mehr leistete. Der andere Beamte wandte sich an Sophia. »Das wird ein Nachspiel haben.« »Und ob es das wird«, gab sie zurück und rief dem Mann nach. »Don’t worry, I will help you!« Der Mann drehte sich nicht mehr nach ihr um. Ließ sie mit dem Gefühl zurück, einen Fehler gemacht zu haben. Wenn du in Gefahr bist, spürst du es nicht, es ist nur wie ein Windhauch, der dein Haar streift. *** »Wieser, sofort in mein Büro!« Im Besprechungsraum wurden gerade Rechner installiert, Zugriffsberechtigungen erteilt, Telefonanschlüsse geschaltet, der Kühlschrank gefüllt und die Kaffeemaschine angeschlossen. Die »Sonderkommission Balanstraße«, die unter Sophias Leitung in einem brutalen Doppelmord an einem Rentnerehepaar ermitteln würde, richtete sich ein. Jetzt aber war es still. So scharf war der Ton ihres Chefs August Ertl gewesen. Selbst die Vögel stellten für einen Moment ihren Gesang ein. Ertl drehte sich um, Sophia schraubte sich auf ihren ohnehin acht Zentimeter hohen Absätzen noch etwas höher, damit sie wenigstens die ein Meter siebzig erreichte, die sie als Jugendliche vergeblich angestrebt hatte, und folgte ihrem Vorgesetzten, der sie normalerweise nur mit Sophia ansprach. Benutzte er den Nachnamen, war es ernst. Allerdings war es der falsche Nachname. Sie war keine Wieser mehr. Sie war eine Alvarez. Sie richtete sich noch weiter auf. »Alvarez bitte … A-l-v-a-r-e-z!« Ertl ging nicht darauf ein, entschuldigte sich auch nicht. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, der unter der Aktenlast fast zusammenzubrechen schien, bot Sophia jedoch keinen Platz an. Blieb gefasst. »Wie kommen Sie dazu, dem Kollegen Moser eine rassistische Motivation zu unterstellen? Er tut nur seine Pflicht.« Sophia hielt seinem Blick stand. »Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, diesen offenbar traumatisierten Mann gut zu behandeln.« »Er ist illegal eingereist. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, also muss er zurück. So ist das Gesetz.« »Und deshalb kann man ihn nicht menschenwürdig behandeln?« »Die eine Nacht wird er schon aushalten.« Sophia hatte ihrer Stimme den wohltuend sanften Tonfall geben wollen, mit dem sie selbst die skrupellosesten Straftäter so einwickelte, dass sie unachtsam wurden und schließlich gestanden. Ruhe, sie brauchte Ruhe. Sie brüllte Ertl an: »Falls er diese eine Nacht überlebt!« »Reißen Sie sich zusammen.« Sie versuchte es. »Bitte unternehmen Sie was.« Presste die Zähne so fest zusammen, dass ihr der Kiefer wehtat. »Ich werde den Teufel tun.« »Dann sind Sie nicht viel besser.« Sie brauste wieder auf. »Sie meinen, dann bin ich auch ein Rassist?« Normalerweise neigte Ertl nicht zu Überreaktionen. Normalerweise war er auch nicht cholerisch, sondern war eher ein kühler Kopf. Jetzt aber lief er an. Vom Hals aufwärts zog sich das Dunkelrot über sein Gesicht, den kahlen Schädel, kroch über seinen Nacken hinein in sein blütenweißes Hemd. Die blauen Augen verengten sich unter den buschigen weißen Augenbrauen. Weiß-blau wie Bayern, dachte sie noch, da fuhr Ertl, und das war das Gefährliche, mit großer Ruhe fort: »Ich werde dafür sorgen, dass Sie versetzt werden.« »Sie können mich nicht versetzen. Ich habe eine Aufklärungsquote von fast neunzig Prozent.« »Sie widersetzen sich meinen Weisungen.« »Sie meinen die erkennungsdienstliche Maßnahme letzte Woche, bei der wir im Notfall auch mit Gewalt vorgehen sollten?« »Der Mann war ein Schwerverbrecher, einschlägig vorbestraft. Sie machen, was Sie wollen, ignorieren meine Anrufe, und ich habe Glück, wenn ich in den Genuss Ihres Rückrufs komme.« Sein Ton wurde schärfer. »Mit der Pünktlichkeit nehmen Sie es auch nicht so genau.« »Ich hab zwei halbwüchsige Kinder …« Es war Zeit zu kämpfen. Sie wurde kleinlaut. »Während Ihren ermittelnden Kollegen die Köpfe rauchen, starren Sie aus dem Fenster, springen dann plötzlich auf und sind verschwunden.« »Weil ich einen Gedanken verfolge, der uns weiterbringt.« »Genau, die Betonung liegt auf ›uns‹. Warum weihen Sie dann Ihre Kollegen nicht in Ihre gedanklichen Ergüsse mit ein?« »Hat sich jemand über mich beschwert?« »Hauptkommissarin Wieser.« »Alvarez!« »Also gut, Alvarez.« Fast nachsichtig sah er sie an. »Es gibt keinen Ihrer Kollegen, der sich noch nicht über Sie beschwert hätte.« Stille. Sophia fühlte sich so klein, wie sie tatsächlich war. Ein Meter zweiundsechzig ohne Schuhe. »Wohin wollen Sie mich abschieben?« Noch war sie gefasst. »So weit weg wie möglich.« Er blieb kalt, und er blieb fest. »Und das wäre?« »Was halten Sie vom Bayerischen Wald?« Er kannte ihre...