E-Book, Deutsch, 402 Seiten
Löffler Das Land der Bayern
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-406-82156-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichte und Geschichten von 1800 bis heute
E-Book, Deutsch, 402 Seiten
ISBN: 978-3-406-82156-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bayern: Da denken viele an idyllische Seenlandschaften, an prächtige Schlösser vor Bergpanoramen und an pittoreske Barockkirchen inmitten saftiger Wiesen. In seiner Vermessung der bayerischen Naturräume und Geschichtslandschaften eröffnet der Historiker Bernhard Löffler dagegen neue, ungewöhnliche Zugänge zu einem Bayern jenseits der Klischees. Er nimmt uns mit auf eine Reise vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, von Altötting bis nach Aschaffenburg, von Oberammergau bis zum Obersalzberg, vom Walchensee bis nach Wackersdorf. Durch erhellende Beispiele und kurzweilige Geschichten lässt er 200 Jahre bayerische Geschichte lebendig werden und zeigt, dass manche scheinbar alte Traditionen doch erstaunlich jung sind.
Wohl gibt es in Bayern tatsächlich Berge, Wiesen, Wälder und Seen, Schlösser, Klöster und Kapellen, aber dieses weithin dominante Bild ist sehr selektiv. Oft genug erweisen sich Räume und Landschaften eher als Projektionsflächen für Maler und Literaten, Historiker, Ethnologen und Naturschützer, Urlauber und Enthusiasten der Wander- und Waldvereine. Und sie werden instrumentalisiert von Ideologen, Politikern und Marketingexperten, vermessen, organisiert und in Dienst gestellt von Bürokraten, Kartographen, Statistikern und Verkehrsplanern. Bernhard Löffler erhellt in dieser erfrischenden Darstellung die Hintergründe «staatsbayerischer» Geschichte, erzählt von Landschaften, Regionen, vom bayerischen Eigensinn in der Welt – von deren Entstehung, Prägung und anhaltender Wirkungsmacht.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung:
Land, Landschaft, Räume – oder:
Die Ungerechtigkeit der Welt beginnt mit der Verteilung der Berge
Jeder kennt Neuschwanstein. Die Ansicht des königlichen Märchenschlosses vor alpiner Landschaft mit Wald, Bergen und See ist eine bavaristische Ikone, millionenfach photographiert, auf unzähligen Souvenirs zu finden, ein globaler Werbeträger Bayerns, eine Art «Weltidyll». Eine ganz ähnliche ikonische Wirkung entfaltet das Bild der Ramsauer Kirche St. Sebastian bei Berchtesgaden mit rauschendem Flüsschen und der mächtigen Reiteralpe im Hintergrund. Auch das ist in allen Abreißkalendern zu finden und wurde 1960 unter dem Titel «Church in Bavaria» sogar von einem leibhaftigen US-Präsidenten, Dwight D. Eisenhower, aquarelliert, als Weihnachtsgeschenk für die Mitarbeiter im Weißen Haus reproduziert und in der Soldatenzeitschrift «Stars and Stripes» abgedruckt. Die Motive unterscheiden sich allerdings in einem Punkt. Um das zu erkennen, muss man die Urteile des Europäischen Gerichtshofs konsultieren. Dort hat sich der Freistaat Bayern nämlich bestätigen lassen, dass Neuschwanstein kein Ort ist, sondern vor allem eine Kopfgeburt. Das Verfahren zog sich seit 2005 durch mehrere Instanzen, zunächst auf deutscher, dann auf europäischer Ebene. Ziel des Freistaats war es, das Schloss als Bild-Marke eintragen zu lassen, um für ein entsprechendes Warensortiment von der Edelmetallgabel bis zum Strumpfhalter exklusiv Lizenzgebühren erheben zu können. Dagegen hatte der «Bundesverband Souvenir Geschenke Ehrenpreise» geklagt und noch 2011 vor dem Bundesgerichtshof Recht bekommen: Neuschwanstein sei zuallererst eine konkret lokalisierbare Attraktion. Der EuGH kassierte dieses Urteil 2018. Für die europäischen Richter liegt Neuschwanstein zwar an einem «geografischen Ort», aber es ist keiner. Es könne «nicht als geografischer Ort angesehen werden». Neuschwanstein sei vielmehr eine Marke, weil das Wortzeichen so bekannt sei, dass es vom Verbraucher sofort als Produkt erkannt werde. Die Ansicht des Ramsauer Kirchleins hingegen wurde nicht als Wort-Bild-Marke eingetragen; sie ist Allgemeingut und vor allem ein physischer Ort. Dafür ziert sie den Wikipedia-Artikel «Bayern».[1] Die Beispiele zeigen, dass sich Raum, Ort oder Landschaft keineswegs in ihren topographischen Realitäten erschöpfen. Um diese Vielschichtigkeit geht es in diesem Buch. Es nähert sich der bayerischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im Spiegel der räumlichen Zusammenhänge an und möchte daran strukturelle Entwicklungsstränge erfassen. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach der Erfassung, Gliederung und Ordnung wie nach den Wahrnehmungen, Wirkungen und Verflechtungen des Raumes. Was ist gemeint oder kann gemeint sein, wenn von Bayern die Rede ist? Wie und mit welchen Medien werden Raum, Landschaft, Region in Bayern vermessen, eingeteilt, kartographiert, visualisiert, verstanden und erzählt? Nach welchen Kriterien und Deutungsmustern, mit welchen Strategien und Instrumenten, Semantiken und Bildrepertoires geschieht das? Von welchen politischen, ökonomischen, technischen, kulturellen, sozialen Rahmenbedingungen und Perspektiven hängt es ab? Von welchen Akteuren, Agenten und Agenturen werden Räume mit ihren Zentren und Peripherien, Grenzen und Differenzen, Nachbarschaften und Überlappungen gegliedert, wie die diversen Raumbilder produziert, verteilt, instrumentalisiert? Wie wird aus einem Ort eine Marke, aus einer Region eine Geschichtslandschaft, aus einer lokalen Zugehörigkeit eine «raumbezogene Identität», aus einer Raumvorstellung ein Faktor politischer Loyalität? Wann und wo sind Natur und Landschaft physische Materialitäten, wann und wie werden sie zu metaphysischen Images, Ikonen und Identifikationsgrößen? Wie ist das Verhältnis zwischen einerseits den Wirkungen und Prägungen des natürlichen Raumes auf die Menschen und andererseits den Zuschreibungen und Veränderungen des natürlichen Raumes durch die Menschen? Wie verlaufen die Wechselwirkungen zwischen Topographie/Geographie und ideellen «Gedächtnislandschaften»/«mental maps», «sozialer Geographie», «Metageographie», «imaginativer Geographie»? Welche Stereotype, Ästhetisierungen, «kulturellen Spannungen, Phobien, Idiosynkrasien, Überlegenheits- oder Minderwertigkeitskomplexe» werden mit Begriffen und Kategorien wie «Landschaft», «Umwelt», «Natur», «Region» oder «Heimat» verhandelt?[2] Das moderne, um 1800 entstandene Staatsbayern als Bezugsrahmen und Untersuchungsgegenstand eignet sich für dergleichen Fragen in beinahe exemplarischer Weise. Es war eine staatliche Neubildung, entstanden in einer Phase territorialer Revolution, gekennzeichnet durch viele interne Brüche und unterschiedliches historisches Herkommen, mit einigem regionalistischen Eigensinn und mehreren binnenräumlichen Loyalitätsoptionen. Zugleich zeigte es, zumal im innerdeutschen Vergleich, eine erstaunliche territoriale Konstanz. Es bot räumliche Referenzmuster, das «Eigene» zu definieren, vom «Fremden» abzuheben und bayerische Eigenständigkeit zu markieren, und war doch stets größeren politisch-räumlichen Einheiten (Nation, Reich, Europa) zu- und untergeordnet, in übergreifende wirtschaftliche, politische oder kulturelle Beziehungen integriert, unter Umständen sogar Teil weltumspannender Verflechtungen und Transfers. Nicht zuletzt wurden und werden Selbst- wie Fremdbild Bayerns entscheidend von naturräumlichen Bezügen und Wahrnehmungsmustern geprägt. Wie wenige andere Regionen erscheint das Land der Bayern verwoben mit einem ganz bestimmten Bild von Landschaft, das uns bereits in den Ikonen Neuschwanstein und Ramsau begegnet ist: Es ist ländlich und bergig und luftig-blau, niemals urban und flach und stickig-grau. Hohe Berge, blaue Seen, grüne Wiesen und sanfte Fluren, dazwischen manche Schlösser und Kapellen, so sieht das etablierte Image eines «der Herrgottswinkel unserer deutschen Heimat schlechthin» aus.[3] Wohl gibt es die Berge, Seen und Wiesen in der materiellen Realität. Aber es ist offensichtlich, dass es sich dabei um ein sehr selektives Klischee handelt, um bewusste Konstruktionen, Ausschnitte und Versatzstücke von «realen» Landschaften. Diese Selektionen und Projektionen prägen jedoch weithin das Gesamtbild und schaffen sich so ihre eigene Realität: Kaum jemand assoziiert mit Bayern das Land in seiner geographischen, topographischen oder politischen Differenziertheit. Niemand denkt in erster Linie an Schweinfurt und Fürth, an Wunsiedel oder die Rhön, an Ludwigshafen oder die Pfalz und auch nicht unbedingt an Nürnberg, seine Kaiserburg und Butzenscheiben. Das wird anderen Gedächtnislandschaften zugeschlagen: der städtisch geprägten Industriegesellschaft mit ihren rauchenden Schloten, ihren Chancen und Problemen (von der sich die Entwicklung Bayerns so signifikant zu unterscheiden scheint und auch unterscheiden will[4]) oder den Traditionen des Alten Reiches (die Bayern eher zwangsweise integriert hat), der deutschen Kaiser- und nicht der bayerischen Königsherrlichkeit. Selbst die einzige Metropole, München, wird gekapert vom Klischee, wenn Wilhelm Hausenstein schreibt, die hochhauslose Stadt ziehe «die ethnographischen Eigentümlichkeiten des Oberlandes» in sich hinein, oder Lion Feuchtwanger sarkastisch kommentiert, die Stadt der «bayerischen Hochebene» besitze einen «dörflichen», «stark bäuerlichen Einschlag». Noch bei der heutigen Hauptstadt sprechen manche vom «Millionendorf» mit «quasi-ländlicher Biergartenidylle», wird ihre Attraktivität vornehmlich auf ihre Biere, Bierfeste und Biertempel bezogen. Die «‹mental-map› des Freistaats» kommt weitgehend «ohne die Assoziation des Urbanen» aus.[5] Auf dem ökonomischen Feld werden die Zusammenhänge noch handfester. So sind die Berge etwa im Tourismus ein Standortfaktor ersten Ranges, der sich in Euro und Cent auszahlt. Schon 1953 wusste das die Landesplanungsstelle und postulierte, «Bayern lebt in einem gewissen Umfang von seiner Landschaft». Aktuelle Statistiken bestätigen, dass sich die Position Bayerns als deutsches Urlaubsland Nummer eins – neben und zusammen mit München und dem Oktoberfest – vor allem den Landschaften der Alpen- und Voralpengebiete verdankt. Der Kabarettist Helmut Qualtinger brachte das einmal lakonisch auf den Punkt, die Ungerechtigkeit der Welt beginne bereits mit der ungleichen Höhe und Verteilung ...