Machfus | Spiegelbilder | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Machfus Spiegelbilder

Mit 49 Illustrationen von Saif Wanli
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-30587-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mit 49 Illustrationen von Saif Wanli

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-293-30587-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In diesem Werk geht Machfus einen ganz neuen Weg, das Beziehungsgeflecht seines Lebens und seiner Epoche aufzuzeichnen. Er erzählt von Begegnungen aus der Kindheit, den Studententagen und aus seiner Karriere als Beamter, von Freunden und Feinden. Er führt uns von den Salons der Intellektuellen zu den Bordellen und Nachtclubs und zu den Gassen seiner Kindheit. Vierundfünfzig funkelnde, scharfsinnige, heitere, melancholische Menschenbilder fügen sich zu einem Kaleidoskop mit immer wieder neuen Mustern.

Der bekannte, mit Machfus befreundete ägyptische Maler Saif Wanli hat zu jedem der Porträts ein ebenso treffendes Bild geschaffen.

Machfus Spiegelbilder jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Achmed Kadri
Mit diesem Namen verbinden sich für mich nicht nur leckerer Honig, fettiges Blätterteiggebäck und Kino, sondern auch ein besonderer Vorfall. Achmed Kadri war ein Verwandter von mir, ein Einzelkind, und lebte auf dem Land. Gelegentlich kam er zu Festtagen nach Kairo. Ich war damals neun oder zehn Jahre, er war fünf Jahre älter. Wir verbrachten eine schöne Zeit, spielten in den ruhigen Straßen von Abbasija, die von Gärten und Feldern gesäumt waren. Er war ein Teufel in des Wortes vollster Bedeutung. Einmal wollte er einen Ausflug machen, und um die Unschuld seines Vorhabens zu demonstrieren, bat er meinen Vater, dass ich ihn begleiten dürfe. Ich zog den Anzug mit den kurzen Hosen an, und dann marschierten wir zur Straßenbahnhaltestelle. Unterwegs sagte Achmed: »Ich kauf dir Kekse, aber nur unter einer Bedingung.« Als ich ihn fragte, was er dafür verlange, erklärte er: »Dass du dir einen bestimmten Satz, den ich dir gleich sage, genau merkst. Nämlich dass wir ins Kino Olympia gegangen sind und einen Charlie-Chaplin-Film gesehen haben.« Ich gab ihm mein Versprechen und bekam die Kekse. Wir stiegen in einer Straße aus, die ich nie zuvor gesehen hatte. Er bog in eine Gasse ein, dann in die nächste, und staunend tauchte ich in diese für mich völlig neue und aufregende Welt ein. Schließlich zog er mich in den Eingang eines sehr merkwürdig aussehenden Hauses. Im Vestibül saßen drei Frauen, deren Anblick mich benommen machte. Sie hatten ihre Gesichter angemalt, und es störte sie nicht im Geringsten, dass ihre Kleider den Körper oberhalb der Knie und unterhalb des Halses nicht ganz bedeckten. Eine der Frauen stand auf, und genau auf deren Platz setzte er mich hin. »Du rührst dich nicht vom Fleck und wartest, bis ich wiederkomme.« Bevor er mit der Frau wegging, bat er die beiden anderen, auf mich aufzupassen. Ich starrte angestrengt auf die Bodenfliesen, um ja nicht zufällig auf eine der beiden Frauen zu schauen. Insgeheim ließ mich das Gefühl nicht los, dass ganz in meiner Nähe ein schreckliches Verbrechen verübt wurde. Die eine Frau fing zu singen an: »Der Tag, an dem das Unglück mich traf …« Plötzlich beugte sich die andere Frau zu mir herunter und fragte: »Hast du vielleicht zufällig einen halben Rijal?« Ich schüttelte den Kopf. »Wie viel Geld hast du?« »Einen Shilling«, erklärte ich höflich, aber verängstigt. »Prima. Möchtest du gern etwas Hübsches sehen, das du noch nie gesehen hast?« »Ich darf doch nicht weggehen, hat er gesagt.« »Wir gehen nur ganz kurz in das Zimmer gleich gegenüber.« »Nein!« »Musst keine Angst haben, es ist nichts Schlimmes.« Sie packte meine Hand, zog mich in das Zimmer, und kaum hatte sie die Tür abgeschlossen, sagte sie: »Gib mir den Shilling.« Ohne langes Zögern gab ich ihn ihr. Sie sah mich zärtlich an. »Zieh deinen Anzug aus.« »Nein!«, rief ich entsetzt. Plötzlich fing sie an, sich auszuziehen, und auf einmal stand sie nackt da. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich eine nackte Frau. Die unbekümmerte, freche Art, mit der sie dastand, dazu noch diese eigenartigen Blicke, versetzten mich in panischen Schrecken. Zitternd wich ich zurück, öffnete die Tür und rannte aus dem Zimmer. Das weiche, glucksende Lachen der Frau verfolgte mich wie eine Schlange, und die andere Frau empfing mich mit schallendem Gelächter. Sie zeigte auf den Stuhl, aber ich blieb stehen. Weder wollte ich etwas berühren, noch von irgendetwas berührt werden. Die Männer, die draußen vor der Tür herumlungerten, sahen mich verblüfft an, und gleich darauf rissen sie schmutzige Witze. Ich litt still vor mich hin, erlebte grässliche Qualen, bis endlich Achmed kam. »Wieso stehst du da wie ein Wachposten herum?«, fragte er. Ich klammerte mich wie ein Ertrinkender an seinen Arm, als er mit mir hinausging. Der Rückweg war längst nicht so einfach wie der Hinweg, weil wir nämlich in eine riesige Demonstration gerieten. Achmed wich in die verschiedensten Seitenstraßen aus, trotzdem konnten wir das Krachen von Schüssen hören. Als wir endlich in der Straßenbahn saßen, fragte er mich mit strengem Blick: »Na los, du Held, wo sind wir also gewesen?« »Im Kino Olympia«, erwiderte ich mit trockener Kehle. »Und was haben wir gesehen?« »Charlie Chaplin.« »Großartig. Und warum machst du dann so ’n Gesicht?« »Mach ich nicht.« »Haben die beiden Frauen dich geärgert?« »Aber nein, überhaupt nicht.« Er sah mich beunruhigt an. »Was ist los mit dir?« Mir wurde so traurig zumute, dass ich fast losgeweint hätte. »Du hast doch was, also los, erzähls mir.« »Das geht nur mich was an, weil nämlich Dora nicht so schön ist, wie ich mir vorgestellt habe.« »Dora? Was für eine Dora?« »Na, die Freundin von Dan!« »Was für ein Dan?« »Na, der Held in den Abenteuergeschichten. Liest du denn nicht das Magazin für Jungen?« »Magazin für Jungen? Was faselst du da herum? Hör zu, eh du dich nicht wieder im Griff hast und aussiehst wie immer, gehen wir nicht nach Hause.« Er wusste nicht, mit welcher Leidenschaft ich Dora liebte; er konnte nicht ahnen, dass ich mir ihren Körper rein wie einen Diamanten vorgestellt hatte. Abgesehen von dieser Geschichte verlebte ich mit ihm, wenn er in Kairo war, meine glücklichste Zeit. Er brachte mir Fußball, Boxen und Gewichtheben bei und brachte mich mit seinen komischen Geschichten zum Lachen. Zum Beispiel machte er Chaplin nach, oder er sang berühmte Moritaten, oder er führte mir vor, wie gewichtig der Dorfvorsteher und der Chef der Wächter bei ihm zu Hause herumstolzierten. Dann zogen Achmeds Eltern nach Kairo um und ließen sich im Stadtteil Abdin nieder. Trotzdem bekam ich ihn nur selten zu sehen. Weil er in der Oberschule Schwierigkeiten hatte, wechselte er zur Polizeischule. Nach dem Abschluss erhielt er dank seiner guten Leistungen einen Posten in Kairo. Von da an hatte er mit sich und seinem neuen Leben zu tun, und deshalb besuchte er uns auch nicht mehr. Wir waren uns fremd geworden. Einmal wollte es der Zufall, dass ich sah, wie er, wahrscheinlich nach einem zärtlichen Stelldichein, aus Isam Beys Villa geschlichen kam. Nach dem Tod seiner Eltern geriet er für mich fast ganz in Vergessenheit, was sich erst während und nach dem Zweiten Weltkrieg ändern sollte. Er war nämlich für den Dienst in der Politischen Polizei auserwählt worden und machte von sich reden. Das war nicht mehr der Achmed Kadri, den ich kannte, sondern ein gefürchteter Mann, über den die schrecklichsten Gerüchte im Umlauf waren. Er schwang für die Tyrannen die Folterpeitsche, drosch auf Nation und Nationalisten ein. Staunend hörte ich, mit wie viel Furcht man von ihm sprach. Wie konnte es sein, dass aus dem pfiffigen Witzbold ein teuflischer Folterer geworden war? Wie konnte er an jungen Patrioten solch grausame Exempel statuieren, sie auspeitschen, brennende Zigaretten auf ihren Augenlidern ausdrücken, die Fingernägel herausziehen? Es kam des Öfteren vor, dass im Kreis meiner Freunde laut, also gut hörbar für mich, über ihn diskutiert wurde. Sie waren Intellektuelle und Patrioten, so wie Rida Hamada und Salim Gabr. Wenn es schon keine Revolution gäbe, hieß es, müssten wenigstens geheime Organisationen geschaffen werden, die mit der Ermordung solcher Schlächter das wehrlose Volk beschützten. Tatsächlich wurde auf Achmed Kadri ein Attentat verübt, und zwar genau vor dem Eingang zum Mohammed-Ali-Klub. Aber wie durch ein Wunder überlebte er und entkam den Händen der flüchtigen »Verbrecher«. Nach der Juli-Revolution wurde ein Untersuchungsverfahren gegen ihn eingeleitet, dem er aber durch die vorzeitige Pensionierung entging. Ich dachte nicht mehr an ihn, und ich hätte nie geglaubt, dass ich ihn je wieder sehen würde. Aber im Herbst 1967 erreichte mich ein Anruf, dass ich ins Anglo-Amerikanische Krankenhaus kommen solle. Da lag er, still und friedlich, nachdem er einen Herzanfall erlitten hatte. Er hatte die sechzig überschritten, und wenn ich ihn auf den ersten Blick auch nicht erkannte, erinnerte mich doch sein Gesicht mehr und mehr an seinen Vater in seinen letzten Tagen. »Tut mir leid, wenn ich dir Unannehmlichkeiten mache«, sagte er leise, »aber außer dir habe ich niemanden mehr.« Fast schon flüsternd fügte er hinzu: »Du sollst mich beerdigen, wenn es vorbei ist.« Ich sprach ihm Mut zu, dann suchte ich den behandelnden Arzt auf. Herr Kadri habe das Schlimmste überstanden, der Zustand sei nicht mehr gefährlich. Ob er genese oder nicht, hänge jetzt ganz allein von ihm ab. Ich ging zu ihm zurück und überbrachte ihm die gute Nachricht. »Es ist nicht nur das Herz, ich habe noch andere Krankheiten«, entgegnete er barsch. Mir fielen auf Anhieb Alkohol, Frauen und das Glücksspiel ein, also sagte ich, dass er jede Aufregung vermeiden müsse, um keinen zweiten Herzanfall zu bekommen. Er verzog verächtlich den Mund. »Der kommt eh.« Ich starrte ihn an, forschte in seinem...


Kilias, Doris
Doris Kilias, geboren 1942 inmitten der Masurischen Seenplatte, also im heutigen Polen, arbeitete als Redakteurin beim arabischen Programm des Rundfunks Berlin (DDR). Nach der Promotion war sie als freie Übersetzerin tätig. Sie starb 2008 in Berlin.

Machfus, Nagib
Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.