Mazzieri | Grabrede auf einen Idioten | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 210 mm

Reihe: diaphanes Broschur

Mazzieri Grabrede auf einen Idioten


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03734-554-2
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 210 mm

Reihe: diaphanes Broschur

ISBN: 978-3-03734-554-2
Verlag: diaphanes
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Dorf in Kanada. Der Depp muss weg - so hat es der Bürgermeister entschieden. Er und sein Stellvertreter bringen ihn eines Morgens hinaus auf die Felder und werfen ihn in einen Brunnenschacht. Von dessen Grund aus der Dorfdepp einige Tage lang schreit, bis er schließlich verstummt.
Soweit der so lakonische wie ungeheuerliche Start eines Romans, der einfach ein böser Krimi sein könnte. Doch andere Spuren, andere Figuren (und andere Tote) wachsen nachträglich aus dem Boden, legen sich der Story in den Weg und kommen der bräsigen Dorfmentalität zupass. Denn das Dorf ohne Depp ist in tiefe Unordnung geraten. Zum Glück für den Bürgermeister aber heißt es: Schuld haben immer die anderen - und sicher kann sich vor allem der nicht fühlen, der hier neu, anders und allein ist und deshalb gar nicht anders kann, als einen Fehler nach dem anderen zu machen. Und dies auch tut. Aus dem Neuankömmling, dem Landarbeiter Paul Barabé, wird so der eigentliche »Idiot« der Geschichte...



Julie Mazzieri geboren 1975 in Quebec, lebt in Korsika. Sie arbeitet als literarische Übersetzerin. »Grabrede auf einen Idioten« ist ihr erster Roman. Julie Mazzieri wurde dafür mit dem Prix Littéraire - Romans et nouvelles - du Gouverneur général de 2009 ausgezeichnet.
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II

Nein, der Pfarrer hatte nicht geschlafen. Er war in jener Nacht nicht der einzige gewesen, der ruhelos durchs Haus streifte. Mehrere Dorfbewohner hatten sich, die Körper völlig steif, in ihre viel zu dünnen Bettdecken gehüllt und fürs Einschlafen den Morgen abgewartet, mit den Nerven völlig am Ende. Ihre Schlaflosigkeit konnte jedoch nichts für sie tun und auch jahrelanges Wachliegen hätte daran nichts geändert. Tief in seinen Sessel gesunken, war der Pfarrer nicht imstande gewesen, auch nur eine einzige Zeile zu lesen, und hatte sich schließlich damit abgefunden, die Lampe auszuschalten. Er hatte daraufhin in der falschen Stille seines Pfarrhauses beten wollen, aber kaum genug Kraft dazu gehabt, und es dann auch noch sehr schlecht getan, was seinem Gebet den Ton eines Gesprächs zwischen einem Spieler, der verliert, und seinem Gläubiger gab. Der Pfarrer hatte sich beherrscht, um nicht sofort zur Kirche zu rennen. Was für eine lächerliche, törichte Idee. Mitten in der Nacht die Glocken zu läuten. Doch einen Moment lang schien es ihm, die Glocken hätten den Himmel versöhnen können. Und er hatte gewartet. Gegen sechs hatte ihm das graue Licht der Morgendämmerung unter einer dünnen Schicht Raureif seine Gemeinde zurückgegeben.

Von seinem Fenster aus drang sein Blick sehr weit ins Land; so weit, dass die Bauernhöfe und ihre Silos, im ansteigenden Tal, beidseits der vereinzelten Straßen, aussahen wie kleine Knoten, kleine Maschen, die jemand zum Vergnügen in die Landschaft gezogen hatte. Mit dem Ende der Nacht hatte der Pfarrer darauf gehofft, das vertraute Gesicht seines Dorfes wiederzufinden, das ruhige und tröstliche Gesicht eines Kindes, dessen Fieber gesunken ist. Er wollte sich davon überzeugen, dass er sich umsonst Sorgen gemacht hatte, und zu seiner Haushälterin hinuntergehen, die zur gewohnten Stunde aufgestanden war, noch ein wenig über das schwere Unwetter des Vortages reden, seinen Kaffee trinken. Doch nicht das Antlitz seiner Gemeinde war ihm im ersten Licht des Morgens vor Augen getreten, sondern ein gebeugter Rücken, eine lange Eissäule. Was er da durchs Fenster sah, machte dem Pfarrer Angst. Hinter den bereiften Äckern und Wäldern hatte das Dorf nicht mehr den Mut, sich zu erheben. Der Pfarrer hatte den Küster angerufen und forderte ihn auf, die Glocken läuten zu gehen. Er hatte sich keine Gedanken um die Uhrzeit gemacht und sprach ihn an, als sei er ihm böse. Der Küster begab sich mit raschem, kaum beherrschbarem Schritt zur Kirche. Er hatte das Seil sehr weit oben in die Hand genommen und sich hin und her geschwungen. In seinen Sessel eingesunken, betrachtete der Pfarrer die Schindeldächer, die Ziegelmauern. Wenn er doch wenigstens sehen könnte, was dahinter passierte. Er hatte sich durchsichtige Häuschen vorgestellt, aus so klarem Kristall, dass die Schwalben krachend dagegenfliegen würden.

*

Draußen vor der Tür waren die Stiefel langsam gefroren. Sie warteten klamm auf dem vom Matsch hart gewordenen Teppich. Jemand war mitten in der Nacht aufgestanden und das Haus hatte geknarrt. Er hatte das Toilettenlicht angeschaltet und die Tür nicht ganz zugemacht. Im Gang hörte man den Atem der Schlafenden. Er hatte eine ganze Weile lang gepisst und, bevor er wieder in sein Zimmer ging, ein paar Reisigbündel im Ofen nachgelegt. In jener Nacht war der Winter zurückgekehrt. Er hatte die langsam gefrierenden Stiefel hereingeholt und ans Feuer gestellt. Das alles war nicht seine Aufgabe gewesen. Es waren nur noch zwei Stunden bis zur Morgendämmerung. Unter seiner eisigen Bettdecke hatte er nicht wieder einschlafen können.

Paul Barabé war kaum mehr als einen Monat vor dem Sturm nach Chester gekommen. Er hatte die Anzeige in einem Lebensmittelladen in der Stadt gesehen. In dicker und krakeliger Schrift bat sie um einen Landarbeiter, bei Kost und Logis, mit Lohn. Er hatte sich gesagt, das sei genau das, was er brauche: Bargeld, keine Ausgaben und etwas frische Luft. „Nicht für lange“, hatte er sich gesagt, „nur bis ich wieder klarkomm“. Ein paar Tage darauf war Paul Barabé bei den Fouquets erschienen. Das war Anfang April gewesen.

Er kam mit einem Auto, gefahren von einem Mann in seinem Alter, als einziges Gepäck eine Stofftasche, die er nicht ganz zugebracht hatte. Der Fahrer war nicht erst ausgestiegen. Sie hatten ein paar Worte gewechselt – alles Gute, lass von dir hören –, dann war das Auto den Weg im Rückwärtsgang zurückgefahren, eskortiert von einem bellenden Hund auf jeder Seite. Der junge Mann hatte seine Stofftasche auf den Boden gestellt und an die Tür geklopft. Keiner wusste, wer aufmachen sollte. Schließlich war die Mutter aufgestanden. Sie hatte seine Tasche genommen und stellte sie in der Diele ab. Und dann stand Paul Barabé da. Vor ihnen. Die Hände in den Taschen seiner Lederjacke. Durch den Rauch seiner Zigarette hatte der Vater ihn gemustert, wie ein Stück Vieh auf dem Markt. Ein Kalb. Ein großes Kalb in Stadtkleidern. In einer Ecke des Esszimmers hatten die Kinder ihr Spiel unterbrochen, um den neuen Arbeiter besser betrachten zu können. Es war das erste Mal, dass einer bei ihnen wohnen sollte. Sehr groß war er nicht, eher dünn. Nicht hässlich, nein, nur … na ja … in seinem Gesicht war etwas Unangenehmes, Unverschämtes. Man musste genau hinsehen, es war direkt über dem Mund: ein längliches Stück weiße Haut, das bis ins Nasenloch hochstieg und die Oberlippe, wie einen Vorhang, leicht nach oben zog. Obwohl unauffällig korrigiert, hatte ihm die Hasenscharte ein leicht schiefes Gesicht hinterlassen – „nicht ganz geheuer“ durch dieses spöttische Lächeln immerzu, das er ungewollt zur Schau trug. Selbst die Kleinsten hatten die Gedanken des Vaters erraten. Dass das nicht ginge. Man hätte den Fahrer zurückrufen müssen, schneller rennen als die Hunde und ihn einholen, bevor er auf die geteerte Straße gekommen war. Sagen, das sei ein Irrtum. Alles wieder ins Auto verfrachten und sie langsam davonfahren sehen. Doch sowas macht man ja nie, selbst wenn man weiß, nichts zu machen, man macht gerade einen Fehler.

Paul Barabé hatte das Zimmer ganz hinten bekommen: weiß, getäfelt, mit einem einfachen Bett, einem Nachtschränkchen, einer Kommode und einem Stuhl. Am Vortag hatte die Mutter die Bettwäsche gewechselt und die Schubladen leer geräumt. Der junge Mann hatte sich aufs Bett gesetzt und einmal um sich geblickt. Nach und nach hatte sich sein Magen zusammengekrampft und er musste die Augen schließen, um die Aufregung zu mildern, die ihn gepackt hatte und sich nun schleichend ausbreitete, im Rhythmus kleiner Muskelbewegungen die Speiseröhre hinunterrutschte wie ein kleines, von der Angelschnur abgerissenes Stück Blei, wie eine vergessene, gestörte Sonde, die man nicht wieder ausspucken kann. Es kam ihm lächerlich vor, dass ihm so elend war, und er hatte bei sich über seine Torheit gelacht. Der Krampf löste sich nicht. Unten erwartete man ihn. Er hatte die Schubladen der Kommode aufgemacht, aber ihm fehlte der Mut, seine Sachen einzuräumen. Er legte sich aufs Bett und wartete. Beim Ausdrücken seiner Zigarette hatte der Vater gefragt, was in der Tasche sei. Seine Kleidung, hatte er geantwortet. Der Vater hatte die Tasche nicht aus den Augen gelassen, um ihn, den Neuen, nicht anblicken zu müssen. Und hatte dann in einem Anflug von Ungeduld gefragt, wo Romain sei. Die Mutter durchquerte daraufhin die Küche, verschwand in einer Art Gang und kehrte einige Sekunden später in Begleitung eines großen, Jungen mit pausbäckigem Gesicht zurück. Auch ihn hatte der Vater nicht angeblickt, sondern nur aufgefordert, dem Arbeiter sein Zimmer zu zeigen und ihm Arbeitskleidung zu leihen.

Von seinem Bett aus hatte Paul Barabé gehört, wie sich die Schritte des Jungen der Tür näherten, und es hatte ihn überrascht, dass sie sich auf der Treppe gleich wieder entfernten, ohne dass geklopft worden wäre. Die Kleider, aufgeteilt auf zwei ordentliche Stapel – der eine mit Hemden und der andere mit Hosen –, waren an der Wand abgelegt worden. Während er sich sagte, dass der Älteste extrem zurückhaltend sein musste, war Paul Barabé in seine neuen Kleider geschlüpft, dann zum Fenster gegangen, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen. In der Ferne machte er im ansteigenden Tal die Straße aus, die zum Dorf führte. „Zu Fuß drei Stunden“, hatte er gedacht. Vielleicht auch nur zwei, das war schwer zu sagen.

*

Als sie in den Stall kamen, hatte Romain bemerkt, dass er sein Taschenmesser im Haus liegen gelassen hatte. Er musste es beim Schuhanziehen auf den Boden gelegt und dort vergessen haben. Er hätte ein anderes nehmen können, aber er wollte sein eigenes. Die Klinge war sehr scharf und das Heft genau lang genug. Der Junge hatte es sich zur üblen Gewohnheit gemacht, alles kaputtzumachen, zu ramponieren, in Stücke zu reißen. Er machte auf, was ihm in die Hände fiel, und schaute hinein. Das war kein Spiel mehr für diesen großen Jungen. Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe zu verbergen, was er aufschlitzte, und überall verstreut fand man die Reste, die er hinterließ.

Der Weg zwischen dem Stall und dem Haus war nicht sehr lang und oftmals rannte man ihn hin und zurück, kaum außer Atem. Romain hatte keine Lust zu rennen. Der Kies unter seinen Füßen war gefroren und bei dem Gedanken, den Weg, den er gerade mit den anderen genommen hatte, nun noch einmal allein zu gehen, hatte er eine plötzliche Freude gespürt. Saukalt ist das, hatte er gedacht. Wenn jetzt ein Wolf auftauchte, gerade da hinterm Haus, und er ohne sein Messer auskommen müsste. Die Luft war schneidend kalt und die Sonne ließ auf sich warten. Das war schon irgendwie eigenartig.

Das Messer war weder in der Diele noch in den...


Julie Mazzieri geboren 1975 in Quebec, lebt in Korsika. Sie arbeitet als literarische Übersetzerin. 'Grabrede auf einen Idioten' ist ihr erster Roman. Julie Mazzieri wurde dafür mit dem Prix Littéraire – Romans et nouvelles – du Gouverneur général de 2009 ausgezeichnet.



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