E-Book, Deutsch, 1400 Seiten
Mitchell / Nohl Vom Wind verweht
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95614-340-3
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 1400 Seiten
ISBN: 978-3-95614-340-3
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Wind verweht ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur, eine abenteuerliche Liebesgeschichte, vor allem aber das große Epos des amerikanischen Bürgerkriegs, ein Pendant zu Krieg und Frieden, das Andreas Nohl und Liat Himmelheber zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übertragen haben.
Jeder kennt die tragische Liebesgeschichte von Scarlett O'Hara und Rhett Butler, wenn auch oft nur aus dem Film, in der Gestalt von Vivien Leigh und Clark Gable. Der Film gilt als einer der erfolgreichsten der Filmgeschichte, aber auch das Buch, das 1936 erschien, war umgehend ein Bestseller und wurde schon 1937 ins Deutsche übersetzt: Keine Geschichte hat unser Bild von den Südsaaten, dem amerikanischen Bürgerkrieg und der Zeit der
Reconstruction so sehr geprägt wie Margaret Mitchells Gone With the Wind.
Vom Wind verweht, die erste Neuübersetzung seit 1937 – zugleich die erste ungekürzte Übersetzung in deutscher Sprache –, folgt dem schnörkellosen, journalistischen Stil von Margaret Mitchell und lässt uns so fast einen anderen Roman lesen. Natürlich ist es immer noch das große Epos des amerikanischen Bürgerkriegs, die tragische Liebesgeschichte und die Geschichte einer jungen Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Doch die Neuübersetzung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber vermeidet den romantisierenden Stil, die rassistischen Stereotypen und den teils kitschigen Ton der Übersetzung von 1937 und zeigt uns einen Roman, der moderner und ambivalenter ist als das verklärte Bild, das wir bisher hatten.
Diese Neuübersetzung ist nicht nur ein viel größerer Lesegenuss, sie gibt uns auch – endlich – die Möglichkeit, Vom Wind verweht richtig zu lesen: als den epischen amerikanischen Roman, der Konflikte und Brüche beschreibt, die die USA bis heute prägen.
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KAPITEL 1
Scarlett O’Hara war keine wirkliche Schönheit, auch wenn dies den Männern, die ihrem Charme erlagen – wie jetzt die Tarleton-Zwillinge –, selten auffiel. Zu wenig harmonierten in ihrem Gesicht die feinen Züge ihrer Mutter, einer Ostküsten-Aristokratin französischer Abstammung, mit den derben ihres rotgesichtigen irischen Vaters. Aber es war ein faszinierendes Gesicht, mit spitz zulaufendem Kinn und kräftigem Unterkiefer. Ihre leicht schrägstehenden, blassgrünen Augen hatten nicht die geringsten braunen Einsprengsel und waren von einem Kranz kräftiger schwarzer Wimpern umgeben. Die dichten schwarzen Brauen darüber schnitten verblüffend geschwungene Linien in ihre magnolienweiße Haut – diese Haut, die von den Südstaatenfrauen so geschätzt und so sorgsam mit Häubchen, Schleiern und Handschuhen vor der heißen Sonne Georgias geschützt wurde. Wie sie dort an jenem klaren Aprilnachmittag des Jahres 1861 mit Stuart und Brent Tarleton im kühlen Schatten der Veranda von Tara, der Plantage ihres Vaters, saß, gab sie ein reizendes Bild ab. Ihr neues, grünes Musselinkleid bauschte sich mit seinen zehn Metern geblümten Stoffs über ihre Krinoline und passte genau zu den flachen Maroquin-Schuhen, die ihr Vater kürzlich aus Atlanta mitgebracht hatte. In dem Kleid kam eine Taille von siebzehn Zoll, die in drei Countys ihresgleichen suchte, perfekt zur Geltung, und das eng geschnürte Mieder betonte ihre wohlgeformten Brüste, die für ihre sechzehn Jahre schon sehr entwickelt waren. Doch bei aller Sittsamkeit der ausgestellten Röcke, der Strenge des in einem Haarnetz eingefangenen Chignons und der Reglosigkeit der kleinen weißen Hände, die gefaltet in ihrem Schoß ruhten, ließ sich ihr wahres Selbst nur schwer verbergen. Die grünen Augen in dem bemüht liebenswürdigen Gesicht sprühten vor Eigensinn und Lebenslust, ganz im Gegensatz zu ihrem züchtigen Gebaren. Die Manieren waren ihr durch die sanften Ermahnungen ihrer Mutter und durch die weit strengere Zucht ihrer Mammy aufgeprägt worden; die Augen gehörten ihr. Zu ihren beiden Seiten fläzten sich die Zwillinge entspannt in ihren Stühlen und blinzelten durch große, mit Minzeblättern garnierte Gläser ins Sonnenlicht, während sie lachten und plauderten und die langen, kräftigen Reiterbeine in kniehohen Stiefeln lässig gekreuzt von sich streckten. Neunzehn Jahre alt, 1,85 groß, schlaksig und muskulös, mit sonnengegerbten Gesichtern und kastanienrotem Haar, die Augen vergnügt und hochmütig, in identische blaue Jacketts und senffarbene Reithosen gekleidet, glichen sie einander wie eine Baumwollkapsel der anderen. Draußen warf die späte Nachmittagssonne ihre Strahlen in den Garten und ließ die Hartriegelbäume wie eine weiße Blütenwand vor dem Hintergrund neuen Grüns aufleuchten. Die Pferde der Zwillinge, große Tiere, fuchsrot wie das Haar ihrer Herren, waren in der Auffahrt angebunden; und zwischen ihren Beinen balgte sich eine Meute schlanker, nervöser Jagdhunde, die Stuart und Brent überallhin begleiteten. Etwas abseits, wie es sich für einen Aristokraten gehört, lag ein schwarzgefleckter Dalmatiner, die Schnauze auf den Pfoten, und wartete geduldig, dass die Jungs nach Hause zum Abendessen aufbrachen. Zwischen den Hunden, den Pferden und den Zwillingen herrschte eine Seelenverwandtschaft, die nicht nur auf ihrem ständigen Zusammensein beruhte. Sie waren allesamt gesunde, gedankenlose junge Tiere, geschmeidig, anmutig, temperamentvoll, die Jungs ebenso feurig wie die Pferde, die sie ritten, heißblütig und gefährlich, doch dabei sanftmütig gegen Leute, die sie zu nehmen wussten. Obgleich sie in das bequeme Leben der Plantagenbesitzer hineingeboren und seit ihrer Kindheit von vorne bis hinten bedient worden waren, wirkten die drei auf der Veranda weder schlaff noch weichlich. Sie strotzten vielmehr vor Kraft und Lebendigkeit, denn als Landbewohner hatten sie ihr ganzes Leben im Freien zugebracht und ihre Köpfe nur wenig mit ödem Bücherkram beschwert. Das Leben im Clayton-County im Norden von Georgia war noch neu und, gemessen an den Maßstäben von Augusta, Savannah und Charleston, etwas ungehobelt. In den gesetzteren und älteren Landstrichen des Südens rümpfte man die Nase über Leute, die aus Georgias Norden stammten, doch hier war ein Mangel an klassischer Bildung keine Schande, sofern ein Mann sich in den Dingen auskannte, die wirklich zählten. Gute Baumwolle anbauen, gut reiten, treffsicher schießen, leichtfüßig tanzen, elegant die jungen Damen umwerben und Alkohol wie ein Gentleman vertragen, das waren die Dinge, die zählten. In all diesen Fertigkeiten exzellierten die Zwillinge ebenso wie in ihrer berüchtigten Unfähigkeit, irgendetwas zu lernen, das sich zwischen zwei Buchdeckeln befand. Ihre Familie hatte mehr Geld, mehr Pferde, mehr Sklaven als sonst jemand im County, doch die Jungs hatten weniger Ahnung von Grammatik als die meisten armen weißen Farmer in ihrer Nachbarschaft. Genau aus diesem Grund lungerten Stuart und Brent an diesem Aprilnachmittag in Tara auf der Veranda herum. Sie waren gerade erst von der Universität von Georgia relegiert worden, der vierten Universität, die sie innerhalb von zwei Jahren hinausgeworfen hatte. Und ihre älteren Brüder Tom und Boyd waren mit ihnen nach Hause zurückgekehrt, weil sie sich weigerten, in einer Institution zu bleiben, in der die Zwillinge nicht willkommen waren. Stuart und Brent betrachteten ihren letzten Hinauswurf als einen gelungenen Witz, und Scarlett, die seit dem Verlassen der Fayetteville Female Academy im Jahr zuvor freiwillig kein Buch mehr aufgeschlagen hatte, fand das Ganze ebenso erheiternd wie sie. »Ich weiß, euch beiden ist es egal, wenn ihr rausgeschmissen werdet, und Tom genauso«, sagte sie. »Aber was ist mit Boyd? Er legt doch eher Wert auf Bildung, und ihr beide habt ihn aus der Universität von Virginia und Alabama und South Carolina rausgerissen, und jetzt aus der von Georgia. So bekommt er doch nie einen Abschluss.« »Ach, er kann doch in Richter Parmalees Kanzlei in Fayetteville Jura studieren«, erwiderte Brent sorglos. »Außerdem schadet es nicht sonderlich. Wir hätten sowieso vor Semesterende nach Hause gemusst.« »Wieso?« »Der Krieg, Gänschen! Der Krieg kann jeden Tag losgehen, und du glaubst doch nicht, dass irgendwer von uns auf dem College bleibt, wenn es Krieg gibt, oder?« »Du weißt genau, dass es überhaupt keinen Krieg geben wird«, sagte Scarlett gelangweilt. »Das ist doch alles nur Geschwätz. Ashley Wilkes und sein Vater, die haben erst letzte Woche zu Pa gesagt, dass unsere Unterhändler in Washington mit Mr. Lincoln zu … zu … einer gütlichen Vereinbarung über die Konföderation kommen werden. Und überhaupt haben die Yankees viel zu viel Angst vor uns, um zu kämpfen. Es wird keinen Krieg geben, und ich hab’s satt, davon zu hören.« »Keinen Krieg geben!« riefen die Zwillinge aufgebracht, als wollte man sie um etwas betrügen. »Aber Herzchen, natürlich wird’s Krieg geben«, sagte Stuart. »Die Yankees haben vielleicht Angst vor uns, aber so wie General Beauregard sie vorgestern aus Fort Sumter rausgebombt hat, müssen sie kämpfen, oder sie stehen vor der ganzen Welt als Feiglinge da. Und die Konföderation …« Scarlett verzog ungeduldig den Mund. »Wenn ihr noch einmal ›Krieg‹ sagt, gehe ich ins Haus und mache die Tür zu. Ich hab noch nie in meinem Leben ein Wort so satt gehabt wie ›Krieg‹, außer vielleicht ›Sezession‹. Pa redet von morgens bis abends vom Krieg, und die ganzen Gentlemen, die ihn besuchen, palavern über Fort Sumter und die Rechte der Bundesstaaten und Abe Lincoln, bis ich vor Langeweile schreien könnte! Und die Jungs haben auch nichts anderes zu reden; das und ihre blöde alte Truppe. Auf keiner Party in diesem Frühjahr hatte man das geringste bisschen Spaß, weil die Jungs von nichts anderem reden können. Ich bin wirklich froh, dass Georgia mit der Sezession bis nach Weihnachten gewartet hat, sonst wären auch noch die Weihnachtspartys verdorben worden. Wenn ihr noch einmal ›Krieg‹ sagt, geh ich ins Haus.« Sie meinte es ernst, denn sie konnte keine Unterhaltung lange ertragen, in der nicht sie im Mittelpunkt stand. Aber sie lächelte beim Sprechen, damit ihre Grübchen noch tiefer wurden, und ließ ihre schwarzen Wimpern flattern wie Schmetterlingsflügel. Die Jungs waren gebührend verzaubert und entschuldigten sich eilig, dass sie sie gelangweilt hatten. Sie dachten wegen Scarletts Desinteresses keineswegs geringer von ihr. Eigentlich stieg sie sogar in ihrer Achtung. Der Krieg war Männersache, nichts für Frauen, und Scarletts Haltung erschien ihnen als Ausdruck von Weiblichkeit. Nachdem Scarlett sie von dem öden Kriegsthema abgebracht hatte, wendete sie sich voller Interesse erneut der gegenwärtigen Situation der beiden zu. »Was hat denn eure Mutter dazu gesagt, dass ihr zwei wieder rausgeflogen seid?« Die Jungs schauten betreten. Sie erinnerten sich, wie ihre Mutter sie vor drei Monaten empfangen hatte,...