E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Möller Am Rande Berlins lebt die Intelligenz
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-8054-1
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kleinmachnow, mein Großvater und die Reklame fürs Volk
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-7518-8054-1
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als sich der Werbegrafiker Andreas Nießen (1906–1996) in die bereits bei UFA-Größen wie Heinz Rühmann und später führenden »Kulturschaffenden« wie Christa Wolf beliebte Künstlersiedlung zurückzog, hatte er bewegte Jahre hinter sich. Ab 1927 leitete er die Eigenwerbung des einflussreichen Berliner Zeitungsverlags Mosse, erhielt 1937 Berufsverbot wegen der Ehe mit der Jüdin Ella Mayer, die nach der Scheidung mit der gemeinsamen Tochter nach Amsterdam floh und nur knapp der Deportation entging. Er überstand den Einsatz in der Propagandakompanie an der Ostfront und zog 1954 mit seiner zweiten Familie an den Rand Berlins, wo er sich neu erfand als Gestalter von Auftragswerbung für volkseigene Betriebe und DDR-Ministerien. Als seine Arbeiten als »unsozialistisch« verworfen wurden, geriet er in die Fänge der Staatssicherheit, die ihn als Kopf eines oppositionellen Kreises von Künstlern und Intellektuellen überwachte. Kleinmachnow als zeitentrücktem Ort kam dabei eine vergleichbare Rolle für die sozialen Interaktionen im Künstlermilieu zu wie etwa dem Weißen Hirsch in Dresden für das dortige Akademikermilieu, das sich vom Sozialismus abkapselte – und durch seine Inselbildung zugleich gut für diesen sichtbar war.
Am Rande Berlins lebt die Intelligenz erzählt die Geschichte eines tief in das 20. Jahrhundert verwickelten Künstlerdaseins. Es ist die Geschichte eines Überlebens und der politischen Kompromisse in der Kultur- und Medienszene von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung.
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Einleitung
Als die Mauer gefallen war, fuhr ich zu meinen Großeltern nach Kleinmachnow, die nahe der ehemaligen Grenze zum Westberliner Stadtteil Zehlendorf unter Kiefern und Birken lebten, bewacht von den Rufen der Eichelhäher.
Es war der Sommer 1990. Das Gefühl des Neuen lag in der Luft und mischte sich mit dem jugendlichen Hunger nach Leben. Wir hörten Bands wie Sandow und Feeling B, die D-Mark war nun auch im Osten Zahlungsmittel, und Deutschland wurde durch ein Tor von Andreas Brehme Weltmeister. Die Wende hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können.
Gleichzeitig schlossen viele Betriebe auch in meiner Heimatstadt Rostock. Der Frust der Erwachsenen über die Entwertung der eigenen Arbeit und die Sprachlosigkeit im SED-Staat übertrug sich auf uns. Die Stimmung war euphorisch und gereizt zugleich. Schlägereien in Diskotheken oder in der S-Bahn nach Warnemünde waren an der Tagesordnung. Mit verstörender Härte brach sich Bahn, was lange unterdrückt geblieben war. Nachrichten über »Bordsteinkicks«, die Angst am Hauptbahnhof mit der E-Gitarre über der Schulter, der Hubschrauberlärm im Unterricht während der Ausschreitungen in Lichtenhagen 1992: Sie gehören zur Erinnerungsschicht jener Jahre.
Zur selben Zeit kam ein Berufsberater in die Klasse und fragte nach unseren Zukunftsplänen. Da ich die Wende mit Montagsdemonstrationen und einer Jugendkultur, in der es nur »rechts«, »links« oder »stino« für »stinknormal« gab, als Politisierung erlebt hatte und für die neue Schülerzeitschrift schrieb, gab ich vorlaut »Redakteur« an. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete und wie man das wurde. Die lokale Ostsee-Zeitung stand zudem im Ruf, eben noch Parteiorgan gewesen zu sein. Doch da ich jetzt so oft es ging nach Berlin fuhr, lag es nahe, mir ein Herz zu fassen und beim Tagesspiegel anzufragen, der seine Adresse in der Potsdamer Straße hatte.
Die Idee – im Grunde war es eine Ansage – kam von ihm. Mein Großvater war bereits über achtzig und gab mir nur selten Ratschläge. Aber da er ein halbes Jahrhundert mit Werbeanzeigen, Plakaten und Büchern zu tun gehabt und sich schon im Berlin der Zwanzigerjahre einen Namen als Grafiker gemacht hatte, willigte ich ein.
Ich hatte in der DDR nicht gelernt, Türen ins Unbekannte aufzustoßen und selbstbewusst einen Anspruch zu artikulieren, wie ich es im Unterschied zu manchem West-Kommilitonen noch Jahre später nicht ohne Scham spüren sollte. Entsprechend groß war meine Nervosität. An jenem Morgen sagte mein Großvater etwas zu mir, das ich nicht vergessen habe. Vielmehr ist es, als hörte ich seine Stimme ganz nah, den im Osten seltenen rheinischen Akzent, der in diesem Moment etwas umso Fremderes hatte, als wollte er andeuten: Wie kannst du nur?
Als er mich im T-Shirt im Flur stehen sah, sprach er vorwurfsvoll, ich solle umkehren und mir ein gebügeltes Hemd anziehen. »Die Journalisten sind doch alles konservative Leute!« Es klang wie eine Warnung. Aber es war nur Ausdruck einer Sozialisation, die er so tief verinnerlicht hatte, dass auch die Arbeiter- und Bauerndoktrin seinen inneren Kern nicht berühren konnte, wie es später im Bericht der Staatssicherheit hieß. In seiner ganzen Traditionsversessenheit, die ihm in künstlerischen Dingen zu eigen war, hatte er die Jahrzehnte in der DDR einfach überwintert. Er knüpfte nun 1990 noch einmal an das an, was er sich auf seinem langen Schaffensweg als Kompass angeeignet hatte. Er war sich seines Urteils so sicher, dass ich es nicht wagte, dagegen aufzubegehren.
Trotz des gestärkten Hemdes, das er mir borgte, kam ich nicht weiter als bis zum Pförtner, der mir eine Telefonnummer in die Hand drückte. Vom Tagesspiegel habe ich nie wieder etwas gehört. Dafür machte ich im Sommer darauf mein erstes Lokalpraktikum bei den Norddeutschen Neuesten Nachrichten, dem Konkurrenzblatt der Ostsee-Zeitung. Niemand sah hier so aus, wie ich es nach seinen Schilderungen vermutet hatte. Die Aschenbecher quollen über, an den Wänden hingen notdürftig drapierte Wochenplaner mit dem Symbol des Rostocker Zoos. Glamourös fühlte sich der Journalismus nicht an. Konservativ und erhaben wie auf Schwarzweißfotos von Barbara Klemm, auf denen Joachim Fest am Schreibtisch sitzt, auch nicht. Wie alles andere war auch die Redaktion im Umbruch. Redakteure gingen, und die, die blieben, suchten einen neuen Ton, ohne ihr bisheriges Leben zu verleugnen. »Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen«, dichtete Volker Braun in dieser Zeit: »Und unverständlich wird mein ganzer Text.«1
Heute, dreißig Jahre nach dem Tod meines Großvaters, sehe ich ihn wieder vor mir, so wie er in meiner Erinnerung immer aussah. Helle Hose, Hemd mit Binder, gestrickter Pullunder, Rasierwunde am Kinn, das weiße Haar nach hinten gekämmt, die Augenbrauen buschig, seine abgeschlagene goldene Glashütte am Handgelenk. Er sitzt in seinem Sessel und blickt wortlos in den Raum. Hinter ihm ein volles, fast chaotisches Bücherregal, in dem ich Namen wie Hieronymus Bosch, George Grosz, John Heartfield, Otto Dix, Kuhns Allgemeine Kunstgeschichte und Die Geschichte der Menschheit von Hendrik van Loon entziffern kann. Als wären es eigens zu diesem Zweck aufgestellte Werbeschilder, die ihren Besitzer bei Fremden einführen sollen, damit er selbst keine Anstalten dazu machen muss.
Wir haben oft nur so dagesessen, ohne zu sprechen, während meine Großmutter stets leidenschaftlich mit mir diskutierte und dabei vergnügt an ihrer Ernte 23 zog. Oder sie rührte sekundenlang in ihrer Teetasse, dass man verrückt werden konnte. Sie hatte schöne Sommersprossen im Gesicht und so viele Altersflecken auf den Händen, als wären sie tätowiert. Werktags wie sonntags trug sie eine helle Bluse, die ihr etwas Vornehmes gab. Sie sah der Schauspielerin Ilse Werner nicht unähnlich, die ihre großen Erfolge im Nationalsozialismus feierte und in zweiter Ehe seltsamerweise ebenfalls mit einem Herrn Nießen, nämlich dem Komponisten Josef Nießen, verheiratet war.
Oft reichte »Oma Ruth« Waffelröllchen, die sie in einer runden Quality-Street-Dose aufbewahrte. Das machte es einfacher, sie zu lieben, wenn sie die Dinge in der ihr eigenen Schärfe kommentierte. Oder mit einer mahnenden Grimasse zum Ausdruck brachte, dass man beim Abtragen des Geschirrs in die Küche helfen solle. Dazu klatschte sie in die Hände wie eine Sportlehrerin: »Alle Mann, alle Mann!«
Er hingegen redete kaum, ereiferte sich nur selten, war für mich unerreichbar, auch wenn wir uns gegenübersaßen. Er war da und war doch nicht da. Mein Großvater schwieg und rauchte, meist Sumatra, deren feuchte Mundstücke ich musterte, um sie dann mit dem Finger im Aschenbecher zu berühren, wenn er nicht hinsah. Er saß wie hinter einer Glaswand, was auch mit seinem regungslosen Blick zu tun hatte, weil die Augen ihn zunehmend im Stich ließen. Und wenn er etwas sagte, dann war es ein »Setz dich mal her, Sohnemann« oder ein gepresstes »Maline«, mit dem er meine Großmutter rief, wenn er das Gefühl hatte, sie sei nun schon zu lange weg, in der Küche oder im Keller (ich weiß nicht, warum er sie so nannte, ihre Vornamen waren Ruth Dorothea Luise). Und wenn sie schließlich zur Tür hereinkam und »Andres?« sagte, entgegnete er nichts, sondern nickte nur und zog an seiner Zigarre.
Er sprach dafür durch seine Bilder, die überall im Haus hingen, es einnahmen, ja fast erdrückten. Es waren Skizzen und Zeichnungen, eine Ansicht des wiederaufgebauten Potsdams, Aquarelle aus der Nachkriegszeit im Dorf Wintzingerode im Eichsfeld, wo meine Mutter und ihre beiden Geschwister wegen der Bombardements auf Berlin aufwuchsen. Porträts von Schauspielern und Ärzten aus den umliegenden Städten Duderstadt, Worbis und Heiligenstadt. Und das Ölgemälde des Grafen von Wintzingerode, den alle im Dorf nur »Onkel Major« genannt hatten, datiert auf das Jahr 1948. Es waren Bilder, die gelebtes, zum Teil erlittenes Leben spiegelten, das mir damals noch nicht vor Augen stand, nicht vor Augen stehen konnte.
Ich wusste lange nichts von seinen Geldsorgen in der Weltwirtschaftskrise und seinem Berufsverbot 1937. Nichts von der Ehe mit einer jüdischen Frau namens Ella Mayer und der gemeinsamen Tochter Eva vor meiner Mutter. Von ihrer Flucht nach Holland kurz vor Kriegsbeginn. Und von den möglichen Schuldgefühlen, die er nach den Erlebnissen in der Propagandaeinheit an der Ostfront mit sich herumtrug. Nichts von dem, was er im Krieg hatte mitansehen müssen. Nichts vom Neustart als Grafiker in der DDR. Ich wusste auch nichts von den Repressalien, die nun folgten, der Stasi-Überwachung und dem Rückzug in eine Welt, die wie ein Versteck war, in dem er nach all den Orts- und Wohnungswechseln angekommen war. Hier war er zu Hause, im geheimen Kleinmachnow, hatte die letzte und entscheidende Ausfahrt seines Lebens genommen.
Der auch außerhalb Berlins bekannte Ort spielt für seine Biografie eine wichtige Rolle. In Kleinmachnow fanden die sozialen Interaktionen von Künstlern und Intellektuellen in seinem Umfeld statt, vergleichbar mit dem Klischee des Viertels Weißer Hirsch in Dresden für das dortige akademische Milieu, das sich vom Sozialismus abkapselte – und gerade dadurch gut lokalisierbar war. Christa Wolf, die bis zu ihrem Umzug nach Pankow in Kleinmachnow lebte, steht exemplarisch für diese Ambivalenz. Ein Subkosmos »abgeschnitten vom Strom der Zeit«, wie man über Peter Huchels Wohnhaus in Wilhelmshorst bei Potsdam schrieb.2 Und zugleich ein drastisches Sinnbild der Teilung und des geduldeten...




