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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Off Vorkriegsjugend

200 Gramm Punkrock
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95575-600-0
Verlag: Ventil Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

200 Gramm Punkrock

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-95575-600-0
Verlag: Ventil Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jung kaputt spart Altersheime!

Goldene Tage waren das Mitte der 80er, als gefärbte Haare und zerrissene Klamotten bei Eltern, Lehrern und deinem Gegenüber in der Straßenbahn noch echte Empörung auszulösen vermochten. Eine Zukunft sollte es nicht geben – das hatten zumindest die Großmächte versprochen. Wozu also die knappe Zeit mit einer Berufsausbildung vergeuden?! War es nicht wesentlich sinnstiftender, das ungeheure Angebot an Rauschmitteln zu verkosten, dabei weitere Nieten in die Lederjacke zu schrauben und die Regler der Anlage hochzureißen, damit auch die Nachbarn den neuen ›Soundtrack zum Untergang‹ genießen konnten? Ja, natürlich war es das! Aber bis der lang ersehnte Irokesenschnitt endlich das notwendige Stehvermögen besaß, mussten nicht selten zahlreiche Hürden genommen werden.
Der Roman "Vorkriegsjugend" würdigt eine Dekade, die so furchtbar gern kalt sein wollte, sich im Vergleich zum nachfolgenden Jahrzehnt aber als echter Ponyhof präsentiert.

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Rekrutenleid
Ich war dreizehn oder vierzehn, als der Punkrock von meiner zarten Seele Besitz nahm. Beim Durchpflügen des einzig akzeptablen Plattenladens, den meine Heimatstadt im Angebot hatte, war mir ein Sampler ins Netz gegangen, dessen Cover (eine Schwarzweiß-Zeichnung) aufrichtig verboten aussah: ein Trupp futuristisch anmutender Soldaten, absoluten Vernichtungswillen auf den Gesichtern, in einer brennenden Ruinenlandschaft. Darüber die einleuchtende Zeile »Soundtracks zum Untergang«. Die auf der Rückseite der Plattenhülle aufgelisteten Bands hielten, was die Vorderseite versprach. Sie trugen so abenteuerlich klingende Namen wie Hass, Störtrupp oder Offensive Herbst 87 und hatten ebenso abenteuerlich klingende Stücke im Angebot: »Selbstmord« etwa oder »Hurra, ich bin genormt«. Als Krönung des Ganzen das Zitat einer gewissen Rosa (Eine Band? Ein Mädchen?): »Wir werden noch tanzen, wenn an euch schon keiner mehr denkt!« Ohne zu wissen, was hier überhaupt für eine Musikrichtung präsentiert wurde, trug ich den Tonträger zur Kasse. Ich spürte mit aller Deutlichkeit, daß ich etwas Außergewöhnliches in den Händen hielt. Was auch immer auf dieser Scheibe gespeichert war, es würde ohne Zweifel geeignet sein, meine altersbedingte Abneigung gegen die üblichen Autoritätspersonen mit Munition zu versorgen. Mein Gefühl sollte mich nicht im Stich lassen. Kaum daß ich das Vinyl meinem Plattenspieler überantwortet hatte, prügelte ein Sound auf mich ein, dessen Aggressivität mich schreckhaft den Lautstärkeregler zurückdrehen ließ. Die Texte taten ein Übriges; sie griffen alles an, was dem Land, in dem ich lebte, lieb und teuer war, und das in einer Sprache, die mir im Deutschunterricht unzweifelhaft ein Ungenügend eingetragen hätte. Heiland, wenn dieses staatsfeindliche Produkt (das nur von der RAF oder der Stasi finanziert worden sein konnte – und war das, wenn ich meinem Großvater Glauben schenken durfte, nicht das gleiche?!), wenn dieses Werk des Bösen also meinen Eltern in die Hände fiel, würde das unweigerlich Strafmaßnahmen und/oder (was noch schlimmer war) klärende Gespräche nach sich ziehen. Für gewöhnlich liefen Trio oder Joachim Witt auf meiner Billig-Anlage. Ich ließ die erste Seite durchlaufen, dann schob ich die Platte in ihre Hülle zurück. Mehr wäre gesundheitsschädigend gewesen. Die Erregung, die mich beim Hören ergriffen hatte, kam dem High eines Langstreckenläufers gleich. Gegen das eben Erlebte war die Berührung von Ilona Rennelbergs zarten Brüsten ein Scheißdreck gewesen. Keine Frage, daß ich meinen Jahrhundertfund noch am selben Nachmittag zu Jörn Melzer trug. Wenn es jemanden in meiner Klasse gab, der diesen Sprengsatz zu würdigen wußte, dann war es mein Banknachbar. »Und?« fragte ich, nachdem wir dem Krawall etwa eine Viertelstunde lang gelauscht hatten. Jörn Melzer zog bedächtig an einer Camel Filter. »Das ist Punk«, sagte er schließlich. Punk also, davon hatte ich schon gehört. Im Stern hatten sie einen Bericht gebracht, der sich mit fortgesetzten Schlägereien zwischen größeren Gruppen verfeindeter Jugendlicher in Berlin beschäftigte. Die einen trugen gelbe Pullunder und Karottenhosen und wurden Popper genannt; die anderen, die sogenannten Punker, besaßen abenteuerliche Stachelfrisuren und bemalte, mit Nieten übersäte Lederjacken. Das also war die Musik, die diese verwegenen Gestalten dazu brachte, der herrschenden Mode ins Gesicht zu spucken. (An meiner Schule rannten die meisten in knielangen Hemden, Anzugwesten und geschlossenen Clogs herum.) Natürlich durfte ich mir meine Unwissenheit nicht anmerken lassen. »Das war mir schon klar, daß das Punk is’. Ich wollte wissen, wie du’s findest?« »Groß«, sagte Jörn Melzer. Und damit war eine zukunftweisende Entscheidung gefallen. Ohne daß wir es aussprechen mußten, stand fest: Auch wir würden Punker werden. Und das so schnell wie möglich! In den nächsten Monaten verwandten wir viel Geld und Zeit darauf, uns mit weiteren Platten, vor allem aber mit Fachwissen einzudecken. Wir saugten alles ein, was uns Presse und Fernsehen zum Thema zu bieten hatten, und das war nicht wenig. Punk sorgte damals allerorten für Skandale. Bald kannten wir die Namen zahlloser Bands und ihrer Mitglieder, wir hatten unzählige Songtexte im Kopf, und wir wußten, daß Punker eigentlich Punks hießen. Was das Theoretische betraf, waren wir also schnell auf der Höhe. Nur die Praxis, speziell unser Äußeres, ließ noch zu wünschen übrig. Ich ging diesen Mißstand an, indem ich mir ein T-Shirt von den Sex Pistols zulegte, in das ich mit der Nagelschere zahlreiche Löcher schnitt. Als ich es am nächsten Morgen (nachdem ich es unter meinem Pullover aus dem Haus geschmuggelt hatte) in der Schule präsentierte, kam ich mir so bedrohlich vor wie ein Hell’s Angel mit entsicherter Pumpgun unterm Arm. Jörn Melzer zog nach, indem er seine Erziehungsberechtigten dazu überredete, ihm ein Paar Springerstiefel zu kaufen. Einer Begegnung mit dem echten Leben stand also nichts mehr im Wege. Stellte sich nur die Frage, wo die örtlichen Punker, Entschuldigung, Punks, zu finden waren. Falls es welche gab … Es war mein Banknachbar, der den Ruhm des Entdeckers in Anspruch nehmen sollte. »Sie hängen am Lesepavillon rum«, raunte er mir während einer Biologiestunde zu. »Wer?« »Na, wer wohl … ?!« »Wirklich?!« Ich fühlte eine Kompanie Endorphine durch meine Nervenbahnen reiten. »Mindestens ein Dutzend. Es waren sogar Mädchen dabei.« »Und jetzt?« »Na, wir gehen natürlich hin.« Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Aber Jörn Melzer war ein kompromißloser Patron. Er ließ keinen Widerspruch gelten. Gleich nach der Schule nahmen wir das Vorhaben in Angriff. Als wir die vermüllte Grünanlage namens Schloßpark betraten, die den Lesepavillon (eine Zweigstelle der örtlichen Bücherei) umgab, sah ich sie schon von weitem. Vier Typen in der medial bekannten Kluft, zwei davon mit beeindruckenden, grell gefärbten Irokesenschnitten. Sie saßen auf der flachen Umrandung eines zwergwüchsigen Springbrunnens und tranken Bier. Also kein Dutzend und auch keine Mädchen dabei. Aber wen interessierte das?! Hier waren die Menschen, deren Leben wir nur allzu gern gegen unser eigenes eingetauscht hätten. Jesus, was hätte ich in diesem Moment dafür gegeben, zwei oder drei Jahre älter zu sein. Ich hätte mir umgehend eine neue Frisur und eine Lederjacke zugelegt. Wenigstens trug ich mein Sex Pistols-Shirt. Melzer und ich schlenderten betont desinteressiert an der Gruppe vorbei und ließen uns keine zehn Meter entfernt auf einer Bank nieder. Nachdem wir jeder zwei Pall Mall de Luxe auf Lunge geraucht hatten, erlahmte die Faszination ein wenig. Ja, um genau zu sein, wurde uns irgendwann langweilig. »Vielleicht sollten wir rübergeh’n«, schlug Melzer vor. »Wie? Einfach so?« »Na ja, wir gehen hin und sagen denen, daß wir auch Punks sind.« »Ich weiß nich’ …«, entgegnete ich. »Vielleicht wollen die lieber ihre Ruhe haben.« »Ach was. Wir fragen sie einfach, ob sie uns ’n Bier abgeben.« »Na, wenn du meinst.« Unsicher trabte ich meinem Gefährten hinterher, der dem Quartett mit einer Entschlossenheit entgegenstrebte, die an einen kaiserlichen Steuereintreiber gemahnte. »Hey!« tönte er bereits drei Meter entfernt. »Habt ihr ’n Bier für mich und meinen Kollegen hier?« Vier erstaunte Augenpaare wandten sich in unsere Richtung. »Wir sind auch Punks, wißt ihr.« Das Erstaunen schlug in Heiterkeit um. Vier Münder verzogen sich zu einem satten Grinsen. Dann drang schallendes Gelächter an meine durchbluteten Ohren. »Punks, was?!« brüllte einer, dessen hüpfender Kehlkopf einen eintätowierten Schmetterling animierte. »Scheiße Mann, ich dachte, ihr wärt Zivilbullen.« »Ihr wollt Bier?!« keuchte sein Nachbar, einer der beiden Irokesenträger. »Habt ihr denn ’n bißchen Heroin dabei, damit wir tauschen können?« Melzer wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, als ich ihn heftig am Ärmel...


Jan Off wurde 1967 im finnischen Tohmajärvi geboren. Mit seinen Krimis um die heroinabhängige Ermittlerin Saana Nevalainen hatte er sich bereits mit 24 Jahren im gesamten skandinavischen Raum einen Namen als Meister des ,Roman noir' gemacht.
Angewidert vom eigenen Erfolg zog Off 1998 nach Deutschland, wo er sich in seinen Büchern fortan noch intensiver den Rändern der Gesellschaft zuwandte. Noch immer geht es also um Sex, Drogen und Gewalt, mittlerweile jedoch angereichert mit einer großen Portion schwarzen Humors.
Von der New York Times gefragt, was ihn antreibe, antwortete Jan Off im September 2009: "Ich begreife das Schreiben in erster Linie als Akt der Notwehr."



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