Ondaatje Katzentisch
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-446-23958-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-446-23958-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Ondaatje, 1943 in Sri Lanka geboren, lebt heute in Toronto. Mit seinem Roman »Der englische Patient« (Hanser, 1993), für den er den Man Booker Prize und zum 50-jährigen Jubiläum des Preises im Jahr 2018 den Golden Man Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. Im Hanser Verlag erschienen zuletzt »Buddy Boldens Blues« (1995), »Die gesammelten Werke von Billy the Kid« (1997), »Anils Geist« (Roman, 2000), »Handschrift« (Gedichte, 2001), »Divisadero« (Roman, 2007), »Katzentisch« (Roman, 2012) und »Kriegslicht« (Roman, 2018).
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ICH HÖRTE, wie ein Zettel unter meine Tür geschoben wurde. Auf dem Zettel wurde mir für alle Mahlzeiten Tisch Nr. 76 zugeteilt. Die zweite Koje war unbenutzt. Ich zog mich an und ging hinaus. Treppenstufen war ich nicht gewohnt, und ich betrat sie vorsichtig.
Im Speiseraum saßen neun Leute an Tisch Nr. 76, darunter zwei Jungen etwa meines Alters.
»Wir sitzen offenbar am Katzentisch«, sagte die Frau, die als Miss Lasqueti angesprochen wurde. »Wir haben den unattraktivsten Tisch bekommen.«
Es war nicht zu übersehen, dass wir in weiter Entfernung zum Tisch des Kapitäns untergebracht waren, der sich am anderen Ende des Raums befand. Einer der zwei Jungen an unserem Tisch hieß Ramadhin, der andere Cassius. Ramadhin war ein stiller Junge, der andere blickte hochmütig um sich, und wir ignorierten einander, obwohl ich ihn kannte. Cassius und ich hatten dieselbe Schule besucht, und obwohl er ein Jahr älter war als ich, wusste ich eine Menge über ihn. Er hatte einen schlechten Ruf genossen und war sogar für ein Halbjahr von der Schule verwiesen worden. Ich war mir sicher, dass es lange dauern würde, bis wir ein Wort wechselten. Aber das Gute an unserem Tisch war, dass es offenbar verschiedene interessante Erwachsene gab. Wir hatten einen Botaniker unter uns und einen Schneider, der einen Laden in Kandy besaß. Und das Tollste war, dass wir einen Pianisten unter uns hatten, der heiter erklärte, er sei »auf den Hund gekommen«.
Das war Mr. Mazappa. Abends spielte er mit dem Schiffsorchester, und nachmittags gab er Klavierstunden. Dafür bekam er Rabatt auf die Reisekosten. Nach unserer ersten Mahlzeit unterhielt er Ramadhin, Cassius und mich mit Anekdoten aus seinem Leben. Durch das Zusammensein mit Mr. Mazappa, der uns mit verwirrenden und oft genug obszönen Liedern aus seinem Repertoire unterhielt, fanden wir drei zu einem ungezwungenen Umgang miteinander, denn wir waren schüchtern und linkisch. Keiner von uns hatte Anstalten getroffen, die anderen auch nur zu grüßen, bis Mazappa uns unter seine Fittiche nahm und uns riet, Augen und Ohren offenzuhalten, da diese Reise uns viel lehren würde. Und so entdeckten wir am Ende dieses ersten Tages, dass wir gemeinsam neugierig sein konnten.
Ein anderer interessanter Gast am Katzentisch war Mr. Nevil, ein Schiffsabwracker im Ruhestand, der nach längerer Zeit im Orient nach England zurückkehrte. Wir waren gern mit diesem massigen und sanftmütigen Mann zusammen, weil er eingehend über die Beschaffenheit von Schiffen Bescheid wusste. Er hatte viele berühmte Schiffe abgewrackt. Im Unterschied zu Mr. Mazappa war Mr. Nevil bescheiden und sprach von diesen Episoden seines Lebens nur, wenn man es geschickt darauf anlegte, eine Geschichte aus ihm herauszukitzeln. Hätte er weniger bescheiden auf die Fragen geantwortet, mit denen wir ihn bombardierten, hätten wir ihm nicht geglaubt oder wären nicht so fasziniert gewesen.
Er hatte überall auf dem Schiff freien Zugang, denn er war von der Schiffahrtsgesellschaft mit Sicherheitsuntersuchungen betraut. Er machte uns mit seinen Hilfstruppen im Maschinenraum und mit den Heizern bekannt, und wir sahen ihnen bei der Arbeit zu. Verglichen mit der ersten Klasse herrschten im Maschinenraum unten im Hades unerträglicher Lärm und furchtbare Hitze. Eine zweistündige Inspektion der Oronsay mit Mr. Nevil klärte einen über alle größeren und kleineren Fährnisse auf. Er erklärte uns, dass die Rettungsboote, die in der Luft schaukelten, nur gefährlich aussahen, und deshalb kletterten Cassius, Ramadhin und ich oft hinein, um von dort aus die Passagiere heimlich zu beobachten. Miss Lasquetis Bemerkung, wir säßen am »unattraktivsten« Platz, der keinerlei gesellschaftliche Bedeutung besaß, hatte uns davon überzeugt, wir wären für Amtspersonen wie den Purser, den Chefsteward oder den Kapitän unsichtbar.
Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass eine entfernte Cousine, Emily de Saram, sich ebenfalls auf dem Schiff befand. Leider war ihr nicht der Katzentisch zugewiesen worden. Jahrelang war Emily der Umweg gewesen, über den ich herausgefunden hatte, was die Erwachsenen von mir dachten. Ich erzählte ihr meine Abenteuer und nahm mir zu Herzen, was sie sagte. Sie sagte ehrlich, was sie mochte und was sie nicht mochte, und da sie älter war, bildeten ihre Urteile für mich eine Richtschnur.
Da ich weder Brüder noch Schwestern hatte, waren die engsten Verwandten in meiner Kindheit Erwachsene. Es gab eine Kollektion lediger Onkel und bedächtiger Tanten, eng verbunden durch Klatsch und gesellschaftlichen Status. Es gab einen einzigen reichen Verwandten, der großen Wert darauf legte, im Hintergrund zu bleiben. Niemand konnte ihn leiden, aber alle hatten Hochachtung vor ihm und sprachen dauernd von ihm. Die Familienmitglieder pflegten die Weihnachtskarten, die er jedes Jahr pflichtschuldig schickte, zu begutachten und erörterten das Aussehen seiner heranwachsenden Kinder auf dem Foto und die Größe seines Hauses, das wie eine stumme prahlerische Geste den Hintergrund bildete. Mit solchen Familienurteilen wuchs ich auf, und ihnen verdankte ich meine Vorsicht, bis ich ihrem Umfeld entkam.
Aber da war immer Emily, meine machang, die eine Zeitlang fast nebenan wohnte. Vergleichbar an unserer Kindheit war der Umstand, dass unsere Eltern entweder an verschiedenen Orten lebten oder unzuverlässig waren. Ihr Familienleben war allerdings, wie ich argwöhne, schlimmer als meines – die Geschäfte ihres Vaters waren immer prekärer Natur, und die Familie lebte in ständiger Furcht vor seinen Zornesausbrüchen. Seine Frau unterwarf sich knechtisch seiner Herrschaft. Emilys spärlichen Auskünften entnahm ich, dass er gerne strafte. Selbst Erwachsene auf Besuch fühlten sich in seiner Gegenwart nicht sicher. Nur Kinder, die sich für eine Geburtstagsfeier kurzfristig in seinem Haus aufhielten, fanden die Unberechenbarkeit seines Betragens lustig. Er kam hergeschlendert, erzählte uns etwas Komisches und schubste uns dann in den Swimmingpool. Emily war in seiner Gegenwart nervös, selbst wenn er sie liebevoll in die Arme nahm und mit ihr tanzte, ihre nackten Füße auf seinen Schuhen.
Die meiste Zeit war ihr Vater mit seiner Arbeit beschäftigt oder einfach nicht da. Weil es keine zuverlässige Karte gab, an der sie sich orientieren konnte, erfand Emily sich selbst, wie ich vermute. Sie hatte einen ungezähmten Geist, eine Wildheit, die mich bezauberte, auch wenn sie gewagte Abenteuer einging. Zuletzt bezahlte Emilys Großmutter ihr den Aufenthalt in einem Internat in Südindien, so dass sie von der Gegenwart ihres Vaters befreit war. Mir fehlte sie. Und als sie in den Sommerferien zurückkam, sah ich sie nicht oft, denn sie hatte einen Ferienjob bei der Ceylon Telephone angenommen. Jeden Morgen holte ein Firmenwagen sie ab, und jeden Abend setzte ihr Chef Mr. Wijebahu sie zu Hause ab. Von Mr. Wijebahu hieß es, wie sie mir anvertraute, er habe drei Hoden.
Was uns beide mehr als alles andere verband, war Emilys Schallplattensammlung, all die Lebensläufe und Sehnsüchte, die in den zwei, drei Minuten eines Songs gereimt und konzentriert waren. Bergarbeiterhelden, schwindsüchtige Mädchen, die über Pfandhäusern wohnten, Abenteurerinnen, berühmte Kricketspieler und sogar der Sachverhalt, dass es keine Bananen mehr gab. Sie hielt mich manchmal wohl für einen Träumer und brachte mir das Tanzen bei, lehrte mich, sie um die Taille zu halten, während sie die erhobenen Arme bewegte, und mit ihr auf und über das Sofa zu springen, das unter unserem Gewicht schwankte und umkippte. Dann war sie plötzlich wieder weg, in der Schule, weit weg in Indien, und man hörte nichts mehr von ihr, nur hin und wieder bekam ihre Mutter Briefe, in denen sie um mehr Kuchen bat, der über das belgische Konsulat geschickt werden sollte, und ihr Vater ließ es sich nicht nehmen, diese Briefe allen Nachbarn voller Stolz vorzulesen.
Als Emily an Bord der Oronsay kam, hatte ich sie zwei Jahre lang nicht gesehen. Es war verstörend, sie nun soviel deutlicher zu sehen, mit prononcierteren Zügen, und eine Anmut wahrzunehmen, die ich zuvor nicht erkannt hatte. Sie war inzwischen siebzehn Jahre alt, die Schule hatte sie offenbar in mancher Hinsicht gezähmt, und sie sprach mit leicht schleppender Stimme, was mir gefiel. Dass sie mich an der Schulter festhielt, als ich auf dem Promenadendeck an ihr vorbeirannte, und mich nötigte, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, verlieh mir bei meinen zwei neuen Freunden auf dem Schiff ein gewisses Prestige. Aber meistens gab sie unmissverständlich zu erkennen, dass sie keine Gesellschaft wünschte. Sie hatte ihre eigenen Pläne für diese Reise … wenige allerletzte Wochen der Freiheit, bevor sie in England ankam, um dort ihre letzten zwei Schuljahre zu absolvieren.
Die Freundschaft zwischen dem stillen Ramadhin, dem überschwenglichen Cassius und mir machte schnell Fortschritte, obwohl wir vieles für uns behielten. Auf mich jedenfalls trifft das zu. Was ich in der Rechten hielt, wurde der Linken nie enthüllt. In vorsichtigem Verhalten war ich bereits geübt. In den Internaten, die ich kannte, entwickelte man aus Furcht vor Strafen Geschick im Lügen, und ich hatte gelernt, bestimmte kleine Wahrheiten zu verschweigen. Manche von uns wurden, wie sich erwies, durch die Strafen keineswegs zu völliger Ehrlichkeit angespornt oder gezwungen. Mir kam es vor, als würden wir die ganze Zeit wegen schlechten Betragens oder wegen aller möglichen Missetaten geschlagen (drei Tage in der Schulklinik herumlümmeln unter dem Vorwand, Mumps zu haben, eine der Schulbadewannen für alle Zeiten verschmutzen, indem man Tintenkugeln im Wasser auflöste, um Tinte für die höheren Jahrgänge herzustellen). Unser schlimmster...




