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E-Book

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

Ortner Fremde Feinde

Sacco und Vanzetti - Ein Justizmord

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

ISBN: 978-3-939816-32-4
Verlag: Nomen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am 15. April 1920 überfallen Banditen im Staate Massachusetts einen Lohntransport, töten beide Wachmänner und flüchten mit der Beute. Schon bald konzentrieren sich die Ermittlungen auf die beiden italienischen Einwanderer Nicola Sacco und Bartholomeo Vanzetti. Sie sind Ausländer, Atheisten – und Anarchisten. Obschon die Beweise dürftig sind, werden die beiden angeklagt und in einem fragwürdigen Indizienprozess trotz weltweiter Proteste zum Tode verurteilt.

Schuldig oder nicht? Bis heute ist diese Frage nicht endgültig beantwortet, aber allein die Zweifel und das ungerechte Verfahren reichen aus, um den Fall zu einer Legende zu machen. 1977 werden Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti von Michael Dukakis, Gouverneur von Massachusetts, rehabilitiert. Eine Untersuchung ergibt, dass der Staatsanwalt absichtlich "unfaire und irreführende Beweise" vorgelegt hat.

Helmut Ortner schildert spannend und einfühlsam Leben, Kampf und Tod der beiden Einwanderer. Eine erschütternde Geschichte - ein Lehrstück gegen Fremdenfeindlichkeit, ein Buch von großer Aktualität.

"Ortners Buch ist ein Lehrstück für alle, die mit Andersdenkenden und Außenseitern zu tun haben. Wir alle." Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1. Die Schüsse von Bridegewater und South Braintree
2. Aufbruch ins Gelobte Land
3. Jagd auf Rote und Radikale
4. Die Falle schnappt zu
5. "Mindestens zwöf Jahre ..."
6. Als Staatsfeinde abgestempelt
7. Im Käfig von Dedham
8. Die "heilige" Entscheidung
9. Die juristische Verschwörung
10. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
11. Das Geständnis
12. "Sie töten zwei Unschuldige!"
13. Freiheit oder Tod
14. Letzte Rettungsversuche
15. Das Ende einer Tragödie
Epilog
Quellen- und Literaturhinweise


Erstes Kapitel
Die Schüsse von Bridgewater und South Braintree
Dieser Winter war besonders hart in New England, der schneereichste seit Jahren. Am kalt-feuchten Morgen des 24. Dezember 1919 war der Zahlmeister Alfred Cox mit Lohngeldern von mehr als dreißigtausend Dollar von der Bridgewater Trust Company zu seiner Firma, der L. Q. White Shoe Company in Bridgewater, Bundesstaat Massachusetts, unterwegs. Cox saß mit dem Rücken zu seinem Fahrer Earl Graves auf einer großen, verzinkten Eisenkiste, in der sich das Geld befand. Neben Graves, der das schwerfällige Gefährt, einen Ford mit Segeltuchdach und dicken Gummireifen, wegen vereinzeltem Glatteis sehr vorsichtig steuerte, saß der Wachtmeister Benjamin Bowles. Die Uhr zeigte zwanzig Minuten vor acht, als Graves in die Summer Street einbog, um kurz danach die Broad Street hinunterzufahren. In der Mitte der Straße verliefen dort Straßenbahnschienen, und Graves verlangsamte deshalb das Tempo auf kaum zehn Meilen in der Stunde, denn er wußte, wie tückisch solche Schienen bei Glätte sein konnten. Als sich der Lastwagen etwa hundert Meter hinter einer Straßenbahn befand, die in gleicher Fahrtrichtung unterwegs war, bemerkte Graves, wie an der Ecke Haie Street ein Personenwagen abrupt bremste. Drei Männer sprangen heraus und kamen dem Lastwagen entgegen. Im Bruchteil einer Sekunde ahnte Graves, daß etwas nicht stimmte. Der vorderste der drei Männer trug keine Kopfbedeckung, hatte einen dunklen Schnurrbart und war mit einem langen schwarzen Mantel bekleidet. Graves sah, daß er eine Flinte in der Hand hielt. Die beiden anderen Männer hatten Handfeuerwaffen. Plötzlieh kniete sich der Mann mit dem Schnurrbart nieder und zielte auf die Front des Lastwagens. »Ein Überfall!« schrie Graves. Er wußte nicht, ob er bremsen oder Gas geben sollte. In diesem Augenblick eröffneten die beiden anderen Männer das Feuer. Kugeln prasselten gegen die Bleche des Lastwagens. Bowles und Cox erwiderten das Feuer mit zwei Schüssen, während Graves nun doch kräftig auf das Gaspedal drückte und über die Schienen hinweg auf die andere Straßenseite fuhr. Doch auf der vereisten Straße verlor er die Kontrolle über den Wagen; da half es auch nicht, daß Bowles ihm ins Steuer griff. Schleudernd prallte der Lastwagen gegen einen Telegrafenmast. Blech krachte, Scheiben klirrten, Rauch stieg aus dem Motor auf. Kurz nach dem Aufprall rannten die drei Banditen zu ihrem Wagen zurück. Ein vierter Mann, von großer Gestalt, hatte während des Überfalls am Steuer sitzend auf sie gewartet. Hastig rissen sie die Türen auf und sprangen in den Wagen, der mit quietschenden Reifen durch die Haie Street davonfuhr. Der demolierte Lastwagen war mittlerweile von vielen Schaulustigen umringt. Gestenreich schilderten sie, was sie gesehen hatten oder gesehen zu haben glaubten. Bowles, Graves und Cox steckte der Schreck noch tief in den Gliedern. Bleich im Gesicht dankten sie Gott, daß keiner von ihnen getroffen und keiner verletzt worden war. Auch die Kiste mit den Lohngeldern war unversehrt geblieben. Noch am selben Tag beauftragte die White Shoe Company die Detektivagentur Pinkerton mit den Ermittlungen. Ein Pinkerton-Agent befragte zunächst die drei Beteiligten sowie mehrere Zeugen, die den Überfall miterlebt hatten. Seine ersten Recherchen blieben jedoch dürftig und widersprüchlich. Doch das war der Pinkerton-Mann von anderen Fällen schon gewohnt. Augenzeugen von Verbrechen waren häufig unzuverlässig. So etwas geht zu schnell, jede Person nimmt nur einen Teil des Verbrechens wahr, und viele sehen häufig nur, was sie sehen wollen, und nicht, was tatsächlich geschah. So gab Frank Harding, ein Verkäufer von Auto-Ersatzteilen, zu Protokoll, er habe beim Anblick der Schießerei zunächst gedacht, es würde ein Film gedreht. Als er zur Haie Street kam, seien die Gangster gerade zu ihrem Wagen gerannt. Vielleicht sei es ein Hudson gewesen, in jedem Fall ein schwarzer Wagen, daran könne er sich erinnern. Und an das Zulassungszeichen: 01173 C. Ein anderer Zeuge, ein junger Arzt mit dem Namen Dr. John Murphy, sagte aus, er habe sich gerade angezogen, als er die Schüsse hörte. Sofort habe er das Fenster geöffnet, doch nur noch einen Personenwagen gesehen, der davonraste. Ja, der Wagen sei schwarz gewesen. Immerhin, dachte der Pinkerton-Agent, diese Farbe wurde auch von Harding genannt. Und noch etwas gab der Arzt zu Protokoll: Er sei, so diktierte er dem Detektiv in den Block, später von seiner Wohnung in der Broad Street dorthin gegangen, wo der Lastwagen gegen den Mast geprallt war. Dort habe er eine Patronenhülse gefunden, aufgehoben und eingesteckt. »Haben Sie die Hülse dabei?« fragte der Detektiv ungeduldig. Der junge Arzt griff in seine Jackentasche und gab sie ihm. Andere Zeugen waren nicht so ergiebig, ihre Beobachtungen diffus, oberflächlich und voller Widersprüche. Drei Zeugen gaben an, der Mann mit dem Gewehr habe einen Mantel getragen; ein Zeuge sagte, dies sei nicht der Fall gewesen. Wieder andere behaupteten, er sei barhäuptig gewesen; dem widersprach eine Frau: Er habe einen schwarzen Filzhut getragen. Trotz der zahlreichen Widersprüche ergab sich für die Pinkerton-Agentur ein erstes Bild: Vier Männer, schwarzer Wagen, der Bandit mit dem Gewehr ein Mann mit dunklem Teint, kurzem, gestutztem Schnurrbart, mittelgroß, etwa vierzig Jahre alt. Da es damals durchaus üblich war, Personen nach ihrer ethnischen Abstammung zu identifizieren, dachte man sofort an Ausländer: an Griechen, Polen, Russen oder Italiener… Ein Pinkerton-Detektiv sprach auch mit dem Polizeichef von Bridgewater, Michael E. Stewart. Für diesen war der Überfall ein außerordentliches Ereignis. Stewart war seit 1915 Polizeichef in der Stadt, aber so etwas hatte er noch nicht erlebt. Zwar wußte er, daß es in den Industrievierteln von Boston häufig zu Überfällen und Einbrüchen in Läden und Banken gekommen war, und ihm war auch nicht entgangen, daß die Presse von einer »Welle von Verbrechen« geschrieben hatte. In den Berichten war immer wieder die mangelnde Durchschlagskraft der Polizei kritisiert worden. In Randolp, ganz in der Nähe von Bridgewater, war erst am 17. November eine Sparkasse ausgeraubt worden. Vier Täter erbeuteten dabei 3 5 ooo Dollar und verschwanden unerkannt. Doch das war in Randolp, nicht in Bridgewater. Stewart buchte es als seinen persönlichen Erfolg, daß in Bridgewater die Welt bislang noch in Ordnung war. Darauf war er stolz. Mit seinen zwei Polizeibeamten, einem Mann, der am Tage Streife ging, und einem, der Nachtdienst versah, war ihm der Überfall auf den Lohngeldtransport eine Nummer zu groß. Und das beunruhigte ihn. Ja, es kratzte an seiner Polizistenehre, den Fall gemeinsam mit den Pinkerton-Detektiven bearbeiten zu müssen. Stewart, ein großer, kräftiger Mann von Anfang Vierzig, sah darin aber auch eine Herausforderung. Jetzt konnte er beweisen, daß er zu Höherem berufen war als nur zu einem Provinzpolizisten. Dem Detektiv gab er zu verstehen, daß von den »Roten und Bolschewisten« eine ganze Menge nach Bridgewater hereinkämen und daß der Überfall das Werk einer von außerhalb der Stadt gekommenen Russenbande gewesen sein könnte. Stewart wußte zwar nicht so genau, woher eigentlich das Wort »Bolschewisten« kam, doch er benutzte es als generelles Schimpfwort für alle, die ihm als Gesindel galten. Ünd so taten es alle in Bridgewater. »Bolschewisten« waren Auslander, Anarchisten, Kommunisten, manchmal auch Gewerkschafter. In jedem Falle war ein Bolschewist das genaue Gegenbild von einem Amerikaner. Stewart, dessen Familie aus Irland stammte und schon seit zwei Generationen in Amerika ansässig war, fühlte sich diesen Einwanderern überlegen. Mit solchen Leuten hatten er und seine Familie nichts gemein. »Ich bin ein Amerikaner«, sagte er oft. Und als Ire fühlte er sich nicht nur als Pionier dieses großen Landes, das seine Heimat geworden war, sondern auch als eine Art besonderer Amerikaner. Inspektor Albert Brouillard von der State Police, der als Verstärkung nach Bridgewater geschickt worden war, um Stewart bei der Aufklärung des Verbrechens zu helfen, war bei der Beurteilung der Tat anderer Meinung. Er sah den Überfall in Zusammenhang damit, daß viele Verbrecher Boston verlassen hatten, nachdem dort der Streik der Polizisten beendet worden war, und sich nun in den Vorstädten aufhielten. Jetzt, so Brouillard, würden sie wieder neues Terrain für ihre Verbrechen suchen. Die Pinkerton-Detektive hatten für derartige Spekulationen nicht viel übrig. In ihrem Job zählten Beweise, nicht Phantasien. Um handfestere Spuren zu bekommen, versuchten sie, mit einer von der L. Q. White Shoe Company ausgesetzten Belohnung von tausend Dollar Unterweltspitzel zu gewinnen. Am 30. Dezember notierte sich ein Detektiv: Heute Telefonanruf von einem Informanten, treffe ihn später zum Abendessen. Im Verlauf der Unterhaltung teilt er mir mit, ein ihm nicht näher bekannter Italiener habe erzählt, die am...


Helmut Ortner hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Bekannt wurde er mit "Der einsame Attentäter – Georg Elser, der Mann der Hitler töten wollte" und "Der Hinrichter – Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers". Zuletzt veröffentlichte er den Kolumnenband "Widerstand ist zwecklos. Aber sinnvoll. – Notwehr-Notizen von der Heimat-Front" (2013) sowie "Politik ohne Gott - Wie viel Religion verträgt die Demokratie" (2014). Als Gast des Goethe-Instituts unternahm er mehrere Lesereisen, u.a. nach Südamerika, Kuba und Italien. Helmut Ortners Bücher wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt.


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