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E-Book

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

Ortner Volk im Wahn

Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit. Dreizehn Erkundungen

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

ISBN: 978-3-949774-08-9
Verlag: Edition Faust
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein Buch gegen das Vergessen Selbst der bedeutendste Kurzkommentar zum Grundgesetz wurde von einem wichtigen Nazi-Juristen mitverfasst. Eine echte Entnazifizierung hat es nie gegeben. Ortners Recherchen sind erhellend – und empörend.Deutschland in den Nachkriegsjahren – ein „entnazifiziertes“ Volk müht sich, das zu vergessen, was es verschwieg: seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Geschichtsverleugnung und Geschichtsumdeutung hatten Hochkonjunktur. So verloren sich der Schrecken und die Einzigartigkeit:Der nationalsozialistische Wahn wurde zur austauschbaren Metapher des Bösen, persönliche Schuld relativiert. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit gehört zur Gründungsgeschichte der Bundesrepublik. Das Geflecht der kollektiven Lebenslüge in der Adenauer-Republik: Verdrängen, Vergessen, Verleugnen. Helmut Ortners Dreizehn Erkundungen sind eine erhellende Synthese aus Erinnerung, Erkenntnis und Erzählung – mal analytisch, mal essayistisch, mal dokumentarisch."Hellsichtige, politische Essays" Focus
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1
DIE ZWEITE KARRIERE DES ROLAND FREISLER
Freitag, 17. November 1944. Ein geschlossener Kastenwagen bringt die 21-jährige Margot von Schade gegen zehn Uhr morgens vom Berliner Untersuchungsgefängnis Moabit hinüber in die Bellevuestraße – zum Volksgerichtshof. Schweigend sitzt sie zwei Frauen gegenüber: der 23 Jahre alten Barbara Sensfuß und der vierzigjährigen Käthe Törber. Für alle lautet die Anklage auf »Wehrkraftzersetzung«. In wenigen Stunden beginnt die Gerichtsverhandlung. Was hat man mit ihnen vor? Was erwartet sie? Am Vormittag erst hatte man Margot von Schade und den beiden anderen Frauen mitgeteilt, dass an diesem Tag der Prozess stattfinden würde. Jetzt, auf der Fahrt durch die Berliner Straßen, die sie nur skizzenhaft über dem Rücken des Fahrers durch die Frontscheibe wahrnimmt, fühlt sie sich elend. Und allein. Sie denkt an ihre Familie: die Mutter, den Stiefvater, die Schwester. Wo sind sie jetzt? Sie hat Angst. Eine Stunde später: ein großer Saal, die Wände kalkweiß. Vor dem Richtertisch drei Stühle – die Stühle für die Angeklagten. Daneben, links und rechts aufgereiht, uniformierte Wachbeamte. Sie wirken einschüchternd: »Hier gibt es kein Entrinnen« spricht aus ihren Gesichtern. An der Stirnseite des Saals, unübersehbar – von der Decke bis zum Boden – eine blutrote Hakenkreuzfahne. Davor, auf einem schmalen Sockel, die Bronzebüste Hitlers. Margot von Schade starrt wie hypnotisiert auf das riesige rote Tuch. Es wirkt bedrohlich auf sie. Sie blickt kurz in die Zuschauerbänke. Eine anonyme Masse. Braune und schwarze Uniformen. Sie nimmt dumpfes Stimmengemurmel wahr. Alles bleibt schemenhaft, unwirklich. »Aufstehen« – der militärische Kommandoton eines der Wachbeamten durchdringt den Gerichtssaal. Schlagartig herrscht Ruhe. Die Tür an der Seite des Richtertischs geht auf. Das Gericht tritt ein. Rote Roben, rote Baretts, graue und schwarze Uniformen – die Beisitzer. Vorneweg der Vorsitzende: Freisler. Sie schaut ihm direkt ins Gesicht. Ihre Blicke treffen sich für einen Moment. Er sieht kurz auf seine Armbanduhr. Die Verhandlung beginnt. Margot von Schade verfolgt das Tribunal wie in Trance. Später, sie weiß nicht mehr, wie viel Zeit mittlerweile verstrichen ist, schreckt sie hoch. »Angeklagte Schade! Aufstehen!« Freislers schneidende Stimme ist unüberhörbar. Punkt für Punkt verliest er die Anklage. Nein, er liest nicht – es erhebt sich ein einziges Gebrüll. Nach dem »gemeinen und hinterhältigen Attentat vom 20. Juli auf unseren Führer«, führt er voller Pathos und mit theatralischem Gestus aus, habe sich die Angeklagte öffentlich zersetzend geäußert. Nachdem die Sondermeldung über »die wundersame Errettung des Führers« über den Rundfunk verbreitet worden sei, habe sie abfällig bemerkt: »Pech gehabt …« Damit nicht genug. Die »verbrecherischen Offiziere, die den Anschlag ausführten«, seien, so habe die Angeklagte öffentlich behauptet, »nicht feige gewesen, sondern hätten im Gegenteil Mut gezeigt«. Ein Raunen des Entsetzens geht durch die Zuschauerreihen. Es schwillt an, als Freisler mit vor Empörung bebender Stimme ein Wort aus der Anklageschrift zitiert, das jedem strammen Nationalsozialisten geradezu als Ausbund der Verkommenheit erscheinen muss: »Scheiß Gefreiter« habe dieses verkommene Mädchen den Führer tituliert – »unglaublich«! Freisler gerät außer sich. Sein fanatischer Blick ist auf Margot von Schade gerichtet. Sie schaut zu Boden. Wie soll sie gegen diesen geifernden Monolog ankommen, wie sich Gehör verschaffen? Wie verteidigen? Schafft sie es einmal, die Worttiraden Freislers zu durchbrechen, wird sie nach wenigen Sätzen barsch zurechtgewiesen. Gibt es denn hier im Saal niemanden, der mir hilft? Wo ist denn meine Verteidigerin? Margot von Schade fühlt sich ohnmächtig. Ausgeliefert. Allein gelassen. Schon vorhin, bei der Vernehmung der beiden Mitangeklagten, die hier aber als Belastungszeuginnen gegen sie auftraten, hatte sie so viel sagen wollen. Erzählen, wie es wirklich war. Schildern, was tatsächlich geschah, damals, nach dieser Rundfunkmeldung am 20. Juli. Doch Freisler hatte ihr das Wort entzogen. Da saßen nur wenige Schritte von ihr entfernt die beiden Frauen, die einst ihre Vertrauten waren und die nun alle Schuld auf sie abwälzten. Sie wollten ihre Haut retten, sonst nichts. Margot von Schade spürte, dass bei diesem Tribunal jede Denunziation willkommen war. Es sollte ein Lehrstück sein für alle Zuschauer im Saal, damit sie sehen und erleben konnten, wie es jemandem ergeht, der sich außerhalb der »Volksgemeinschaft« stellt. Wie im Zeitalter der Hexenverfolgung, dachte sie. Und ich bin hier die Hexe. Freigegeben zum Verbrennen … Irgendwann, sie war längst müde geworden und konnte diesem makabren Schauspiel nicht mehr folgen, vernahm sie die monotone Stimme ihrer Verteidigerin. Ihr Schlussplädoyer klang routiniert, gleichgültig. Aber war es überhaupt »ihre« Verteidigerin? Nein, ihr Vertrauen hatte diese Frau nicht. Wie auch? Gerade einmal – und nur wenige Minuten lang – hatten sie vor diesem Prozess in der Haftanstalt miteinander gesprochen. Diese Anwältin wusste nichts von ihr, wollte nichts von ihr wissen. Für sie war es ein »Fall« wie viele andere, den sie routiniert und verfahrensgemäß erledigte, ein Aktenvorgang. Nichts sonst. Als Pflichtverteidigerin war sie vom Gericht engagiert worden. Und sie tat hier ihre Pflicht, wie man es von ihr erwartete. Jetzt, wo das kalte Tribunal dem Ende zugeht, spürt Margot von Schade, wie sehr sie in Gefahr ist. In den vergangenen Stunden musste sie erleben, wie ihre beiden Mitangeklagten vom Gericht als »verführte«, aber »im Kern« doch redliche Volksgenossinnen behandelt wurden; wie deren Verteidiger entlastende Argumente vortrugen, ja sogar Freisler verständnisvolle Worte für das Verhalten der beiden fand. Ganz anders bei ihr. Von Beginn an schlug ihr die gereizte Ablehnung Freislers entgegen. Warum nur? Weil sie adliger Herkunft war? War nach dem 20. Juli jeder Mensch, der in seinem Namen ein »von« trug, bereits ein Mitverschwörer von Stauffenbergs? Traf sie die ganze Härte Freislers, weil sie in ihren Antworten jene Einsicht vermissen ließ, die er von ihr reumütig erwartete? Gedanken wie diese gingen ihr durch den Kopf. Hatte nicht Freisler vorhin mit zynischer Attitüde gesagt: »Das ist die Familie, die Umgebung, der die Angeklagte entstammt«? Hatte er nicht mit gespielter Entrüstung gegeifert: »Sage mir, mit wem du verkehrst, und ich sage dir, wer du bist.« Alles war gegen sie verwendet worden, selbst der Brief, den ihre Schwester Gisela ihr in die Zelle geschickt hatte und der selbstverständlich von den Beamten abgefangen und sogleich zum Belastungsmaterial genommen worden war. In diesem Brief hatte Gisela von einer geselligen Runde berichtet … getanzt hätten sie, getrunken … Freisler sah darin nur einmal mehr den Beweis für eine dekadente familiäre Herkunft, die alles war, nur nicht so, wie sie in diesen schweren Zeiten einem guten Deutschen anstand. Diese junge Margot von Schade, diese aufmüpfige Göre, die sich erdreistet hatte, den Führer in »schamlosester Weise öffentlich zu beleidigen«, die durch ihre zersetzenden Äußerungen das Misslingen des Attentats sogar bedauerte – an dieser niederträchtigen Person musste ein abschreckendes Exempel statuiert werden. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Ist nicht alles schon längst entschieden? Bedrückt, eigenartig erregt sitzt Margot von Schade auf ihrem Stuhl. Die Zeit scheint stehenzubleiben. Sie fühlt sich wie in einem Vakuum. Irgendwann, Margot von Schade hat jedes Zeitgefühl verloren, betreten Richter und Beisitzer wieder den Saal. Die Urteilsverkündung. Freislers schneidende Stimme ist unüberhörbar: »Angeklagte Sensfuß – Aufstehen! Freispruch! Angeklagte Törber – Aufstehen! Freispruch!« Hoffnung keimt in ihr auf. Wenn die beiden Mitangeklagten freigesprochen werden, kann eigentlich auch ich mit einer Gefängnisstrafe davonkommen … »Angeklagte von Schade – Aufstehen!« Ihre Augen schauen nach vorn: rote Robe, rote Fahne … die Büste des Führers … »Wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung, defätistischer Äußerung und Landesverrat verurteile ich Sie zum Tode!« Todesurteil? Für mich? Das kann nicht sein. Ich bin keine Kriminelle, keine Mörderin. Todesurteil? … Während Freisler die Begründung des Urteils verliest, bemüht sie sich, die ungeheure Tragweite des Richterspruchs in ihrem Bewusstsein zu verarbeiten. Todesstrafe? Soll es plötzlich zu Ende sein? Wegen leichtfertiger Sprüche in einer geselligen Runde? Die beiden...


Ortner, Helmut
Helmut Ortner, Jahrgang 1950, hat bislang mehr als zwanzig Bücher – überwiegend politische Sachbücher – veröffentlicht, u.a. Der Hinrichter. Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter. Georg Elser und Fremde Feinde. Der Justizfall Sacco & Vanzetti. Zuletzt erschienen Gnadenlos Deutsch (2016), Dumme Wut, kluger Zorn (2018) sowie Ohne Gnade – Eine Geschichte der Todesstrafe (2020). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner lebt in Darmstadt. Er ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiung.
www.helmutortner.de

Helmut Ortner, Jahrgang 1950, hat bislang mehr als zwanzig Bücher – überwiegend politische Sachbücher – veröffentlicht, u.a. Der Hinrichter. Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter. Georg Elser und Fremde Feinde. Der Justizfall Sacco & Vanzetti. Zuletzt erschienen Gnadenlos Deutsch (2016), Dumme Wut, kluger Zorn (2018) sowie Ohne Gnade – Eine Geschichte der Todesstrafe (2020). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner lebt in Darmstadt. Er ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiung.
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