Paley Die kleinen Widrigkeiten des Lebens
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7317-6071-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Storys
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6071-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grace Paley, 1922 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren, war neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in der Friedens-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung aktiv. Sie veröffentlichte zahlreiche Shortstorys und Gedichtbände und erhielt mehrere bedeutende Auszeichnungen und Preise für ihr Lebenswerk. Grace Paley starb 2007 in Vermont.
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Auf Wiedersehen und viel Glück
In bestimmten Kreisen war ich begehrt, sagt Tante Rose. Nicht etwa dünner, nur fester im Fleisch damals. Der Tag wird kommen, Lillie, und dann wundre dich nicht – Veränderungen sind gottgegeben. Verschont bleibt davon keiner. Nur jemand wie deine Mama, die steht auf einem Bein und merkt nicht, wie breit ihr Hintern wird, und singt seit dreißig Jahren dem Kanarienvogel ins Ohr. Wer hört zu? Papa steht im Laden. Du und Seymour, ihr denkt nur an euch selbst. Also wartet sie in einer blitzsauberen Küche auf ein freundliches Wort und denkt: Die arme Rosie …
Arme Rosie! Wenn in meiner kleinen Schwester mehr Leben steckte, wüsste sie, dass mein Herz geradezu eine hohe Schule der Gefühle ist und ihr ganzes Eheleben ein Kindergarten gegen das, was mein Korsett und ich wissen.
Heute gehe ich gern in Hotels, uptown oder downtown. Wer braucht schon eine Wohnung, in der er doch nur wie ein Hausmädchen mit dem Staubtuch in der Hand niest? Mit den Hilfskellnern kann ich bestens, es ist interessanter als zu Hause, alle möglichen Leute mit allen möglichen Beweggründen …
Und meiner ist, Lillie, dass ich vor langer Zeit zur Vorarbeiterin gesagt habe: »Gute Frau, wenn ich nicht am Fenster sitzen kann, kann ich überhaupt nicht sitzen.« »Wenn du nicht sitzen kannst, Fräuleinchen«, sagt sie höflich, »stell dich an die Straßenecke.« Und so bin ich in der Kostüm- und Verkleidungsbranche arbeitslos geworden.
Die nächste Stelle habe ich durch eine Anzeige gefunden, in der stand: »Kultivierte junge Dame, mittleres Gehalt, kulturelle Einrichtung.« Ich bin mit der Straßenbahn zu der Adresse gefahren, der Russischen Künstlerbühne in der Second Avenue, wo sie nur die besten jiddischen Stücke spielten. Sie brauchten eine Kartenverkäuferin, so eine wie mich, die gern in der Öffentlichkeit steht, aber kurzen Prozess macht, wenn ihr jemand dumm kommt. Das Vorstellungsgespräch war bei dem Direktor, ein gewisser Typ Mann.
Er sagte sofort: »Rosie Lieber, Sie sind ja prachtvoll gebaut.«
»Es gibt solche und solche, Mr. Krimberg.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Mädel«, sagte er. »Ich weiß es zu schätzen, ich weiß es zu schätzen. Das Blut einer jungen Dame, der es vorn und hinten mangelt, hat so viel damit zu tun, Zehen und Fingerspitzen zu wärmen, dass es keine Zeit hat, dort zu zirkulieren, wo es am meisten gebraucht wird.«
Jeder freut sich, wenn man freundlich zu ihm ist. Ich sagte zu ihm: »Solange Sie nicht zu forsch sind, Mr. Krimberg, werden wir uns schon einig.«
Und so war’s dann auch: neun Dollar die Woche, jeden Abend ein Glas Tee, einmal in der Woche eine Freikarte für Mama, und Proben konnte ich mir ansehen, wann ich wollte.
Meine ersten neun Dollar waren schon beim Lebensmittelhändler und in Umlauf, da sagte Krimberg zu mir: »Rosie, hier ist ein feiner Herr, Mitglied dieses außergewöhnlichen Ensembles, und er will dich kennenlernen, garantiert, weil er beeindruckt ist von deinen großen braunen Augen.«
Und wer war es, Lillie? Hör genau zu: Wer stand da leibhaftig vor mir? Volodya Vlashkin, den die Leute damals den Valentino der Second Avenue nannten. Ein Blick, und ich fragte mich: Wo ist ein jüdischer Junge bloß so groß geworden? »Bei Kiew«, verriet er mir.
Und wie das? »Meine Mama hat mich gestillt, bis ich sechs war. Ich war der einzige Junge im Schtetl, der vor Gesundheit strotzte.«
»Meine Güte, Vlashkin, sechs Jahre! Sie muss Weizenschrot da gehabt haben statt Brüsten, die arme Frau.«
»Meine Mutter war wunderschön«, sagte er. »Sie hatte Augen wie Sterne.«
Wie er sich ausdrückte! Da kamen einem die Tränen.
Nach diesem ersten Kennenlernen sagte Vlashkin zu Krimberg: »Wer ist dafür verantwortlich, dass dieses wunderbare junge Menschenkind in einem Käfig versteckt wird?«
»In dem Käfig verkauft der Kartenverkäufer die Karten.«
»Na bitte, David, dann geh du dort rein und verkauf eine halbe Stunde Karten. Für die Zukunft dieses Mädchens und dieses Ensembles schwebt mir etwas vor. Geh, David, sei so nett. Und Sie, Miss Lieber, wenn ich bitten darf, ich schlage ein Glas Tee bei Feinberg’s vor. Die Proben sind lang. Ein ruhiges Zwischenspiel mit einem freundlichen Menschen tut mir immer gut.«
Also gingen wir dorthin, zu Feinberg’s, das damals gleich um die Ecke war und so voll mit Ungarn, dass man sein eigenes Wort nicht verstand. Im Hinterzimmer war ein Ehrentisch für Vlashkin reserviert. Auf das Tischtuch hatte die Dame des Hauses Hier speist Vlashkin gestickt. Zuerst schwiegen wir und tranken ein Glas Tee – schließlich hatten wir Durst –, dann wusste ich endlich, was ich sagen wollte.
»Mr. Vlashkin, ich hab Sie vor ein paar Wochen, als ich noch nicht mal hier gearbeitet hab, in der Möwe gesehen. Glauben Sie mir, wenn ich das Mädchen wäre, würde ich den jungen Grünschnabel keine Sekunde lang anschauen. Er könnte auch ganz aus dem Stück rausfallen. Wie Tschechow ihn in dasselbe Stück wie Sie stecken kann, ist mir schleierhaft.«
»Dann habe ich Ihnen gefallen?«, fragte er, nahm meine Hand und tätschelte sie liebevoll. »Ach ja, ja, die jungen Leute mögen mich immer noch … So, und Sie gehen auch gern ins Theater? Fein. Aber Sie, Rose, wissen Sie, Sie haben so eine hübsche Hand, sie fühlt sich so warm an, so schöne Haut, sagen Sie, warum tragen Sie ein Tuch um die Schultern? Sie verbergen ja nur Ihre schöne junge Kehle. Die alten Zeiten, in denen man sich schämen musste, sind vorbei, mein Kind.«
»Wer schämt sich?«, sagte ich und nahm das Tuch ab, doch meine Hand ging wie von selbst dorthin, wo es gewesen war. Denn in Wahrheit waren die alten Zeiten noch nicht vorbei und ich immer noch eine, die vor Scham verging.
»Trinken Sie noch einen Tee, mein Kind.«
»Nein, danke, ich bin schon ein Samowar.«
»Dorfmann!«, kommandierte er wie ein König. »Bring dem Kind ein Selters mit frischem Eis!«
In den nächsten Wochen hatte ich nicht nur die Ehre, ihn als Mensch immer besser kennenzulernen, sondern auch die Gelegenheit, ihn in seinem Beruf zu erleben. Es war Herbst; im Theater ein einziges Kommen und Gehen. Endlose Proben. Nach dem Misserfolg der Möwe lief der Kaufmann von Istanbul mit großem Erfolg.
Die Weiber spielten verrückt. Bei der Premiere fing mitten in der ersten Szene eine an – eine Witwe, oder ihr Mann machte zu viele Überstunden –, jedenfalls fing sie an zu klatschen und zu singen: »Oi, oi, Vlashkin!« Bald herrschte so ein Tohuwabohu, dass die Schauspieler aufhören mussten zu spielen. Vlashkin trat vor. Doch für das Auge nicht Vlashkin … sondern ein jüngerer Mann mit pechschwarzem Haar, lebhaft, ständig in Bewegung, nicht auf den Mund gefallen. Ein halbes Jahrhundert später, am Schluss des Stücks, kam er wieder raus, als grauhaariger Philosoph, der das Leben nur durch Bücherlesen studiert hatte, die Hände seidenweich … Ich weinte, als ich daran dachte, wer ich war – nichts –, und so ein Mann hatte Interesse an mir.
Dann bekam ich eine kleine Lohnerhöhung, weil er netterweise ein Wort für mich eingelegt hatte, und mir wurde für fünfzig Cents den Abend das Vergnügen zuteil, mit entfernten Verwandten und Verschwägerten sowie schlicht theaterbesessenen jungen Leuten in einer Massenszene mitzuwirken und einmal, wie sonst er, Abend für Abend die Hunderte von bleichen Gesichtern zu sehen, die darauf warteten, dass seine Gefühle sie zum Lachen brachten oder dazu, kummervoll die Köpfe zu senken.
Der traurige Tag kam, ich verabschiedete mich mit einem Kuss von meiner Mama. Vlashkin half mir ein günstiges Zimmer in der Nähe des Theaters zu finden, damit ich freier war. Auch damit mein unvergleichlicher Freund einen Ort hatte, an dem er sich fern vom Krach in den Garderoben mal hinlegen konnte. Meine Mama weinte und weinte. »Man lebt heute eben anders, Mama«, sagte ich. »Außerdem treibt mich die Liebe.«
»Dich? Dich? Ein Nichts, ein mieses Loch in einem Stück Käse! Du willst mir was vom Leben erzählen?«, kreischte sie.
Ich verließ sie, tief gekränkt. Aber ich bin gutmütig – das sind dicke Leute nun mal – und lieb, und ich dachte bei mir, arme Mama … Es stimmt, sie hat mehr Ahnung vom Leben als ich. Sie hat jemanden geheiratet, den sie nicht mochte, einen kranken Mann, dessen Geist Gott verschluckt hatte. Er wusch sich nie. Er hatte einen unseligen Geruch. Ihm fielen die Zähne aus und die Haare; er wurde kleiner, verschrumpelte nach und nach, bis er – auf Wiedersehen und viel Glück – verschwand und Mama sich nur an ihn erinnerte, wenn sie zum Briefkasten unter der Treppe ging und die Stromrechnung holte. Seligen Angedenkens an ihn und aus Achtung vor der Menschheit beschloss ich, für die Liebe zu leben.
Lach nicht, du dummes Ding.
Meinst du, für mich war es leicht? Ein bisschen was musste ich Mama geben. Ruthie sparte zusammen mit deinem Papa für Wäsche, ein paar Messer und Gabeln. Wenn ich weiter unabhängig bleiben wollte, musste ich morgens arbeiten. Also machte ich Blumen im Akkord. Bis zum Mittagessen wuchs jeden Tag ein ganzer Garten auf meinem Tisch.
Das war meine Unabhängigkeit, Lillie, Liebes, sie blühte, aber sie hatte keine Wurzeln, und ihr Antlitz war aus Papier.
Inzwischen war auch Krimberg hinter mir her. Als er mitkriegte, dass Vlashkin es geschafft hatte, dachte er bestimmt: Aha, Sesam, öffne dich … Andere...