Pausewang | Adi - Jugend eines Diktators | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Reality

Pausewang Adi - Jugend eines Diktators


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-473-47530-8
Verlag: Ravensburger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Reality

ISBN: 978-3-473-47530-8
Verlag: Ravensburger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Adolf Hitler: die unglaublichste, die unbegreiflichste Figur der deutschen Geschichte, wohl nicht nur des 20. Jahrhunderts. Wie war dieser 'Adi' als Jugendlicher, als Sohn, Klassenkamerad, Freund?

Gudrun Pausewang wurde 1928 als das älteste von sechs Kindern in Wichstadtl (Ostböhmen) geboren. Ihr Vater kam 1943 in Russland um und ihre Mutter musste nach Kriegsende mit den sechs Kindern in den Westen fliehen. Gudrun Pausewang hat - neben Romanen für Erwachsene - zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, in denen sich ihre Erfahrungen und die Betroffenheit über die Armut in Südamerika, das Schicksal von Flüchtlingen und über die atomare Bedrohung niederschlagen. Sie engagierte sich in ihren Büchern für den Frieden, die Umwelt und soziale Gerechtigkeit sowie für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Dritten Reich. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, dem Bundesverdienstkreuz und dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. 2017 erhielt sie für ihr Gesamtwerk den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Am 23. Januar 2020 verstarb Gudrun Pausewang.
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Steyr, 11. Februar 1905. Wieder ein trüber Tag. Schmutziger Schnee lag an den Straßen- und Wegrändern. Die Eiszapfen schmolzen.

Der Junge hatte sich von den übrigen Klassenkameraden abgewandt und starrte das Zeugnis an, das in seiner Hand zitterte.

Er hatte diesmal so fest mit einem guten Zeugnis gerechnet. Mindestens aber mit einem Zeugnis ohne ein so gefährliches NICHT GENÜGEND in irgendeinem Fach. NICHT GENÜGEND – das war eine Fünf.

Ganz im Inneren hatte er sogar auf ein Zeugnis ohne ein GENÜGEND gehofft. Denn mit einer Vier ließ sich ja auch nichts hermachen.

VORZÜGLICH, LOBENSWERT, BEFRIEDIGEND, GENÜGEND, NICHT GENÜGEND: eine Leiter hinunter in die Hölle oder hinauf in den Himmel, je nachdem, in welche Richtung man sie nahm.

Das Großgedruckte oben auf dem Blatt verschwamm ihm vor den Augen. Er wusste auch so, was da stand, denn es war bei allen Schülern das Gleiche: Realschule Steyr, Schuljahr 1904/1905, Halbjahreszeugnis.

Aber was dann folgte – darauf kam es an: der Name des Schülers und seine Noten, in der Handschrift des Lehrers. Diese unfähige Lehrerbande! Hätte sie auch seine Gedanken, seine Träume, seinen zukünftigen Ruhm benotet, dann hätte sein Zeugnis nur die Noten VORZÜGLICH und LOBENSWERT enthalten. Er hatte doch so viel nachgedacht. Nicht etwa über Kinderkram oder Weiber, sondern über Kunst. Und über das Vaterland. Und Richard Wagner. Und wie der Mensch leben soll und wofür. Er hatte so viele kühne Pläne geschmiedet!

Stattdessen das: drei Fünfer. In deutscher Sprache, Mathematik und Stenografie. Und auch sonst, außer Freihandzeichnen und Turnen, nichts, womit man sich sehen lassen konnte.

Er schaute sich verstohlen um. Da standen sie herum, die anderen, strahlten oder runzelten die Stirn, drängten sich zusammen, verglichen. Hier ein Jubelschrei, dort ein finsteres Grollen. Aber der dort, der grollte schon bei einer Drei. Mit einer Drei gingen bei dem schon die Lichter aus!

Drei Fünfer. Er spürte eine unbändige Lust, Scheiben einzuschlagen, zu brüllen, jemanden niederzuschlagen und zu treten. Lehrer. Ja, Lehrer! Dieses ganze verdammte Lehrerpack!

Dreimal NICHT GENÜGEND – die schlechteste Note, die es gab. Ein Zeugnis, das – glaubte man den Noten – einem hohlköpfigen Trottel zu gehören schien, der allenfalls trainierte Muskeln vorweisen konnte!

Er schnaubte empört durch die Nase: Sittliches Betragen – befriedigend! War er etwa betrunken durch die Stadt getorkelt? Hatte er Fensterscheiben eingeworfen? Beim Bäcker eine Semmel stibitzt? Sich mit Mädchen herumgetrieben?

Nichts dergleichen.

Natürlich, sein Fleiß war nicht immer so gewesen, wie ihn sich zum Beispiel der Mathematik- oder Chemielehrer wahrscheinlich gewünscht hätte. Er war oft ohne Hausaufgaben in den Unterricht gekommen, hatte nachmittags daheim nicht oder kaum geübt, hatte die Lektionen nicht gelernt.

Er nahm eben Mathematik, Chemie, Grammatik oder Religion nicht so wichtig, wie Lehrer das taten. Das war doch wohl sein gutes Recht – oder? Schließlich war er schon bald sechzehn!

Ein Jahr zu alt für seine Klasse.

Einmal sitzen geblieben.

Er erinnerte sich nicht gern daran, dass er in Linz die erste Realschulklasse hatte zweimal durchlaufen müssen, wegen NICHT GENÜGEND in Mathematik und Naturwissenschaften. In der zweiten Klasse hatten seine Mathematikleistungen dem Lehrer wieder nicht genügt. Nur über eine Nachprüfung, die er bestand, war er in die dritte Klasse aufgenommen worden.

Aber am Ende des Schuljahres hatte er ein NICHT GENÜGEND in Französisch bekommen. Er hatte eben nur selten Vokabeln gelernt. Vokabeln lernen – was für eine öde Beschäftigung! Hatte man nicht Recht, wenn man sich ihr verweigerte? Es gab so viel Wichtigeres!

Wieder eine Nachprüfung. Er hatte das »Bestanden« erhalten, allerdings unter der Bedingung, dass er auf eine andere Schule überwechselte.

Auf eine für ihn so entwürdigende Weise hatte sich die Linzer Schule also seiner entledigt, hatte ihn abgeschoben. Ihn, in dem doch so viele Talente schlummerten! Das würde denen noch einmal Leid tun!

Die nächstgelegene Realschule befand sich in Steyr, rund dreißig Kilometer von Linz entfernt. Hier hatte ihn die Mutter für das neue Schuljahr angemeldet, und hier hatte er nun eine halbes Schuljahr verbracht.

Es war eine angenehme Zeit gewesen, was die Schule betraf. Während der Linzer Schuljahre hatte die Mutter immer gedrängt: »Lern doch, Adi, mach deine Aufgaben. Was? Keine auf? Das gibt’s doch nicht. Bitte, Adi, gib dir Mühe, damit du nicht schon wieder ein Jahr – ach Adi, ich mein’s doch nur gut!«

Hier in seinem Steyrer Quartier bei der Familie Cichini hatte sich niemand um seine Hausaufgaben gekümmert. Er bekam genug zu essen, hatte eine warme Stube und ein Bett, das alle vier Wochen frisch bezogen wurde. Mehr Service war im Preis nicht inbegriffen.

Über die Wochenenden fuhr er immer heim zur Mutter. Aber nach Möglichkeit unterließ er es, mit ihr über das leidige Thema Schule zu reden. Die Mutter war ja so glücklich, so selig, wenn er daheim war. Sie wusste, dass sie ihn mit Fragen nach seinem Fleiß und seinem Stand in der Schule verärgerte. Deshalb ging sie diesem Thema ebenfalls aus dem Weg.

Und sie hätte von ihm ja doch nur zu hören bekommen, dass alles in bester Ordnung sei und er von den Lehrern immer gelobt werde.

Er war ihr Liebling, ihr ganzer Stolz. Ja, gewiss, da war ja auch noch die Paula, die Kleine. Aber eine ernste Konkurrenz – sie? Oh nein. Sie war ja nur ein Mädchen und erst neun …

Ach ja, die Mutter. So eine Mutter gab’s kein zweites Mal. Er lächelte, als er an sie dachte. Trotz allem lächelte er. Sie schimpfte nicht gern. Am liebsten lehnte sie ihren Kopf an seinen Kopf und fragte gar nichts.

Der Vater war ganz anders gewesen. Aber er lebte ja nicht mehr. Seit seinem Tod ließ sich das Leben leichter ertragen. Gegen schlechte Zeugnisse war er so allergisch gewesen! Er hatte sich nicht ablenken lassen, hatte gefragt und klare Antworten verlangt.

Was Adi jetzt schwarz auf weiß in den Händen hielt, ließ sich nicht verdrängen, ließ sich nicht schönreden. Wie sollte er damit umgehen? Die Lage war zu ernst, als dass man sie mit einem Armschlenker abtun konnte. Denn dieses Zeugnis bedeutete: Adis Leistungen mussten sich bis zum Schuljahresende wesentlich bessern. Sonst würde ihm die Chance einer Nachprüfung im Herbst, zum nächsten Schuljahresbeginn, nicht gewährt werden. Daran änderte auch nichts, dass Stenografie nur ein Wahlfach war. Zwei Fünfer in Pflichtfächern genügten, um sitzen zu bleiben.

Ein Mitschüler spähte über Adis Schulter: »Lass sehen – wie schaut’s denn bei dir aus?«

Adi gab ihm einen groben Stoß und versteckte das Blatt hinter seinem Rücken: »Das geht dich einen Dreck an!«

Nein, so ein Zeugnis konnte er niemandem zeigen. Ein Glück, dass jetzt der Unterricht aus war. Er stürmte aus dem Schulgebäude. Mistschule! Scheißschule!

Draußen vor dem Eingang war schon fast die ganze Klasse versammelt.

»Kommst du mit, Adi?«

Eigentlich hatte er vorgehabt, schon am frühen Nachmittag heimzufahren nach Linz. Aber er konnte ja auch einen späteren Zug nehmen. Jedenfalls wollte er sich nicht ausschließen, wenn die anderen das Ende des Halbjahres feierten. Und überhaupt: So ein Zeugnis musste man erst einmal verdauen. Hierfür war ein Marsch durch die frische Luft gerade das Richtige.

Adi brauchte nicht zu fragen: »Wohin geht’s denn?« Er wusste, dass seine Klassenkameraden eine Bauernwirtschaft im Auge hatten, in sicherem Abstand von der Stadt. Der Wirt hielt dicht.

Lärmend zogen sie in Richtung Garsten los. Adi faltete sein Zeugnis zusammen und steckte es in die Jackentasche. Dann lärmte er mit, gestikulierte, klopfte Sprüche.

Nur nicht daran denken.

Die Schar war schon von weitem zu hören. Krähenschwärme flatterten auf, alle Hunde des Dorfes, das die ausgelassene Bande ansteuerte, gerieten außer sich. Und dann stürmten die Burschen mit Gebrüll und überdrehter Laune in das Wirtshaus: »Bier her!«

Wirt und Wirtin waren zu Diensten und taten, als sähen sie nicht, dass ihre Gäste noch halbe Kinder waren. Nur zu, nur immer getrunken! Die Kasse klingelte.

Adi hatte kaum je ein Bier getrunken. Höchstens einen kleinen Schluck, den er aus dem Seidel seines Vaters hatte schlürfen dürfen. Eigentlich schmeckte ihm das Gesöff gar nicht. Aber es gehörte wohl zum Erwachsenwerden. Und so bestellte auch er ein Bier.

Er wurde schweigsam, lehnte sich zurück, alles drehte sich um ihn. An das, was danach geschah, konnte er sich nur schemenhaft erinnern: Im Lauf des Spätnachmittags und Abends hatte er noch ein zweites, vermutlich sogar ein drittes Bier getrunken. Aufgenötigt von anderen, die schon mehr Alkohol vertrugen. Einmal hatte er versucht, die Wirtschaft so aufrecht, wie ihm noch möglich war, zu verlassen. Offensichtlich war er daran gehindert worden. Jedenfalls hatte er dort dann doch die Nacht verbracht. In der Wirtsstube? In einem Strohhaufen im Stall?

Erst am nächsten Morgen war er aufgebrochen. Ihm war hundeelend gewesen. Nur eine Empfindung hatte ihn getrieben: Schnell fort, bevor etwas passierte! Bevor er sich maßlos blamierte!

Der Magen streikte....


Pausewang, Gudrun
Gudrun Pausewang wurde 1928 als das älteste von sechs Kindern in Wichstadtl (Ostböhmen) geboren. Ihr Vater kam 1943 in Russland um und ihre Mutter musste nach Kriegsende mit den sechs Kindern in den Westen fliehen. Gudrun Pausewang hat - neben Romanen für Erwachsene - zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, in denen sich ihre Erfahrungen und die Betroffenheit über die Armut in Südamerika, das Schicksal von Flüchtlingen und über die atomare Bedrohung niederschlagen. Sie engagierte sich in ihren Büchern für den Frieden, die Umwelt und soziale Gerechtigkeit sowie für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Dritten Reich. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, dem Bundesverdienstkreuz und dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. 2017 erhielt sie für ihr Gesamtwerk den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Am 23. Januar 2020 verstarb Gudrun Pausewang.

Gudrun Pausewang wurde 1928 als das älteste von sechs Kindern in Wichstadtl (Ostböhmen) geboren. Ihr Vater kam 1943 in Russland um und ihre Mutter musste nach Kriegsende mit den sechs Kindern in den Westen fliehen. Gudrun Pausewang hat - neben Romanen für Erwachsene - zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, in denen sich ihre Erfahrungen und die Betroffenheit über die Armut in Südamerika, das Schicksal von Flüchtlingen und über die atomare Bedrohung niederschlagen. Sie engagierte sich in ihren Büchern für den Frieden, die Umwelt und soziale Gerechtigkeit sowie für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Dritten Reich. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, dem Bundesverdienstkreuz und dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. 2017 erhielt sie für ihr Gesamtwerk den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Am 23. Januar 2020 verstarb Gudrun Pausewang.



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