E-Book, Deutsch, 268 Seiten
Pitt Der Schwanenvater
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-5282-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
ISBN: 978-3-7534-5282-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Muss man Göttinnen lieben? Man dient ihnen." In der Not der Nachkriegszeit heiratet ein Arbeiter die unversorgte Witwe eines Oberregierungsrats der Gestapo, die zwei kleine Töchter in die Ehe bringt. Der Mann, in einem Fürsorgeheim aufgewachsen, schafft seiner Familie ein Paradies nach seiner Vorstellung. Trotz ihrer Liebe zum Stiefvater besinnen sich die Töchter in ihren Karriereplänen - Heirat in eine Unternehmerdynastie hier, eine akademische Laufbahn da - auf den gesellschaftlichen Status des leiblichen Vaters: sie "schneiden und radieren" den Stiefvater aus den Dokumenten ihres Lebens. Der Schwanenvater, von seiner Frau schon getrennt, bricht den Kontakt zu seinen Töchtern ab.
Pitt ist ein fiktiver Autor, der seit Jahrzehnten von Armin Peter, geboren 1939 in Hannover, in Hamburg lebend, bewegt wird. Pitt veröffentlichte zuletzt "Die Heimsuchung des Lesers" (2020) und "Wir ungläubigen Christen" (2019). Informationen über die Publikationen bei der Agentur am Aspersort.
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Ein Zaungast
Sollte er nicht vorn stehen, neben den Töchtern? Hatte er in den letzten zehn Jahren dem Toten nicht näher gestanden als die beiden Damen, die den Vater lange nicht gesehen haben? Der Trauerredner ist falsch instruiert. Oder trägt er einfach einen Standardtext vor? Die Formel von der Geborgenheit des Menschen in der Liebe der Familie passt nicht, nicht hier. Hier hatte es einen Bruch gegeben, den zu erklären jeder Redner, wohl auch einer im Ornat, überfordert gewesen wäre. Wie gern hätte er dem Redner einen kleinen Text geschrieben! Keiner, außer den Damen in Grau und Schwarz, niemand in der kleinen Trauergemeinde, wusste etwas über das Leben des Verstorbenen, auch nicht der junge Kassierer aus dem SPD-Distrikt, der seinem alten Vorgänger das Gesteck aufs Grab gelegt hat, nicht das halbe Dutzend der Bewohner des Farmsener Pflege- und Altenheims, das den Hausgenossen seit wenigen Monaten kennt, nicht der Schatzmeister, dem Pitt den dezenten Wink gegeben hatte, er könne eine hübsche Erbschaftsspende für den Freundeskreis des Pflegeheims erwarten. Eine Rede am Grab darf kurz sein, für die Kapelle 13 hätte der Stoff nicht gereicht – wenn Heinrich Langhans sie überhaupt gewollt hätte. Pitt hat sich an das Blütengewölbe des Rhododendronwalls gestellt, hinter dem das Gebrumm des Linienbusses 270 auf der Lärchenallee des Ohlsdorfer Friedhofs während der Zeremonie nur ein einziges Mal zu hören gewesen war. Von hier aus kann der Zaungast unauffällig die beiden Töchter beobachten. Sie interessieren ihn jetzt mehr als der alte Mann in der Grube. Während die Trauergäste für ihre Beileidsbekundungen an die Töchter herantreten, beschließt Pitt, sich seiner Kondolenzpflicht zu entziehen. Er drückt sich an der Blütenwand entlang auf den Rasen, auf dem nur wenige Steine aus kissengroßen Blumenbeeten ragen, geht rasch quer über die Gräberbrache, als könne er den Parkplatz an der Allee nicht schnell genug erreichen. In der Lärchenallee setzt Pitt sich in sein Auto. Um seinen Plan zu erfüllen, muss er warten, bis das Grab verlassen ist. Er ist ein bisschen unruhig, weil er mit den Gepflogenheiten nicht vertraut ist: stehen schon die Totengräber an den Büschen, räumen sie schon die grünen Kunststoffteppiche und die Bretter der Randbefestigung fort? Wann poltert es auf den Deckel? Er will dem Toten ein Geschenk ins Grab werfen, das er dem Lebenden einmal versprochen hat, ein kleines Buch. Doch er will das unbeobachtet tun. Der Redner sitzt noch in seinem Auto in der Allee, gegenüber dem Wegweiser zum Prominentengrab des Heinz Erhardt, und kramt im Handschuhfach, vielleicht nach dem Manuskript für den nächsten Termin. Die Heimbewohner sammeln sich an der Bushaltestelle, ein Uralter darunter, der von zwei Mitbewohnern an den Oberarmen gestützt wird. Der Redner fährt ab, und Pitt schaut ihm im Spiegel nach, bis er in die Seehofstraße zum Bramfelder See abgebogen ist. Er will noch die Abfahrt des Busses abwarten. In der Allee stehen nur drei Autos, außer seinem. Ein silbergrauer BMW der Siebenerreihe trägt das Ortskennzeichen WI. Das wird der Wagen der ältesten Tochter sein, der Helga aus Oestrich- Winkel. Kein Frankfurter Wagen. Die Hannelore wird im Wagen ihrer Schwester gekommen sein. Wo sind die beiden? Er blättert in dem Büchlein, das er Heinrich Langhans ins Grab werfen will, und betrachtet die Stiche, die den Leser auf die drastischen Schwänke einstimmen. Die Fastnachtsspiele des Hans Sachs hatte er Heinrich Langhans zu Weihnachten schenken wollen, für seine Sammlung. Der hatte Anfang Dezember einen leichten Schlaganfall erlitten, und seit seiner Entlassung aus dem Barmbeker Krankenhaus hatte er im Farmsener Pflegezentrum gelebt, depressiv, misslaunig, gar nicht wiederzuerkennen. Pitt hatte bessere Tage abwarten sollen, um ihm das gewiss willkommene Geschenk zu machen. Heute ist kein besserer Tag, doch sein Geschenk soll Heinrich Langhans erhalten, jetzt. Es gab keinen törichten Grund mehr zu warten. Die Schwestern sprechen lebhaft miteinander. Streiten sie sich? Hannelore Wefers bleibt immer wieder stehen, in der Erstarrung eines Filmstops. Helga Jahn fasst ihre Schwester am Arm, als wolle sie die Lähmung lösen. Sie ist fast einen Kopf größer als die Schwester. Unter dem flauschigen, lang fallenden dunklen Mantel ist eine füllige Figur zu ahnen, ein breites, dichtes Blond liegt auf dem Schultertuch der Sechzigjährigen, die das frische faltenfreie Gesicht einer Vierzigjährigen hat. Die Jüngere, die Hannelore, wirkt älter. Ihr hageres Gesicht ist eingeschlossen von grauem glatt-flachen, leicht strähnig wirkenden Haar. Aus der Jacke des dunklen Kostüms treten die Schultern eckig hervor. Die Frauen gehen zum BMW, steigen jedoch nicht ein. Der heftige Wortwechsel setzt sich fort. Neugierig senkt Pitt die Scheibe eine Handbreit ab, doch die Worte verwehen. Helga Jahn öffnet den Kofferraum und nimmt ein großes Blumengesteck heraus. Sie geht schräg über die Allee. „Komm endlich!“, ruft sie, schon auf dem Seitenweg, zu ihrer Schwester hinüber, die schon die Autotür geöffnet hat. Die zieht die Schultern so hoch, dass der Riemen ihrer Beuteltasche wie auf einem Kleiderhaken liegt, und setzt sich auf den Beifahrersitz. Helga Jahn verschwindet im Seitenweg. Sie wird, vermutet der Zaungast, zum Grab der Mutter gehen. Pitt fährt zur Eichenallee und über die Kapelle 13 zur Mittelallee, um die Seehofstraße zu zu erreichen, von der es nicht weit zum Grab ist. Die Arbeiter machen sich schon am Grab zu schaffen. Auf dem lehmig zertretenen Rasen liegt ein Holzkreuz mit der Aufschrift: Heinrich Langhans 1913–1999. Bretter knallen auf einen Karren. „Zu spät gekommen?“, fragt ein Arbeiter teilnahmsvoll. „Sollen wir aufhören?“ Auf der dunklen Schleife des Wagenradkranzes aus Rosen und Lilien steht in goldenen Buchstaben: Unserem guten Vati Helga und Hannelore. Die beiden Arbeiter – nennt man sie nicht Totengräber? – stehen unschlüssig auf ihre Schaufeln gestützt. Pitt schaut in die Grube. Der Sand und die Blütenblätter auf dem hellen Holz erinnern ihn an die Keksteller auf dem Tablett, das Heinrich Langhans so oft in seinen Pavillon getragen hat. Etwas verwirrt klopft Pitt mit der Linken auf den harten Buchdeckel in seiner Brusttasche. Er mag das Büchlein nicht hinabwerfen: er will nichts erklären. „Ein Verwandter?“, fragt der redselige Arbeiter. Pitt nickt. „Unser Beileid“. Wenn er es recht bedachte, ja, ein Verwandter. „Danke“. Beinahe hätte Pitt „ein Freund“ gesagt. „Wissen Sie“, hört er sich sagen, „er hat es immer schwer gehabt in seinem Leben.“ Der Redselige sagt: „Na, das ist ja nun vorbei. Bei uns in Ohlsdorf haben’s alle gut. Können wir dann?“ Der Lehmhaufen stürzt wie von Geisterhand bewegt auf den Sarg, die Hülle des kleinen dürren Körpers. Der steckt in einem dunkelblauen Anzug. Aus einem viel zu weiten Kragen ragt ein rhombuseckiger Kopf, der Borsten drahtigen Haares über Ohren legt, die in unterschiedlichen Winkeln zum Gesicht stehen. Es ist in den letzten Jahren so hutzelig geworden, dass es nur noch aus einem Stirndreieck und der scharf gezeichneten Nasenpyramide zu bestehen scheint. Pitt bleibt in der Nähe des Grabes stehen, bis die Arbeiter die Lehmerde zu einem kunstvollen Sargdeckel festgeklopft haben. An seiner glatten Perfektion hätte Heinrich Langhans seine Freude gehabt: gerade gezogene Kanten wie auf dem Spargelbeet, ebene Flächen. Einer rammt das Holzkreuz in den weichen Grund. Der andere legt die Kränze auf den Hügel und strählt die Schleifen. Die Goldlettern auf der dunklen Schleife des Riesenkranzes leuchten tief in der Sonne. Pitt richtet zwei müd gewordene Nelken auf dem Parteigebinde, das er ja auch mitbezahlt hat, und er fühlt sich ein bisschen beschämt, dass er der Gärtnerei einen anonymen Kranz in Auftrag gegeben hat. Was könnte auf seiner Schleife stehen? An seinem Wagen in der Allee stehend, ist Pitt in der Versuchung, ein Zigarillo zu rauchen, und er hält den Stängel – Rauchen auf dem Friedhof, auch wenn der ein großer verkehrsreicher Park ist? – unschlüssig in der Hand. Er hat den Wiesbadener Wagen nicht kommen sehen. Sein Schlag öffnet sich. „Entschuldigen Sie, mein Herr!“ Pitt steckt die Hand mit dem Zigarillo blitzschnell in die Manteltasche. „Ja, bitte.“ Jetzt erst erkennt er die Blonde, Helga Jahn, die ihren Körper mit einer gewissen Anstrengung aus dem Wagen hebt. „Mein Herr, haben Sie nicht eben an der Beisetzung meines Vaters teilgenommen? Entschuldigen Sie, aber wir möchten doch – “. Sie steht vor Pitt und sieht ihn mit forschenden Augen an. Die Unternehmerin. Ihr Blick fragt: warum stehen Sie hier herum? Die Schwester im Wagen schüttelt mit abweisend verzerrtem Gesicht den Kopf. Pitt fühlt sich in seiner Verlegenheit klein vor der stattlichen Dame, die ihn unbarmherzig anblickt, eine strenge Frage in den Augen, kräuselndes Misstrauen auf der Stirn über der Nasenwurzel. „Sie waren das, nicht wahr? Vorhin am Grab. Haben Sie meinen Vater gekannt? Ich bin...




