E-Book, Deutsch, 228 Seiten
Pitt Menschen im Nahverkehr
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7557-7503-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
ÖPNV-Reportagen
E-Book, Deutsch, 228 Seiten
ISBN: 978-3-7557-7503-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In 44 Reportagen erzählt Pitt von seinen Begegnungen und Erlebnissen in U-Bahnen, S-Bahnen, Stadt- und Straßenbahnen und Bussen in den Nahverkehrssystemen verschiedener Städte und Regionen. Er ist seit Jahrzehnten ein passionierter Nutzer des so genannten ÖPNV, des öffentlichen Personennahverkehrs, und genießt seine kurzweiligen Reisen. Es ist erstaunlich, wie nah sich fremde Menschen in Bahnen und Bussen kommen und wieviel sie voneinander erfahren. Der Autor wirbt auch für die Fahrten im Nahverkehr, der nach dem Willen aller Ökologen seinen Anteil am gesamten Verkehr, der die Umwelt stark belastet, wesentlich erhöhen soll. Die alltäglichen Fahrten für Beruf, Einkauf, Sport, Freizeit und Kultur werden in Pitts Beobachtungslust spannend und vergnüglich. Aus der Neugier auf die Mitreisenden entwickeln sich sympathische Elemente einer Philosophie der Verträglichkeit.
Pitt ist ein fiktiver Autor, der seit Jahrzehnten von Armin Peter, geboren 1939 in Hannover, in Hamburg lebend, bewegt wird. Er veröffentlichte zuletzt den Roman "Der Schwanenvater" (2021) und den Essay "Die Heimsuchung des Lesers - Literaturgeschichten" (2020). Informationen über alle Publikationen von Pitt und Armin Peter auf der Webseite der Agentur am Aspersort.
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Der Zugvogel
Der Junge mit dem Vogelgesicht war Pitt schon am Hauptbahnhof aufgefallen, vor der Fahrplantafel. Er hatte den schmalen Kopf weit in den Nacken zurückgelegt, ja, seine Schnabelnase, sein ramponierter Rucksack, seine zerfetzten Jeans, erinnerten an eine Amsel, die ihr Kleid geplustert hat. Da die S 1 eingelaufen war, hatte Pitt seinen Impuls, dem jungen Mann seine Informationshilfe anzubieten, unterdrücken müssen. Er war eingestiegen, und der junge Mann war ihm gefolgt, hatte sich jedoch, umkehrend, gegen die Traube der Einsteigenden auf den Bahnsteig am Gleis 2 gedrängt, war ein paar Schritte unschlüssig hin und her gehastet und, wie von blitzartiger Eingebung erhellt, zwischen die zusammenschnappenden Türflügel in den Waggon gesprungen. Sein Rucksack hatte sich verklemmt, doch der Gefesselte hatte sich erfolgreich losgerissen und den zwei hilfreichen Fahrgästen, die sich an den Türgriffen zu schaffen gemacht hatten, mit einem verwirrten Lächeln gedankt. Wirklich, ein Vogelgesicht. Ein dunkler, zum Hahnenkamm getrimmter Schopf mit spröden Seitenfedern und gespreizter Halskrause, eng zusammenstehende, von schweren, wimpernlos wirkenden Lidern beladene schwarze Augen, der schmallippige Mund in tiefen Wangenkerben und schwarzen Bartstoppeln eingesunken. Die Figur schmal zierlich, schier ohne Hüften, die Flamingobeine in Jeansröhren, die über den Eulenspiegelschuhen wie das Beingefieder eines Mäusebussards ausfransten. Die vogelartige Erscheinung in seinem Blickfeld faszinierte Pitt. Sie bestätigte seine Erfahrung, dass der Mensch in seiner körperlichen Erscheinung Ausdruck eines inneren seelischen Formprinzips sei, das allen Einzelzügen vom Scheitel bis zur Sohle eine zusammenklingende, in ästhetischer Logik zusammenpassende Prägung gibt, in der kein Detail anders geformt sein könnte, ohne die Erscheinung zu stören. Der Junge spähte zum Fenster hinaus, blickte Fahrgästen fragend fordernd und doch ausweichend ins Gesicht, schaute zur Decke und zum Boden und studierte grimassierend den Netzplan an der Decke. Hinter dem Berliner Tor holte er schließlich einen zur Losgröße gerollten Zettel aus der Brusttasche, entfaltete ihn, glättete ihn zwischen der langknochigen Hand und dem kantigen Oberschenkel und hielt ihn dem neben ihm stehenden Fahrgast vors Gesicht. Pitt konnte nicht hören, was er sagte. Der angesprochene Fahrgast schüttelte bedauernd den Kopf. Vielleicht ein gerade eingetroffener Wanderarbeiter aus dem Ausland? Man trifft sie ja nicht selten im Nahverkehr: Sie haben einen Zettel mit einer oft unleserlichen Adresse in der Hand, hingeschmiert mit einem Bleistiftstummel, die Schrift verwischt durch häufiges Betasten. Selten finden sich Fahrgäste, die auf Anhieb einen Straßennamen mit einer S-, U- oder Busstation in Verbindung bringen können. Sie beugen sich über den Zettel, rätseln beratschlagend. Ist der Fragende im falschen Zug: wie ihm erklären, wo er aus- und umsteigen, zurückfahren, welche Linie er zu suchen oder zu erfragen habe. Das wird konfus, wenn eine Fremdsprache ins Spiel kommt. Nie erleben Menschen es schmerzlicher, keine gemeinsame Sprache zu haben, als wenn sie in die Rolle eines Fremdenführers gedrängt werden, der sie kommunikativ nicht gewachsen sind. Auch Pitt sah sich zur Orientierungshilfe aufgerufen, hoffte aber, ein anderer Fahrgast möge sich des jungen Mannes annehmen, so wie man Ausschau hält nach einem Jüngeren, der vielleicht so sportlich ist, einem älteren Menschen den Platz anzubieten, den man selbst nicht so gern preisgeben möchte. Er fühlte sich erleichtert, als er sah, dass sich der Junge mit seinem Zettel an eine ältere Dame wandte, die, während sie in der Handtasche nach der Brille suchte, mehrere Male laut und etwas erregt fragte: „Parlez-vous français?“ Die glückstrahlende Antwort als jubelnder Vogellaut: „Oui, oui, Madame, je suis français!“ Er beugte sich zu der Dame, die sich den Anschein der Ortskunde gegeben hatte, in erwartungsvoller Haltung hinab, streifte mit seinem Hahnenkamm fast die Krempe ihres Hutes und wurde von einer leichten Bewegung der Hand, in der jetzt eine Brille lag, zurückgescheucht. Die Dame studierte den Zettel und ihre Brauen schoben sich hoch hinauf in den Hut. „Vous“, sagte sie, „vous“, noch einmal „vous“, suchte mit mahlenden, sich pressenden Lippen ein passendes Wort, suchte es irgendwo am Fensterrahmen, lächelte hilflos und unternahm laut einen neuen Anlauf in einem Geprassel platzender Silben: „vous, vous, vous …“ Vielleicht machte sie zum ersten Mal in ihrem Leben von Schulkenntnissen Gebrauch, vielleicht traute sie sich nicht, ihre in acht Semestern in intim-geselliger Runde an der Volkshochschule erworbene Geläufigkeit in der französischen Sprache auf öffentlicher Bühne zur Schau zu stellen, leider, die Hemmung blieb unüberwindbar. Angstvoll spähte der Junge mit dem Vogelgesicht in das Gesicht der Dame, die ihre Brille jetzt beschämt abweisend in die Handtasche zurückschnappen ließ. Er zog sich, rückwärts gehend, zurück: ein Vogel, vielleicht eine Ente, die vor dem Gebell eines gutmütigen Hundes unsicher das Weite sucht. Er zog sich weit aus der Gefahrenzone zurück und kam erst neben Pitts Platz zum Stehen. Stumm hielt er Pitt seinen Zettel hin. In großen Buchstaben: BALE, nichts als BALE. Was heißt BALE? Pitt legte den krumpeligen Zettel wie ein Lesezeichen in sein Buch und grübelte. Ein Firmenname? Eine Straße eher, ja. Der karierte Zettel war ein Ausriss: sollte sich die Bedeutung von BALE aus einer verlorenen Zettelhälfte erklären? Vielleicht ein verballhorntes Blankenese, ein Ballindamm, oder? „Bale“, sagte Pitt, und er zog die Luft tief ein, als wollte er das Aroma dieses seltsamen Wortes voll auskosten. „Oui, bale“, antwortete der Junge freudig erwartungsvoll. Ein einsilbiges Wort. „Geben Sie mal her“, sagte die Dame, die neben Pitt am Fenster saß. Sie hatte ihm ihren grauen Bubikopf, der so konzentriert in den großformatigen ZEIT-Blättern gesteckt hatte, schon während seiner Grübelei in belustigtem Lächeln zugewandt. Sie nahm den Zettel aus Pitts Buch und warf einen streng prüfenden Blick darauf. „Bale, le nom d’un hôtel, n’est-ce pas?“ und, halb Pitt zugewandt, „Basler Hof, an der Esplanade“. Der Junge mit dem Vogelgesicht, der die findige Dame anstrahlte, protestierte entgegenkommend: „Non, Madame, Bâle, Suisse!“ Die Dame nahm die Korrektur so gelassen hin, als sei sie zwischen Hasselbrook und Landwehr nach dem Weg zum Bahnhof, nicht dem nach Basel gefragt worden. Die ZEIT-Leserin griff über Pitt hinweg, packte den jungen Mann am Handgelenk, zog ihn zu sich herüber und drückte ihn auf den ihr gegenüberliegenden Sitz. Sie überschüttete ihn mit Fragen in einem leicht hinfließenden Französisch, dem ihr offensichtliches Amüsement noch mehr Schwung verlieh. Wie beneidete Pitt seine Nachbarin! Die Antworten des Jungen, die aus seinem kaum bewegten Schnabelmund kamen, verstand Pitt nicht, nur wenn seine Nachbarin die Antworten fragend nachdenklich wiederholte oder in neuen Fragen aufnahm, konnte er dem Frage-und-Antwort-Spiel folgen. Er verstand, der Junge, ein achtzehnjähriger Koch aus Reims, sei auf dem Weg zu einem Freund in Basel, der ihm eine verheißungsvolle Stelle in der berühmten Schweizer Gastronomie in Aussicht gestellt habe. Auto-stop, hörte er. Auch wenn er sich vorstellen konnte, dass man als Anhalter – er hatte es nie ausprobiert – nicht immer die freie Wahl der Route, der Zeit, des Fahrzeugs hatte: warum jemand per Autostop von Reims nach Basel über Hamburg-Hasselbrook fährt, fand er nicht leicht begreifbar. „Sagen Sie, der junge Mann stellt sich wohl am besten an die Autobahn, wie?“ Wahrscheinlich. Aber wo? Dass es so viele leichte Fragen gibt, die so schwer zu beantworten sind! Richtig, Autobahn. An der Auffahrt soll die Anhalterei verboten sein, hatte Pitt gehört. „Die meisten Anhalter stehen an der Raststätte Stillhorn“, sagte er, „meine ich.“ „So. Meinen Sie? Stillhorn? Wie soll er da hinkommen?“ Und laut fragte sie in den Waggon hinein: „Wie kommt man nach Stillhorn, zur Raststätte?“ Es ist in allen Großstädten, die über ein gut ausgebautes, verzweigtes, subtil verflochtenes Nahverkehrsnetz verfügen, ein beliebtes Gesellschaftsspiel an der Kaffeetafel, seltener am Stammtisch oder an der Kegelbahn, über zeitlich, räumlich und wirtschaftlich optimale Bahn- und Busverbindungen zu diskutieren. Viel Hilfsbereitschaft, viel Besserwisserei, viel Schadenfreude spielen mit, wenn es darum geht, jemandem zu beweisen, dass er das Labyrinth der Linien nicht souverän über- und durchschaut habe und der Netzlogik nicht auf die Schliche gekommen sei. Und wenn einer sich verspätete! – „hättest du doch den Bus X genommen, wärst du doch in Y umgestiegen, warum den langen Tunnel am Z?“ Zu diesem spontanen Spiel versammelten sich jetzt ein paar Fahrgäste um die Dame, den jungen Mann und Pitt und fanden nach einem nicht eben langwierigen Diskurs die beste Verbindung heraus....




