E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Platzgumer Drei Sekunden Jetzt
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-552-05896-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-552-05896-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte Musik in Wien und Los Angeles, veröffentlichte Dutzende Tonträger und widmet sich heute vornehmlich der Schriftstellerei. Er schreibt Romane, Essays, Hörspiele, Theatermusik und Songs. Am Rand stand 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen Drei Sekunden Jetzt (2018), Willkommen in meiner Wirklichkeit! (Essay, 2019) und zuletzt bei Zsolnay seine Romane Bogners Abgang (2021) und Großes Spiel (2023).
Autoren/Hrsg.
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1
Die Neue Welt: neu, anders – vielleicht –, aber deswegen nicht besser. Was mir in den Sinn kommt, das sind die zehn unwirtlichsten Orte unseres Planeten, die Ten worst places to be. So weit reichte mein Englisch noch, sogar ich konnte, zumindest anhand des eindrücklichen Bildmaterials, dem Artikel des Weatherwise-Magazins folgen, das ich in einem Café in New York zufällig in die Hände bekam. Die zehn lebensfeindlichsten Gegenden der Erde waren darin aufgelistet, Orte, an denen menschliches Fortleben faktisch unmöglich ist und für den, der es dennoch versucht, nichts als eine unerträgliche Strapaze bedeutet. Auch ich scheine nun an solch einem Ort angekommen zu sein.
Doch nein!, sage ich mir wieder und wieder vor – immer noch, mehr denn je spreche ich mit mir selbst –, non!, wiederhole ich, so schlimm ist Montréal nicht! Zwei Tage, zwei Tage werde ich es wohl noch aushalten, zwei Nächte vielmehr! Ich rufe es in die Nacht hinein, die um mich herum klirrt und heult und tobt und rast. Der 28. November, in den ich hineingelaufen bin, ohne zu schlafen, er ist bereits überstanden. Nur der 29. noch. Am 30. hebt abends meine Maschine ab.
– Seulement deux nuits!, brülle ich in den Nordwind, der viel zu rasch den Winter in die Stadt gebracht hat.
Ich verschlucke mich an meinen eigenen Worten, denn der Sturm, mein größter Widersacher, stößt sie hinab in meinen Rachen. Sobald ich den Mund öffne, fährt er grob in mich hinein, wie er in alles hineinfährt, das er erreicht, und er erreicht die ganze Stadt, das ganze Land, jede Straße, jedes Haus, alles ist sein jetzt, alles soll ihm gehören, auch ich. Und dennoch weiß ich, an welchen Orten es mir noch schlechter ergehen würde. Montréal steht nicht auf der Weatherwise-Liste. Auch wenn mich niemand hören kann, ich schreie diese Gewissheit hinaus in die Schneenacht. Montréal ist weit entfernt von den Top Ten, ein Durchschnittsort irgendwo auf der Nordhalbkugel, nicht mehr, nicht weniger.
Ein Durchschnittsort auch die gottverlassene Nische in der Innenstadt, wo ich jetzt Zuflucht suche, der überdachte Eingangsbereich des geschlossenen Kaufhauses unweit der Métro-Station McGill, aus der ich vertrieben worden bin, als die Grüne Linie kurz nach eins ihren Betrieb einstellte.
– Um halb sechs kannst du wiederkommen. Sofern du ein Ticket hast, meinte der mit Schlagstock, Taschenlampe und Werkzeugen behängte Sicherheitsbeamte.
Er sprach Englisch mit mir. Der zynische Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich fauchte auf Französisch zurück.
– Um halb sechs bin ich entweder erfroren, sagte ich, oder ich stehe auch die restlichen Stunden noch durch, bis die Einkaufszentren öffnen.
Dann gab ich klein bei und verzog mich.
Unter unseren Füßen – das weiß er wie ich – schlagen die riesigen Shoppingmalls der Montréaler Innenstadt weitverzweigte Wurzeln. Über unzählige, klimatisierte Gänge sind sie miteinander verknüpft. Shoppingkatakomben. Unterirdische Glaspaläste. Eine Vitrine nach der anderen. Imbissstände, Parkbänke, Restaurants, ohne Zahl, ohne Anfang oder Ende. Brunnenanlagen, Kinos, Cafés. Alles in Sicherheit gebracht vor dem rauen Klima, mit dem man hier zu kämpfen hat, alles Stockwerke hinunter, unter die Erde verlegt.
Tagsüber halte ich mich in diesen unterirdischen Passagen auf. Auch im Richard wohne ich ja unterhalb der Straße, ich bin es gewohnt, mich im Untergrund zu verstecken. Wenn ein Wachmann kommt und mich auf das Schild Merci de ne pas flâner hinweist, nicke ich und mache, was ich unter Flanieren verstehe: Ich gehe ein paar neonbeleuchtete Ecken weiter und setze mich wieder hin, atme die warme, trockene Kunstluft ein, halte Ausschau nach nur halb verzehrten, appetitlichen Portionen. Kaum einer isst bei diesen Imbissbuden auf, was er bestellt. Die Einheiten sind zu groß, die Qualität ist kläglich. Bislang hat niemand meine Bitte abgeschlagen, seine Reste übernehmen zu dürfen. Im Gegenteil, ich bekam bereits einen Hamburger, eine Pizza und etliche Becher Kaffee spendiert. Auch auf eine Poutine wurde ich eingeladen, aber sogar hungrig fiel es mir schwer, diesen Haufen in Bratensoße aufgeweichter Pommes frites hinunterzuschlucken.
Ich will nicht wählerisch sein. Solange die Unterstadt geöffnet ist, geht es mir gut. Verspüre ich ein Verlangen nach Tageslicht, gehe ich hoch zur großen Bibliothek, wo die Toiletten sauberer sind als unter der Erde, geräumiger, weniger frequentiert. Den halben Tag habe ich gestern dort verbracht. Ich setzte mich im überhitzten dritten Stock in einen Lehnsessel bei der Comics-Abteilung und ließ mich von einem Superman-Band einschläfern. Nach der schlaflosen Nacht zuvor war das keine superheldenhafte Leistung. Schnell sank ich in mich zusammen, sank in einen traumlosen Schlaf, wurde nur hin und wieder vom eigenen Schnarchen geweckt. Erst zur Sperrstunde um 18 Uhr wurde ich des Ortes verwiesen und schleuste mich aus Mangel an Alternativen ins U-Bahn-Netz ein.
Ja, die Tage vergehen schnell in Montréal. Nur die Nächte, in denen mit dem Schlaf der Kältetod droht, ziehen sich in die Länge, dehnen, strecken sich ins Unerträgliche. Sie fürchte ich. Doch nein, Frank, weise ich mich zurecht, zwei läppische Schneenächte wirst du wohl noch überstehen, Frank!
Aus der Métro-Station gespuckt, die vom Wachmann sogleich hinter mir verriegelt wurde, kämpfte ich ein paar Schritte gegen den Nordwind an, bis ich meinte zu erfrieren. Ich bog um die Ecke eines schwarzen Wolkenkratzers, ein Koloss aus Stahl und Glas, der jeder Witterung trotzt, und fand Unterschlupf am überdachten Nebeneingang des Kaufhauses. Bei diesem Wetter blieb mir nicht die Wahl, nach Besserem zu suchen.
Allzu schlecht ist er doch gar nicht, dieser Ort, höre ich durch das Gejaul des Sturms eine entfernte Stimme sagen, die die meine sein könnte, ja, die – es dauert ein wenig, bis ich mich davon überzeuge – tatsächlich die meine ist. Wenigstens sind wir einigermaßen windgeschützt. Ich rede in der Mehrzahl von mir selbst, das fällt mir auf, das werde ich korrigieren. Ich bin doch allein, äußerst allein. Es liegen keine anderen Obdachlosen herum, die entweder bereits tot oder unsagbar anstrengende Kollegen sind. Falls ich sterben muss, dann bitte nicht in ihrer Gesellschaft. Doch was rede ich da? Ich werde nicht sterben! Ich bin ein Findling, selbst an diesem Unort werde ich gefunden werden, bevor es zu spät ist.
Vom Abzug eines Entlüftungsschachtes im Gehsteig zieht warme Luft herüber – bilde ich mir zumindest ein. Abgestande Abluft aus den U-Bahn-Schächten, verbrannter Gummi, Bremsbeläge, Mundgeruch der Fahrgäste. Ich rieche diese Restwärme mehr, als sie zu fühlen. Ich schmecke sie. Eine Fußbodenheizung hast du sogar, Frank!
Neun Stunden liegen zwischen meinem Rauswurf aus der Métro und dem Öffnen der Läden um zehn Uhr morgens. Über zwei Stunden sind vergangen. Keine sieben Stunden also noch, dann kann für die Menschen dieser Stadt der sonntägliche Kaufrausch beginnen, und ich habe eine weitere Winternacht auf offener Straße überstanden. Keine sieben Stunden, vierhundert Minuten. Vierzig Stunden bis zu meinem Abflug, 2400 Minuten. Ich zähle alles mit. Das habe ich mir so angewöhnt. Jede Minute löse ich von mir ab, eine nach der anderen.
2
Matthieu hatte keinen früheren Flug finden können, sagte er, als ich freitagvormittags mit ihm telefonierte. Ich hatte keine Geduld und nicht genügend Kleingeld, um die Situation am Münztelefon länger mit ihm zu verhandeln. Ich hatte Matthieu im Richard angerufen, wo er Bürokram zu erledigen hatte, wie er es nannte. Er saß in meinem Rezeptionskämmerchen, unendlich weit entfernt von mir. Der Empfang war miserabel.
– Wir müssen den Laden endlich wieder aufsperren, verstehst du!, sagte Matthieu. Wenn du nächste Woche nicht auftauchst, kannst du bleiben, wo immer du bist.
– Ich will ja zurück, so schnell wie möglich!
Montag, 18:55, Air France, notierte ich, Ticket wird am Schalter hinterlegt.
– Es ist alles bezahlt, sagte Matthieu.
– Bon. Merci.
Der Telefonapparat fraß mein Geld, so gierig, dass ich mit dem Nachwerfen der Quarters kaum nachkam. Er wollte gefüttert werden und nahm mir die allerletzten Cents ab, die ich besaß.
– Kannst du dieses Wochenende noch durchhalten?, fragte Matthieu.
– Klar, sagte ich.
– Bonne chance!
– Merci!
Dann war die letzte Münze, die ich in meinen Taschen hatte, verschluckt und die Leitung getrennt. Das Freizeichen ertönte. Ich hatte nicht mehr hören können, wie Matthieu auf bald sagte, aber mit Sicherheit hat er das gesagt.
Eine Weile hielt ich den toten Hörer an mein Ohr, wohl weil ich nichts Besseres zu tun wusste. Ein Summton drang unangenehm aus dem Lautsprecher. An die Stelle von Matthieus Stimme trat ein unabänderliches Geräusch, kalt und monoton. Willenlos würde es sich in alle Ewigkeit erstrecken, würde niemand den Hörer zurück auf die Gabel legen. Auch das wäre eine Beschäftigung gewesen: einem Freizeichen stunden-, tage-, wochenlang zuzuhören, um zu sehen, ob es sich irgendwann von selbst abschaltete. Ich gab dem Signalton ausreichend Gelegenheit, sich abzuschalten, ich weiß nicht, wie...