E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Potter / Lauer Judenhass Underground
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-95565-633-1
Verlag: Hentrich & Hentrich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-95565-633-1
Verlag: Hentrich & Hentrich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Nicholas Potter ist britisch-deutscher Journalist und arbeitet bei der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin. Er schreibt für diverse Medien wie die taz, Jungle World, Belltower.News und Jüdische Allgemeine über die extreme Rechte, Antisemitismus, Rassismus, Subkulturen, Bewegungen und mehr. Zuvor war er Theaterredakteur beim Exberliner Magazine. Er studierte am King's College London und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Gewalt und Diskriminierung: Soziale Aspekte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Sozialismus
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Politische Kommunikation und Partizipation
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Marxismus, Kommunismus
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Soziale Ungleichheit, Armut, Rassismus
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Geschichte des Judentums Antisemitismus, Pogrome, Shoah
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Politische Propaganda & Kampagnen, Politik & Medien
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Interessengruppen, Lobbyismus und Protestbewegungen
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Freizeitsoziologie, Konsumsoziologie, Alltagssoziologie, Populärkultur
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Antisemitismus
Weitere Infos & Material
Intro
Zionism is not compatible with Judaism
The hijacked faith. The state is misrepresenting
Israel equals misplacement and ethnic cleansing
I know I’m on a list, for being more verbal
Curse every Zionist since Theodor Herzl
Balfour was not a wise man. Shame on Rothschild
Between them the monster they created has gone wild.
– Lowkey
Antisemitismus boomt. Mal wieder. Auch in Subkulturen und Bewegungen, die ein emanzipatorisches Selbstbild kultivieren. Punk oder Techno, Hiphop oder Hardcore, Klimabewegung oder queere Community: Diverse Szenen im mehr oder weniger linken Spektrum haben nicht nur Schwierigkeiten, ihn beim Namen zu nennen. Leute, die sich sonst auf der „richtigen Seite“ der Geschichte wähnen, können oder wollen Antisemitismus oft beim besten Willen nicht erkennen. Mehr noch: Gerade mithilfe von Antisemitismus stilisieren sie sich als „die Guten“ – durch Songtexte gegen geldgierige Globalisten und die mächtigen Rothschilds, durch Boykottkampagnen gegen den „Kindermörder Israel“. Judenhass geht auch underground. Das macht ihn nicht weniger gefährlich.
Antisemiten sind allerdings immer die anderen: die Faschisten, die Geflüchteten, die Islamisten. Viele Linke glauben, sie könnten per se nicht antisemitisch sein, der ganzen Tradition des linken Judenhasses zum Trotz. Der Vorwurf des Antisemitismus wird vehementer bekämpft als der Antisemitismus selbst. So schlecht ist der Ruf der Judenhasser seit den Gaskammern der Nationalsozialist*innen. Antisemitismus wird allzu oft als Gespenst der Vergangenheit gesehen, als abgeschlossenes Kapitel der Weltgeschichte. Er wird erst ernst genommen, wenn er in Vernichtungsfantasien mündet.
Aber Antisemitismus fängt nicht bei Auschwitz an. Und er hört mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 nicht auf. Ronen Steinkes Buch Terror gegen Juden endet mit einer Chronik antisemitischer Vorfälle in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der erste Eintrag stammt aus Juli/August 1945: „Im bayerischen Diespeck werden auf dem jüdischen Friedhof mehrere Grabsteine umgeworfen.“ Antisemitismus ist, wie der britisch-jüdische Schriftsteller Howard Jacobson in seinem preisgekrönten Roman The Finkler Question schreibt, eine Rolltreppe, die nie stillstand und auf die jeder nach Belieben aufsteigen kann. Wo diese Rolltreppe letztlich hinführt, ist hinlänglich bekannt.
Knapp 80 Jahre nach dem Holocaust, den wir im Folgenden als Shoah (hebräisch für „Katastrophe“) bezeichnen werden, grassiert weiterhin der Judenhass. Doch auch wenn das Wort „Judenhass“ im Titel dieses Bandes steht, ist Antisemitismus so viel mehr als bloße Ablehnung von Jüdinnen*Juden. Er ist der Hass auf alles, was Antisemit*innen als „jüdisch“ verstehen. Er steht für den Hass auf Demokratie, Gleichwertigkeit, auf die Moderne und ihre Errungenschaften. Der moderne Antisemitismus ist vor allem Produkt der bürgerlichen Gesellschaft: Der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn nennt ihn deshalb die „negative Leitidee der Moderne“. Er gehört genauso zum rechten Rand wie zur gesellschaftlichen Mitte. Antisemitismus ist die Leitideologie ganzer Staaten. Und leider ist er auch Teil von emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen.
Antisemitismus vereint: Antirassist*innen landen bei Verschwörungspredigern, Möchtegern-Antifas bei türkischen Rechten, Queers marschieren neben Islamisten. Das sind nicht unbedingt Widersprüche, denn ein Milieu kann emanzipatorisch für den eigenen Befreiungskampf sein, ohne konsequent gegen jede Unterdrückung zu kämpfen. Gleichzeitig kann der Antisemitismus an sich auch emanzipierend sein – von der Moderne, der Weltverschwörung, dem „jüdischen Kapital“, den Strippenziehern hinter den Kulissen, der „Staatsräson“. Von all dem bietet der Antisemitismus Befreiung: Emanzipation als Widerstand gegen Macht.
Aber was ist Antisemitismus überhaupt? Und was unterscheidet ihn vom Rassismus? Die Nazis imaginierten die Juden als „Rasse“, verabschiedeten die „Nürnberger Rassengesetze“. Aber Antisemitismus ist mehr als nur antijüdischer Rassismus. Denn Rassismus hierarchisiert Menschengruppen, um sie auszubeuten. Das kann eine brutale, mörderische Form annehmen, wie Kolonialismus und Sklaverei schmerzhaft zeigen. Und nicht selten diente er der Kapitalakkumulation: pragmatischer, profitorientierter Menschenhass. Oder er kann sich durch Alltagsdiskriminierung oder Mikroaggressionen manifestieren. Aber zentral für Rassisten ist die vermeintliche Minderwertigkeit der rassifizierten Gruppen.
Bei Antisemitismus ist das anders. Er schreibt „den Juden“* eine Übermacht zu: Sie seien betrügerisch, rachsüchtig, blutgierig, hinterlistig. Sie zögen die Fäden, kontrollierten die Medien, planten die Welteroberung – oder hätten sie längst erreicht. Ein Schlüsseltext des modernen Antisemitismus ist Die Protokolle der Weisen von Zion: ein antisemitisches Hetzpamphlet, zunächst 1903 auf Russisch erschienen, später Pflichtlektüre im Nationalsozialismus und bis heute ein Standardwerk für Islamisten. Die angeblichen Protokolle geben vor, die geheimen Pläne jüdischer Weltverschwörer zu enthüllen. Das ist brandgefährlich. Denn Antisemiten fühlen sich bedroht: Sie wollen „die Juden“ nicht ausbeuten, sondern auslöschen. Und diese Auslöschung ist alles andere als pragmatisch, sie ist ideologisch. Der Historiker Saul Friedländer spricht deshalb vom „Erlösungsantisemitismus“ der Nazis. Denn auch sie glaubten, auf der richtigen Seite zu stehen. Ihr Credo: Die Welt wäre ohne Juden eine bessere.
Aber Antisemitismus entstand nicht erst mit den Nazis oder mit den Protokollen: Tilman Tarach zeigt in seinem Buch Teuflische Allmacht den bis heute prägenden Antijudaismus des Christentums auf. Das erste belegte antijüdische Pogrom findet im Jahr 388 in Callinicium statt, dem heutigen Raqqa in Syrien. Der örtliche Bischof hatte seine Gemeinde angestachelt, die Synagoge der Stadt anzuzünden. Acht Jahre zuvor war das Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich geworden.
Judenhass entwickelt sich weiter, über Aufklärung und Nationalsozialismus bis hin zu Verschwörungsideologien im Internet. Aber es gibt Narrative, die wiederkehren. Sie bedienen sich altbekannter Mythen: Kindermörder, Brunnenvergifter, Weltverschwörer. Heute werden sie neu verpackt, als Kritik gegen Israel, Zionisten oder die „Ostküstenelite“. Aus der Ritualmordlegende werden bei QAnon blutsaufende Promis und Politiker*innen, die angeblich aus den Untergrundlaboren von George Soros und den Rothschilds mit der Wunderdroge Adrenochrom versorgt werden, hergestellt aus entführten Kindern. Ein antisemitisches Repertoire aus Klischees und Bildsprache zieht sich wie ein roter Faden durch diverse Epochen. So waren antisemitische Karikaturen mit Hakennasen und spitzen Zähnen, die auch im NS-Blatt Der Stürmer hätte erscheinen können, im Sommer 2022 auf der renommiertesten Kunstmesse der Bundesrepublik, der documenta, zu sehen.
Antisemitismus ist, wie Theodor W. Adorno es in Minima Moralia formulierte, das Gerücht über die Juden. Im Verschwörungswahn traut man ihnen alles zu: Chemtrails, Impfdiktatur, „Großer Austausch“ oder Great Reset. Anetta Kahane, Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung, nennt Antisemitismus deshalb das Betriebssystem von Verschwörungsideologien. Und das ist ein attraktives Angebot für viele Nichtjuden, denn durch Antisemitismus dürfen sie Opfer eines hinterlistigen Plans, einer geheimen Verschwörung sein. Entlastung durch Judenhass. Es ist ein vereinfachtes Narrativ, aber eines, das verfängt: Auf komplexe Probleme folgen simple Lösungen – und an allem Bösen in der Welt sei der Jude schuld. Der Weg zu Vernichtungsfantasien ist dann nicht mehr weit.
Antisemitismus kann notfalls ganz ohne Juden funktionieren. Vermeintlich mächtige nichtjüdische Personen werden zu Juden erklärt, ob Bill Gates oder Angela Merkel. „Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden“, schreibt Jean-Paul Sartre schon 1944. Oder Argumente, die in der Geschichte immer wieder benutzt wurden, um die Verfolgung und Diskriminierung von Jüdinnen*Juden zu legitimieren, werden ohne Juden neu verpackt, ohne dass sich ihre eigentliche Funktion ändert: Der Antisemitismus wird strukturell, ob durch Wall Street, Globalisten oder das „eine Prozent“.
Es gibt verschiedene Versuche, Antisemitismus zu definieren. An sich keine leichte Aufgabe, denn die Erscheinungsformen des Antisemitismus entwickeln sich durch die Jahre und Epochen immer weiter. Eine nützliche und weit verbreitete Arbeitsdefinition kommt von der International Holocaust Remembrance Alliance, kurz IHRA. Beschlossen 2016 von Vertreter*innen von über 30 Ländern und inzwischen von 39 Staaten und zahlreichen Regierungsorganisationen und NGOs...




