E-Book, Deutsch, 348 Seiten
Rahlff Eulennacht - In den Bäumen von Redmoor
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7348-0200-3
Verlag: Magellan Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 348 Seiten
ISBN: 978-3-7348-0200-3
Verlag: Magellan Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ruby kann es nicht fassen: Ausgerechnet in Redmoor Garden wird sie die Sommerferien verbringen! Die Schönheit des geheimnisvollen Gartens zieht sie sofort in ihren Bann, besonders, da sie immer wieder fasziniert Eulen beobachtet, die in dem uralten Baumbestand leben. Doch Redmoor ist weit mehr als nur das romantische Paradies aus ihrer Vorstellung. Die jahrelang verwilderten Gartenteile werden ihr zunehmend unheimlich und wenig später kommt es zu unerklärlichen Angriffen der Eulen. Schnell werden Stimmen laut, die Maßnahmen gegen die Wildvögel verlangen. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Kann Ruby das Rätsel um die Eulen lösen?
Ruth Rahlff, geboren in Lüneburg, versuchte sich schon in jungen Jahren als Verkaufstalent in der Buchhandlung ihres Onkels, ließ sich später zur Verlagsbuchhändlerin ausbilden, arbeitete in einem sehr großen und in einem sehr kleinen Verlag als Lektorin und ist seit 2004 freie Autorin. Wenn sie nicht gerade liest, reist, Eis isst oder mit ihrem Hund tobt, erfindet sie Geschichten für Kinder und Jugendliche.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Tja, nun saß ich hier: in einem Zugabteil voller Staubflusen, leerer Chipstüten und Erdnusskrümel. Ich räumte einen Stapel zerlesener Zeitschriften beiseite und rückte näher ans Fenster. Draußen sah es auch nicht viel spektakulärer aus. Ein kräftiger Wind trieb allen möglichen Müll vor sich her und die Leute stemmten sich mit gesenkten Köpfen gegen die Böen. Wir zuckelten an stuckverzierten Altbauten, zubetonierten Hinterhöfen und ungefähr einer Million grauer Bürohäuser vorbei. Es war langweilig und miefig und trostlos – und ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Denn all das erinnerte mich daran, was ich überhaupt nicht vermissen würde. Mit jeder Bahnstation, die wir passierten, fühlte ich mich ein wenig freier, so als kröche ich aus einer Haut, die mir viel zu eng geworden war. Außer mir interessierte sich niemand groß für die Umgebung. Die anderen Fahrgäste fixierten ihre Smartphones, als wären sie das Eintrittstor ins Paradies. Na ja, bei manchen schien es eher die Hölle zu sein, so gestresst, wie sie guckten. Auch ich schaute kurz auf mein Handy. Fünf neue Nachrichten, alle von Mum. Das war fast Rekord, schließlich hatten wir uns erst vorhin auf dem Bahnhof verabschiedet. Liebes, hast du einen guten Platz gefunden? Dad und ich fangen jetzt an zu packen. Du kannst es dir jederzeit anders überlegen! Denk bitte an das Magnesium. Wegen deiner Migräne!! Ich vermisse dich jetzt schon. Melde dich, sobald du da bist. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Es war, als würde jemand mit beiden Händen meinen Brustkorb packen und kräftig zudrücken. Noch nie war ich so weit ohne Mum und Dad verreist. Vermisse euch auch, tippte ich und löschte den Satz sofort wieder. Zwei Meter vor mir war der Ausgang. Gleich kam der nächste Halt. Ich musste mir nur meine Sachen schnappen und zur Tür laufen. Danach ein Anruf und ein bisschen Wartezeit und schon könnte ich wieder zurück in mein altes Leben schlüpfen. Das könnte ich. Aber ich wollte es nicht. Ich atmete aus und sofort ließ der Druck in meiner Brust ein bisschen nach. Es stimmte ja, ich vermisste die beiden auch schon. Und wie! Zugleich war ich heilfroh, dass ich endlich zu Leo durfte. Also schrieb ich nur ein paar kurze Antworten und steckte das Telefon weg. Draußen waren die letzten Reihenhäuser verschwunden und neben den Schienen breiteten sich Felder wie ein riesiger Flickenteppich aus. London und seine Vororte lagen endgültig hinter mir. Nur was erwartete mich? Ich rutschte auf meinem Platz hin und her. Vom vielen Sitzen tat mir der Po weh, am liebsten wäre ich aufgesprungen und durch den Zug gelaufen, aber dafür war es zu voll, und außerdem wollte ich meine Sachen nicht allein lassen. Da fielen mir die Postkarten ein. Natürlich! Ich holte den Stapel aus der Tasche und fächerte die Karten auf. Eigentlich war doch alles klar. Vor mir lagen sechs Wochen Sommerferien in Redmoor. Und noch mehr, wenn alles nach Plan lief. Allerdings hatte ich noch keine Ahnung, wie ich mein Vorhaben Mum und Dad beibringen sollte, und auch Leo wusste von nichts, aber das würde sich schon ergeben. Ich war zwar noch nie da gewesen, aber Cornwall musste der tollste Ort überhaupt sein. Es gab den Ozean und steile Klippen, die schönsten Blumen und sogar Palmen! Und vor allem: Man konnte stundenlang umherstreifen, ohne dass einem jemand begegnete, das hatte jedenfalls Leo gesagt. Und dann Redmoor! Seit Monaten schwärmte er mir von dem verwunschenen Garten vor und nun endlich würde ich ihn selbst sehen! Wir hatten zusammen schon alle möglichen Gärten besucht, aber dieser hier schien etwas ganz Besonderes zu sein. Ich betrachtete die erste Postkarte. Weiße Rosen umrankten eine verwitterte Holztür. Es sah aus wie bei Dornröschen. Die nächste Karte zeigte einen Brunnen inmitten von Büschen. Sehr lauschig! Auf einem anderen Foto lehnte eine Frau an einer Backsteinmauer und strahlte in die Kamera. Ihr beigefarbener Hosenanzug war zerknittert, und die Sandalen passten überhaupt nicht dazu, doch das schien sie nicht zu kümmern. Ich musste grinsen. Mum wäre lieber nackt über den Piccadilly Circus getanzt, als sich in so einem Aufzug fotografieren zu lassen, erst recht für eine Postkarte. Nun kam meine Lieblingskarte. Sie war schwarz-weiß, dadurch wirkte alles ein wenig düster. Aber das Mädchen im altmodischen Rüschenkleid machte das mit seinem Lächeln wieder wett. Es war vielleicht so alt wie ich und drückte ein schwarzes Notizbuch an sich. Was da wohl drinstand? Das Mädchen kniete vor einer Trauerweide. Deren Zweige reichten bis auf den Boden. Auf dem Foto klafften sie ein wenig auseinander, so wie bei einem Höhleneingang. Am liebsten wäre ich hineingekrochen! Ich kuschelte mich in den Sitz und seufzte. Redmoor war wirklich das reinste Gartenparadies. »Die nächste Station ist Sheddington Hall«, sagte eine Stimme. Ich fuhr hoch. Anscheinend hatte ich geschlafen, und das ziemlich lange, denn draußen sah alles anders aus. Kühe und Schafe grasten auf hügeligen Weiden und dazwischen waren ein paar graue Steinhäuser verstreut. Ob das Cornwall war? Ich wandte mich um. Zuerst sah ich nur einen Bauch in einer Uniform. Mein Blick wanderte nach oben, bis ich knapp unter der Decke das Gesicht des Schaffners ausmachte. »Falls du da zufällig aussteigen willst, solltest du dich langsam fertig machen«, fuhr er fort. »Es ist der kürzeste Halt auf der Strecke.« Er wollte schon weitergehen, doch dann stutzte er und zeigte auf den Sitz neben mir. »Ist das ein Kaktus?« »Mhm.« Den hatte Leo mir geschenkt, als er ausgezogen war, und seitdem war der Kaktus überall dabei. Der Schaffner zwinkerte mir zu und verschwand den Gang hinunter. Hastig verstaute ich die Postkarten und suchte meine Siebensachen zusammen. Die Reisetasche, die ich mit Mum vor der Abfahrt gekauft hatte, warf ich mir über die Schulter. Dazu kamen der Mantel, der Stoffbeutel mit der Wasserflasche und dem Proviant für unterwegs sowie der Rucksack mit Portemonnaie, Smartphone und anderem Kleinkram. Und natürlich der Kaktus. Beladen wie der Weihnachtsmann wankte ich Richtung Ausgang. Dort warteten bereits ein grauhaariger Mann in einem lila Anzug und eine Frau mit zwei Koffern, in die jeweils locker ein Shetlandpony gepasst hätte. Was da wohl drin war? Größentechnisch konnte sie mit dem Schaffner fast mithalten, aber anstelle einer Glatze umgab eine graue Haarmähne ihr geschminktes Gesicht. Ihre Brille war wie die Flügel einer Fledermaus geformt und erinnerte mich an eine Superheldenmaske. Sie wandte sich zu mir und musterte mich. »Liebes, du bist ein bisschen blass um die Nase. Geht’s dir gut?« Ich nickte. »Das ist ganz normal bei mir.« Leider. Sie trat einen Schritt näher und plötzlich roch alles nach ihrem Parfüm. »Ein bisschen Rouge, ein wenig Puder, und zack, ist das Problem gelöst.« Sie griff in ihre staubsaugergroße Handtasche und drückte mir eine schwarze Visitenkarte mit silberner Schrift in die Hand. Charlene Bobbington: Bobbys Beauty Booster Termine nach Vereinbarung »Du kannst gerne vorbeikommen. Ruf einfach an, die Nummer steht auf der Rückseite.« »Ähm … danke.« Mir fehlten die Worte, und das kommt nun wirklich nicht häufig vor. Zum Glück machte der Zug im nächsten Moment eine Vollbremsung, und eine blecherne Lautsprecherstimme verkündete: »Sheddington Hall.« Ich stolperte als Letzte die Metallstufen hinunter. Kaum hatten meine Zehenspitzen den Bahnsteig berührt, fuhr der Zug auch schon wieder an. Bis auf den Kaktus ließ ich alles fallen und atmete aus. Nach der stundenlangen Bahnfahrt wären jetzt eine heiße Dusche, etwas Leckeres zu essen und ein gemütliches XXL-Sofa perfekt. Wobei ich bei der Reihenfolge flexibel wäre. Ich schaute mich nach Leo um. Wo war er denn? Eine ursprünglich grün lackierte Metallbrücke führte über das Gleis. Grellrote Geranien baumelten vom Geländer und leuchteten tapfer gegen den bedeckten Himmel an. Sie gaben sich alle Mühe, doch die schäbige Umgebung siegte. Kein Wunder, dass der Zug so eilig weitergefahren war. Der Belag auf dem Bahnsteig brach überall auf und in den Lücken dazwischen wuchs Unkraut. Auf den zwei Gleisen stapelte sich der Müll, als wolle er den nächsten Zug mit Gewalt aufhalten. Ein paar Meter weiter huschte etwas Braunes über die Schienen. Puh. Das Bahnhofsgebäude hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Die Glasscheiben waren wahrscheinlich im vorigen Jahrhundert das letzte Mal geputzt worden und der Papierkorb neben dem Eingang quoll über. Den miefigen Geruch drinnen stellte ich mir lieber gar nicht erst vor. Ich schleifte die Reisetasche...