E-Book, Deutsch, 284 Seiten
Revaz Das unendliche Buch
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8353-4108-1
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 284 Seiten
ISBN: 978-3-8353-4108-1
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ist das ein Science-Fiction-Roman? Eine Dystopie? Eine bitterböse Mediensatire? Eine Posse voller schwarzem Humor? – Vielleicht von allem etwas. Oder besser: sehr viel.
Noëlle Revaz entwirft ein satirisch-groteskes Zukunftsszenario des Kultur-, Medien- und Literaturzirkus, aber seine Elemente muten gar nicht so unbekannt an. Die Buchpremiere ist eine gigantische Fernsehshow, die Moderatoren werden als Stars gefeiert, die Schriftstellerinnen stellen sich selbst dar. Niemand kommt auf die Idee, ein Buch aufzuschlagen oder gar darin zu lesen. Seine Qualitäten werden zelebriert wie bei einer Prêt-à-Porter-Inszenierung, bestens ausgeleuchtet. Einbandfarbe und -material, Größe und Dicke sind von Belang, und die Biographien der Autorinnen natürlich. Neue Ideen und Kreativität sind immer gefragt, allerdings nicht bei der Entstehung eines Kunstwerks, sondern ausschließlich bei der Vermarktung der Leere, etwa wenn zwei Sternchen des Zirkus zu einer Figur verschmolzen werden sollen: Joeanna Fortunaggi – die Sensation der Saison. Unvorhergesehenerweise bringen sie alles durcheinander: Sie tun es wirklich, sie schreiben ein Buch.
Ein Roman von tiefschürfender Originalität, der nicht zuletzt eine eigenwillige Liebeserklärung an die Literatur ist.
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Wie schon so oft, wurde Jenna Fortuni mit Joanna Fortaggi in dieselbe Sendung eingeladen. Dort sollten sie natürlich über ihre Bücher sprechen. An jenem Abend war Joanna Fortaggi ganz in Rot gekleidet, um sich von Jenna zu unterscheiden. Unglücklicherweise hatte sie nicht daran gedacht, dass der Umschlag von Jenna Fortunis Buch rot war, und so war die Farbe der Kleidung ein direkter und machtvoller Hinweis auf das Werk der anderen. Auch das Unbewusste des Talkmasters war dafür empfänglich: Im Laufe der Sendung verwechselte er die beiden Bücher dreimal, und die Mutterschaft an Jenna Fortunis Buch wurde Joanna Fortaggi zugeschrieben. Jenna bewahrte ihre Ruhe, denn sie hatte sich einen Meditationskurs angeschaut und erst am Vorabend eine Dokufiktion über die Shaolin-Mönche gesehen. Joanna Fortaggi aber schäumte vor Wut. Sie vergaß die guten Sitten, die besagten, dass man die gröbsten Beleidigungen in alle Richtungen schleudern durfte, solange man es mit einem Lächeln tat. Ihre Augen loderten wie zwei Fackeln. Ihre Nasenflügel erbebten. Ihre Lippen, auf die sie vergebens biss, ließen schließlich eine Ungeheuerlichkeit passieren, die dem Talkmaster galt. Der arme Talkmaster suchte in seinen Notizen nach einer passenden Entgegnung. Ein solcher Fall war noch nie vorgekommen. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Jenna sah, dass die Sendung gleich kippen würde. Wenn nicht jemand das Ruder herumriss, würden sie alle bis auf den Grund sinken. Auch sie suchte nach einer Erwiderung. Aber die Kameras ignorierten sie und blieben auf Joanna Fortaggi geheftet, die nicht wusste, wie sie sich aus dem Trichter aus Wut, in den sie gerutscht war, wieder befreien sollte. Es war ein Fehler der Produzenten gewesen, zwei Schriftstellerinnen auf ein Fernsehpodium eingeladen zu haben. So etwas machte man nicht. Es war niemand da, der als Vermittler hätte wirken können. Eine solche Konstellation gab es höchst selten. Normalerweise sahen die Produzenten einen oder zwei Stars vor oder sonstige Promis, die für Kurzweil sorgen, das Publikum unterhalten und die Optik aufwerten sollten, denn Schriftsteller brillierten bekanntermaßen nicht durch ihr Erscheinungsbild. Joanna Fortaggi trat aus ihrem Schweigen heraus. Sie stammelte ein paar Worte in das glücklicherweise abgeschaltete Mikrofon. Und zum Glück hatte der Talkmaster zwischenzeitlich auch nach ihrem Buch gegriffen und begann es jetzt, ein bisschen Hals über Kopf, ein zweites Mal vorzustellen. Er erinnerte die Fernsehzuschauer daran, dass man dieses sehr schöne Buch in den Buchhandlungen finden könne und dass seine Autorin die Romanschriftstellerin Joanna Fortaggi sei. Dass Joanna Fortaggi talentiert sei und dass ihr Buch und das der Autorin Jenna Fortuni zwar oft vergleichbar scheinen könnten, in Wahrheit aber fast keine Gemeinsamkeiten hätten. Joannas Buch und Jennas Buch könnten wie Brüder wirken und gleichzeitig von Grund auf gegensätzlich sein. Es sei ein kurioses und paradoxes Phänomen, aber gerade das mache die beiden Bücher interessant. Und damit höre es ja noch nicht auf, denn mit den beiden Autorinnen verhalte es sich genauso. Diese Schriftstellerinnen seien vergleichbar, und doch widersetzten sie sich einem Vergleich. War das nicht interessant? Joanna Fortaggi strich ihr rotes Kleid über ihren roten Knien glatt und musste zugeben: Zwischen ihr und Jenna Fortuni gab es viele Gemeinsamkeiten. Und dennoch, da es ja so seltsam war – beide Autorinnen könnten hundertmal versuchen, sich zusammenzutun, es würde immer ein kleines Etwas geben, das sie voneinander unterschiede. Joanna atmete geräuschvoll aus, und der Talkmaster bekam endlich wieder Boden unter die Füße und führte sie auf das Gebiet der Kinder und der Computerchips. Es war allgemein bekannt, dass einer der Söhne von Joanna Fortaggi gechipt war. Die Kinder waren übrigens eines der Unterscheidungsmerkmale, durch die Jenna und Joanna nicht völlig deckungsgleich wurden. Jenna und ihr Mann hatten keine Kinder. Sie hatten das Problem gelöst, indem sie an zwei Fenster ihrer Wohnung Sticker geklebt hatten. So hatten die Autofahrer beim Vorbeirauschen den Eindruck, dass es Kinder im Haus gab. Zwei rothaarige Schlingel hinter der Scheibe machten ein Zeichen. Sie hatten Stupsnasen und ein paar Sommersprossen. Jenna und ihr Mann hatten ziemlich lange suchen müssen, damit ihre Sticker nicht denen der Nachbarhäuser ähnelten. Jenna war dagegen gewesen, dass ihr Mann ihnen Namen gab. Sie hatte befürchtet, er könnte eine Bindung zu ihnen aufbauen. Und doch hatte er sie im Scherz Jack und Pam getauft. Pam hatte zwei rote Zöpfe. Die beiden Kinder waren viel größer als in echt, damit man sie von Weitem sehen konnte. Wenn Jenna im Zimmer stand, war sie deutlich kleiner. Ihre Köpfe waren riesig. Von Nahem betrachtet, sahen sie scheußlich und skizzenhaft aus. Jenna hatte vor ihnen Angst. Joanna Fortaggi hatte inzwischen wieder auf die richtige Schiene zurückgefunden. Sie verbreitete sich über ihre Kinder. Selbst der letzte Kameraassistent kannte diese Geschichten schon auswendig, aber so waren halt die Gepflogenheiten, und worüber hätte Joanna erzählen können, wenn nicht über ihre Kinder, über ihren gechipten Sohn? Unter diesen beiden Stichworten war sie auf den Handzetteln der Moderatoren einsortiert. Joanna Fortaggi erzählte in gelassenem Ton: Die Kinder waren groß geworden und damit nicht mehr so spaßig. Der Ältere hatte sich zum Geburtstag gewünscht, einen Chip unter der Haut eingepflanzt zu bekommen, und sich nicht davon abbringen lassen. Der Talkmaster ergriff die Gelegenheit, Joannas Redefluss zu stoppen, und warf Jenna den Ball zu: Litt sie denn nicht unter ihrer Kinderlosigkeit? Jenna zeigte ein Lächeln wie eine Göttin. Es war wichtig, ja sogar entscheidend, dass eine Frau bei dieser Frage wie eine Göttin lächelte. Ein herabhängender Mundwinkel, eine starre Wange, ein etwas zu trockenes Auflachen riefen sofort den Verdacht hervor, dass es da Bitterkeit und Verzweiflung gab, und führten zu bohrenden Nachfragen. Jenna präsentierte ihre Antwort: Das Fehlen eines Kindes war kein Manko; außerdem gab es ja noch Jack und Pam. Jennas Augen funkelten, als sie diese Namen aussprach. Dazu kam auch noch ihr Vogel, den sie lieb hatte wie ein Kind. »Ich hatte diese Antwort schon erwartet«, rief der Talkmaster aus; er hatte die Unschuldsregel vergessen, die besagte, dass man seine Gedanken nie nach außen kehren durfte, sondern so tun musste, als wären die Gehirne alle leer. Jenna lächelte. Sie hatte das alles seit Langem im Blut: die Geschwindigkeit der ersten und der zweiten Kamera, den Rhythmus der Stichworte, die Dramaturgie der Livesendung. Sie spürte, dass sie noch einige Sekunden lächeln musste, damit die Kamera ein wenig Spielraum hatte; dann konnte sie wieder zu sich selbst zurück. Jenna ließ die Kameras vorübergleiten. Sie streiften mehrmals über ihre Haut. Alles in allem war es ein bisschen wie Wind oder Sand. Tausende Augen in einer Linse. Tausende, ja Millionen Gesichtsausdrücke. Jenna Fortuni lächelte in die beiden Kameras. Als Joanna Fortaggi das sah, lächelte auch sie. Die beiden Romanautorinnen lächelten, von innerer Heiterkeit erfüllt, immer stärker. Es sah so aus, als würden sie einander gleich die Hand reichen. Auch der Talkmaster lächelte. Zwanzig Sekunden lang sagte er überhaupt nichts, und das war ein Rekord. Der Kameramann nutzte den Schwebezustand für eine wunderbare Obersichtperspektive, einen Höhepunkt, der, wenn man es recht bedachte, wie ein Sonnenuntergang war. 18
Obgleich Jenna Fortuni und Joanna Fortaggi in den Fernsehstudios schon oft Seite an Seite gesessen hatten, hatte noch keine das Wort an die andere gerichtet. Sie hatten buchstäblich nie miteinander geredet. Die Talkmaster hatten immer wie Schleusen zwischen ihnen agiert. Wenn Jenna Fortuni sprach, richtete sich ihr Blick niemals in die Augen von Joanna Fortaggi, und auch die heftete während ihrer Redebeiträge nie die Pupillen auf Jenna Fortunis Pupillen. Das war auf dem Podium ein ehernes Gesetz. Die Talkmaster erteilten und lenkten das Wort. Soweit sich die Fernsehzuschauer zurückerinnern konnten, hatte man niemals gesehen, dass die Gäste es sich erlaubt hatten, untereinander zu diskutieren. Ein Gast durfte einen anderen nicht anherrschen. Bevor jemand eine Frage stellte, musste er die Erlaubnis dazu bekommen. Man konnte Gäste, die darauf warteten, eine Frage stellen zu dürfen, leicht an ihren eingezogenen Schultern erkennen, an ihren gekreuzten Armen und den unterwürfigen Schülermienen. Es war tatsächlich so: In den Augen der Zuschauer schienen Jenna und Joanna Freundinnen zu sein, aber kaum dass der Abspann gelaufen war, erhoben sie sich von ihren Plätzen, knöpften sich die Mikros ab und wandten einander den Rücken zu. Sie lauerten mit einer Spur von Konkurrenzgeist darauf, wem die Assistentin wohl als Erste den Mantel reichen würde. Dann ließ jede ein paar vage Blicke in die Runde schweifen, und nach einem Abschiedsgruß in Richtung Kabel, Techniker, Stars und Reflektoren verschwanden die beiden Autorinnen pfeilschnell von der Bildfläche. Jenna hatte die merkwürdige Empfindung, dass ihr Joanna im Scheinwerferlicht so nahe war, dass sie alles auf ihrem Gesicht sehen konnte. Wenn sie Joanna Fortaggi gegenübersaß, fühlte sie sich wie in einer Luftblase. Aber auch Joanna war in einer...