E-Book, Deutsch, 596 Seiten
Richter Vom Besteck des Zeitgenossen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-593-44830-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gegenwartsdiagnose im 18. Jahrhundert
E-Book, Deutsch, 596 Seiten
ISBN: 978-3-593-44830-5
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susan Richter ist Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit mit einem Forschungsschwerpunkt in der globalen Ideengeschichte an der Universität zu Kiel.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
Zeitgenoss:in: Ein stetig in den Geisteswissenschaften, im Journalismus, im Kulturschaffen, im Sprachalltag gebrauchter, aber kaum hinterfragter Begriff. Als müsse er nicht weiter definiert werden, gilt für ihn ein Jedermann-Konzept der Gleichzeitigkeit: die Annahme der eine Zeit2 teilenden Lebenden. Die offenbar unbestrittene Schlussfolgerung daraus ergibt, Voltaire (1694-1778) ist ein Zeitgenosse des preußischen Königs Friedrich II. (1712-1786) ebenso wie des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz (1724-1799) oder des Qianlong-Kaisers (1711-1799) in Beijing. Zeitgenossenschaft ist somit vor allem eine Zuschreibungskategorie aus der Retrospektive für Zugleich-Lebende vergangener oder gegenwärtiger Zeiten. Fixiert wird sie seit dem 19. und noch im 21. Jahrhundert in beliebten Abhandlungen, die das politische, künstlerische oder wissenschaftliche Werk einer Person im Urteil ihrer ›Zeitgenossen‹ spiegeln.3 Im Jahr 1818 etabliert der Brockhaus-Verlag gar eine jährlich bis 1829 erscheinende Handbuchserie mit dem Titel »Zeitgenossen« und versieht sie mit dem Ziel, die Lebensbilder beider Geschlechter der eigenen Zeit ab 1789 als [em] zu versammeln. In der vorangestellten heißt es:
[…] […].4
Wer einen bekannten Namen führt und messbare Lebensleistungen nachweisen kann, hat also Zeitgenossen! Aber wo bleibt die Bauersfrau im Odenwald?5 Ist sie auch eine Zeitgenossin der genannten Größen? Darauf hat der Brockhaus-Verleger sogar eine Antwort: […] .6 Der oder die Einzelne, Unbekannte, die ohne aufzufallen in Vergangenheit oder Gegenwart wirken und so Zeitgeschichte generieren, können nicht erhoben und in die Bände aufgenommen werden. Wohl aber mag Friedrich Arnold Brockhaus diesen Namenlosen die Zeitgenossenschaft nicht absprechen. Er eröffnet damit die Perspektive darauf, dass ›Genossenschaft an Zeit‹ mit Sein und Wirksamkeit in ihr, mit Partizipation und Prägung auf unterschiedliche Weisen verbunden ist, die jedoch auch, vielleicht sogar vor allem im Alltäglichen bzw. im Verborgenen liegen. Zeitgenössisch kann auch der oder die Unbekannte sein. Ein Jedermann-Konzept, das vermutet bzw. zugestanden, dem aber nicht nachgegangen wird oder vielleicht auch nicht nachgegangen werden kann. Denn wie soll das Wirken des Alltagsmenschen und Zeit, die mögliche (Um-)Formung zu Zeit denn erhoben oder untersucht werden?
Keine leichte Aufgabe, welcher sich der vorliegende Band zu stellen sucht. Mit dem Blick auf die vorrevolutionäre Pariser Stadtbevölkerung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden erste Antworten zum Verständnis von Zeitgenossenschaft einer historischen Gesellschaft eingefangen, analysiert und so Diskussionsangebote für die Begriffsdifferenzierung des oder der Zeitgenoss:in7 aus dem Kontext der französischen Aufklärung für die historische Forschung angeboten. Die Arbeit versteht sich dabei nicht als eine klassische Begriffsgeschichte. Sie spürt nicht dem Aufkommen, der Verbreitung oder einer bestimmten Konnotation der in Höhenkammwerken nach. Sie sucht vielmehr nach dem alltäglichen ›Sein‹ des Zeitgenossen, nach seinem Werden zum ›Genossen an Zeit‹ und den dafür notwendigen Bedingungen und Auswirkungen. Die vorliegende Studie versteht sich als eine etwas andere Ideengeschichte, die von folgenden Prämissen ausgeht: Eine Idee (bisher nur Kopfgeburt) ist an das Sein des Menschen und somit an seinen Körper gebunden. Ihre Bedingung, ihr Ursprung und ihr Äußerungsraum sind der Körper. Idee ist also nicht nur ein geistiger, sondern auch ein Substanzbegriff8, der sich im und durch den Körper materialisiert und somit sinnlich-affektive Evidenz besitzt.9 Die Idee des Zeitgenossen oder der Zeitgenossin basiert nicht auf den üblichen Bedingungen von Migration, Adaption, Imitation, Übersetzung von Wissensproduktion oder intellektuellen Debatten. Der Idee und damit der Gestalt der Zeitgenossenschaft vorgelagert ist die vage Stimmung. Stimmung wird hier als ein vorrationales Energiepotential, basierend auf einer Wechselwirkung zwischen Innen und Außen verstanden.10 Äußerungsraum ist wiederum der Körper. Stimmung erzeugt Stimme! Stimmung bedarf des Ausdrucks, also einer Konkretisierung der Stimmung hin zur Idee. Stimmung ist das Noch-Nicht-Geäußerte; Idee, also unbewusste oder bewusste Zeitgenossenschaft, die Gestalt gewordene Stimmung einer miteinander geteilten Zeit in einer Äußerungsform. Die gewählte Äußerungsform ist Literatur. Stimmung bedient sich somit offensichtlich ästhetischer Formung.
Diese von mir analysierte Stimmung generiert Handeln, in dem sich Wirken und Zeit nachvollziehen lässt. Doch Stimmung und Handeln im Kontext von Zeit bedürfen der Diagnose, um diesen Prozess nachzuvollziehen. Zeitdiagnosen sind bisher für historische Gesellschaften eher seltener in den Blick der soziologischen oder historischen Forschung genommen worden.11 Vielmehr erscheinen sie als Forschungsgegenstand erst für das 20. Jahrhundert und untersuchen Gesellschaften der jüngeren Vergangenheit wie etwa die Industriegesellschaft. Grundsätzlich beschäftigen sie sich mit der Strukturveränderung von Gesamtgesellschaften im Kontext von ökonomischen, sozialen, politischen oder Umwelteinflüssen und fragen nach den Träger:innengruppen des Wandels.12 Die Frage der Konstitution der Träger:innengruppen, den Gründen und Möglichkeitsbedingungen des oder der Einzelnen, Wandel zu generieren, die Frage nach der Bewusstwerdung und Formulierung von Eigenzeiten13 und der Auswirkung dieser auf Teile von Gesellschaften als Grundbedingung der Entstehung von Teil- oder Parallelgesellschaften ist gerade für historische Gesellschaften nicht gestellt. Die Analyse der Erstellung von Zeitdiagnosen, die Frage nach ihren Akteur:innen und deren Diagnosepraktiken und Methoden fehlen in der Geschichtsforschung für historische Gesellschaften vollständig. Der vorliegende Band möchte daher als eine Kulturgeschichte historischer Zeitdiagnostik um 1800 einen Aufschlag bieten.
Zeitgenossenschaft und Zeitdiagnose, so lautet eine These meiner Untersuchung, sind eng miteinander verflochten. Zeitgenossenschaft bedarf sogar der Zeitdiagnose. Doch beide bleiben oft im Verborgenen, werden übersehen oder missachtet, wenn sie nicht in eine Äußerungsform münden, die zeitaktuell-gegenwärtige und/oder Zeit überdauernde Wirkung entfaltet. Und schon ist man wieder bei den Ausgezeichneten, den Herausgehobenen, die der Brockhaus-Band von 1818 als diejenigen identifiziert, die als Zeitgenossen Erfassung und Darstellung erhalten können. Entweder gelingt es einem Subjekt, sich im Prozess seiner Selbstbewusstwerdung, der Auseinandersetzung mit seinem Sein im Kontext von Zeit, auch seine Stimme zu erheben, oder aber es wird ihm eine Stimme verliehen. Der Zeit-Diagnostiker ist Zeitgenosse, der sich als Seismograf einer Zeit versteht, die Funktion eines beobachtenden Deuters übernimmt, deren Facetten er sicht- und bemerkbar macht, indem er als mögliches Korrektiv seiner Gegenwart auftritt, und diese zugleich eigenzeitlich modifiziert bzw. reformiert. Dies gilt in gleicher Weise für die Zeit-Diagnostikerin. Mit eigener oder mittels einer geliehenen...




