E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Russell Meine dunkle Vanessa
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-26771-1
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Der New York Times und BookTok-Bestseller »My Dark Vanessa« auf Deutsch – brillant und unvergesslich
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-26771-1
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vanessa ist gerade fünfzehn, als sie das erste Mal mit ihrem Englisch-Lehrer schläft. Jacob Strane ist der einzige Mensch, der sie wirklich versteht. Und Vanessa ist sich sicher: Es ist Liebe. Alles geschieht mit ihrem Einverständnis. Doch dann wird Strane fast zwanzig Jahre später von einer anderen ehemaligen Schülerin wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt, die Vanessa um Unterstützung bittet. Das zwingt Vanessa zu einer erbarmungslosen Entscheidung: Stillschweigen bewahren oder ihrer Beziehung zu Strane auf den Grund gehen. Doch kann es ihr wirklich gelingen, ihre eigene Geschichte umzudeuten – war auch sie nur Stranes Opfer?
»Meine dunkle Vanessa« ist ein brillanter Roman über all die Widersprüche, die unsere Beziehungen prägen, ein Roman, der alle Gewissheiten erschüttert und uns spüren lässt, wie schwierig es ist, klare Grenzen zu ziehen. Verstörend und unvergesslich!
Kate Elizabeth Russell wurde in Maine geboren und hat an der University of Kansas promoviert. Sie schreibt für verschiedene Magazine, und eine ihrer Erzählungen wurde für den renommierten Pushcart Preis nominiert. Ihr Debütroman »Meine dunkle Vanessa« ist ein internationaler Bestseller und stand auch in Deutschland auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Das Buch ist in rund 25 Ländern erschienen. Kate Elizabeth Russell lebt in Madison, Wisconsin.
Weitere Infos & Material
2000
Als wir auf den zweispurigen Highway nach Norumbega einbiegen, sagt Mom: »Ich wünsche mir wirklich, dass du dieses Jahr mehr unter Leute gehst.«
Es ist der Beginn meines zehnten Schuljahrs an der Highschool, der Tag, an dem wir unser Wohnheimzimmer beziehen, und diese Fahrt ist für Mom die letzte Gelegenheit, mir Versprechen abzunehmen, ehe ich von der Browick School geschluckt werde und ihr Kontakt zu mir sich auf Telefonate und Ferientage beschränkt. Vergangenes Jahr hatte sie die Sorge, dass ich im Internat über die Stränge schlagen könnte, sie ließ mich versprechen, dass ich weder Alkohol trinken noch Sex haben würde. Dieses Jahr soll ich ihr versprechen, neue Freundschaften zu schließen, was ich um ein Vielfaches beleidigender finde, wenn nicht gar grausam. Es ist fünf Monate her, seit ich mich mit Jenny verkracht habe, aber es tut immer noch weh. Schon bei dem Ausdruck »neue Freundschaften« dreht sich mir der Magen um; die Vorstellung kommt mir vor wie ein Verrat.
»Ich möchte einfach nicht, dass du Tag und Nacht allein in deinem Zimmer hockst«, sagt sie. »Ist das denn so schlimm?«
Ich drücke mich in den Beifahrersitz, sehne mich danach, mit dem ganzen Körper darin zu versinken, um mir nicht anhören zu müssen, wie sie meine eigenen Worte gegen mich verwendet.
Vor anderthalb Jahren, als ein Vertreter der Browick School in meine achte Klasse kam und uns ein Werbevideo vorspielte, in dem ein gepflegter, in goldenes Licht getauchter Schulcampus zu sehen war, erstellte ich unter der Überschrift »Warum Browick besser ist als eine öffentliche Schule« eine Liste mit insgesamt zwanzig Punkten, um meine Eltern dazu zu überreden, mich dort bewerben zu dürfen. Ein Punkt war das »soziale Gefüge« am Internat, neben der hohen Annahmequote von Absolventen am College und der Anzahl der angebotenen Leistungskurse, lauter Argumente, die ich dem Prospekt entnommen hatte. Letzten Endes genügten mir zwei Punkte, um meine Eltern herumzubekommen: Ich errang ein Stipendium, sodass es sie nichts kostete, und es kam zu dem Amoklauf an der Columbine Highschool. Wir schauten tagelang CNN, die in Dauerschleife laufenden Videoclips von Kindern und Jugendlichen, die um ihr Leben rannten. Als ich feststellte: »So etwas wie Columbine würde an der Browick nie passieren«, wechselten meine Eltern einen Blick, als hätte ich damit einen Gedanken ausgesprochen, der ihnen bereits durch den Kopf gegangen war.
»Du hast den ganzen Sommer Trübsal geblasen«, sagt Mom nun. »Höchste Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen und zu neuen Ufern aufzubrechen.«
»Das stimmt nicht«, murmle ich, aber es stimmt sehr wohl. Wenn ich in den Ferien nicht lethargisch vorm Fernseher abhing, lag ich mit Kopfhörern draußen in der Hängematte und hörte mir Songs an, die mich unter Garantie zum Weinen brachten. Es sei schädlich, sich negativen Gefühlen hinzugeben, sagt Mom. Und dass es immer irgendwas gebe, was einen ärgert. Man dürfe sich davon nicht runterziehen lassen, das sei das Geheimnis eines glücklichen Lebens. Sie versteht nicht, wie wohltuend es sein kann, in seiner Traurigkeit zu versinken; wenn ich stundenlang mit Fiona Apple in den Ohren in der Hängematte schwinge, fühle ich mich dabei besser als bloß glücklich.
Im Wagen schließe ich die Augen. »Wenn doch bloß Dad mitgekommen wäre. Dann würdest du mir nicht diese Vorträge halten.«
»Er würde dir nichts anderes sagen.«
»Ja, aber er würde es netter verpacken.«
Auch mit geschlossenen Augen kann ich alles sehen, was draußen vorm Fenster vorüberzieht. Es ist erst mein zweites Jahr an der Browick, aber diese Strecke sind wir mindestens schon ein Dutzend Mal gefahren. Da sind die Milchbauernhöfe und sanften Vorgebirge im westlichen Maine, die Gemischtwarenläden, in denen es laut Werbetafel kaltes Bier und Lebendköder gibt, Farmhäuser mit durchhängenden Dächern, Ansammlungen verrosteter Autoteile in Vorgärten, die von hüfthohem Gras und Goldruten überwuchert sind. Wenn man nach Norumbega kommt, wird es schön – eine perfekte Kleinstadt mit Bäckerei, Buchhandlung, italienischem Restaurant, Hanfladen, öffentlicher Bücherei, und oben auf dem Hügel der Browick-Campus, schneeweiße Holzverschalungen und Backstein.
Mom biegt in die Hauptzufahrt ein. Das große Schild mit der Aufschrift BROWICK SCHOOL ist zur Feier des Einzugstages mit weinroten und weißen Luftballons geschmückt, und die schmalen Campusstraßen sind voller Autos, schwer beladene SUVs, die wahllos überall abgestellt sind, während Neuzugänge mit ihren Eltern den Campus erkunden und die Gebäude bestaunen. Mom rückt bis ans Lenkrad vor, leicht vorgebeugt, und die Stimmung zwischen uns wird spürbar angespannt, während der Wagen vorwärtsruckelt, anhält und wieder vorwärtsruckelt.
»Du bist ein kluges, interessantes Mädchen«, sagt sie. »Du solltest eine ganze Clique von Freundinnen haben. Lass dich nicht dazu verleiten, deine ganze Zeit nur mit einer Person zu verbringen.«
Ihre Worte klingen ruppiger, als sie es vermutlich beabsichtigt hat, aber ich werde trotzdem patzig. »Jenny war nicht irgendeine Person. Sie war meine Mitbewohnerin.« Das Wort spreche ich mit besonderer Betonung aus, als sollte unmittelbar einleuchten, wie bedeutsam diese Beziehung war – die verwirrende Nähe, und wie die Welt jenseits des gemeinsamen Zimmers dadurch mitunter stumm und farblos erschien –, aber das kapiert Mom nicht. Sie hat nie in einem Wohnheim gelebt, ist nie am College gewesen, geschweige denn auf einer Privatschule.
»Mitbewohnerin hin oder her«, sagt sie, »du hättest noch andere Freundinnen haben können. Sich nur auf eine einzige Person zu fixieren ist nicht besonders gesund, das ist alles, was ich damit sagen will.«
Die Blechlawine vor uns teilt sich auf, als wir uns der Campus-Grünfläche nähern. Mom setzt erst den linken und dann den rechten Blinker. »Wo muss ich lang?«
Ich deute seufzend nach links.
Gould ist ein kleineres Wohnheim, eigentlich fast ein normales Haus, mit acht Zimmern und einem Apartment für die Hausbetreuerin. Vergangenes Jahr habe ich bei der Hauslotterie eine niedrige Nummer gezogen und deshalb ein Einzelzimmer ergattert, selten für eine Zehntklässlerin. Mom und ich benötigen vier Touren, um all meinen Kram hineinzutragen: zwei Koffer mit Kleidung, ein Karton voller Bücher, zusätzliche Kissen und Bettlaken und ein Quilt, den sie aus alten, abgelegten T-Shirts von mir genäht hat, dazu ein Standventilator, den wir in die Mitte des Zimmers stellen.
Während wir auspacken, kommen draußen Leute an der offenen Tür vorbei – Eltern, Schülerinnen, der kleine Bruder von irgendwem, der den Gang hoch und runter rennt, bis er hinfällt und laut losheult. Irgendwann macht Mom sich auf den Weg zur Toilette, und ich höre, wie sie mit ihrer aufgesetzt freundlichen Stimme Hallo sagt, dann die Stimme einer anderen Mutter, die den Gruß erwidert. Ich höre auf, Bücher in das Regal über dem Schreibtisch zu räumen, um zu lauschen. Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich, die Stimme zu erkennen – es ist Mrs Murphy, Jennys Mom.
Mom kommt ins Zimmer zurück und schließt die Tür hinter sich. »Wird ein bisschen laut da draußen«, sagt sie.
Während ich Bücher auf das Regal stelle, frage ich: »War das Jennys Mutter?«
»M-hm.«
»Hast du auch Jenny gesehen?«
Mom nickt, äußert sich aber nicht weiter dazu. Eine Weile packen wir schweigend Sachen aus. Als wir das Bett machen und gerade die gestreifte Matratze mit dem Spannbettlaken beziehen, sage ich: »Ganz ehrlich, sie tut mir leid.«
Mir gefällt, wie das klingt, aber natürlich ist es gelogen. Gestern Abend erst habe ich mich eine Stunde lang in meinem Zimmer im Spiegel begutachtet. Habe versucht, mich so zu sehen, wie Jenny mich sehen würde, und mich gefragt, ob ihr wohl auffällt, wie viel heller mein Haar vom Solarium ist und dass ich neue Ohrringe habe.
Mom, die gerade den Quilt aus einer Plastiktasche nimmt, sagt nichts. Ich weiß, sie macht sich Sorgen, dass ich einen Rückfall erleide und wieder in Schwermut versinke.
»Selbst wenn sie jetzt wieder mit mir befreundet sein wollte«, sage ich, »würde ich meine Zeit nicht mehr mit ihr verschwenden.«
Mom lächelt schmal, während sie den Quilt auf dem Bett glatt streicht. »Ist sie noch mit diesem Jungen zusammen?« Sie meint Tom Hudson, Jennys Freund, der der Auslöser für den Krach zwischen uns war. Ich zucke die Achseln, als hätte ich keine Ahnung, aber das stimmt nicht. Natürlich nicht. Den ganzen Sommer über habe ich regelmäßig Jennys Profil bei AOL aufgerufen, und ihr Beziehungsstatus blieb immer derselbe – »In einer Beziehung«. Sie sind nach wie vor ein Paar.
Ehe sie aufbricht, gibt Mom mir noch vier Zwanzig-Dollar-Scheine, und ich muss ihr versprechen, jeden Sonntag zu Hause anzurufen. »Vergiss es nicht«, schärft sie mir ein. »Und zu Dads Geburtstag kommst du.« Sie umarmt mich so fest, dass es fast wehtut.
»Ich krieg keine Luft.«
»Entschuldige, entschuldige.« Sie setzt ihre Sonnenbrille auf, um die Tränen in ihren Augen zu verbergen. Auf dem Weg aus dem Zimmer richtet sie noch mal den Finger auf mich. »Pass auf dich auf. Und kapsle dich nicht von den anderen ab.«
Ich winke, als wollte ich sie vertreiben. »Ja, ja, ja.« Von der Tür aus sehe ich ihr nach, als sie den Flur entlanggeht und ins Treppenhaus verschwindet. Dann ist sie fort. Gleich darauf höre ich zwei Stimmen, die sich nähern, das fröhliche Gelächter von...




