Sacks | Was verloren ist | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Sacks Was verloren ist

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-27870-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-641-27870-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Roadtrip durch die Südstaaten, der zum Alptraum wird.
Für die siebenjährige Dolly ist es der erste Ausflug mit ihrem Vater seit langer Zeit. Eine geheimnisvolle Abenteuerfahrt im Auto nur mit ihr und Dad und Spielzeugpferd Clemesta und so viel Junk Food, wie ihre Mutter es nie erlaubt hätte. Doch je länger die Fahrt dauert - von New York bis weit hinunter in die Südstaaten -, desto merkwürdiger und unberechenbarer wird das Verhalten ihres Vaters. Nur langsam beginnt Dolly zu ahnen, dass das kein normales Abenteuer ist, sondern eine Flucht. Und dass es für sie und Dad womöglich keine Rückkehr mehr geben wird...

Michelle Sacks, geboren in Südafrika, hat Film und Literatur in Kapstadt studiert. Mit ihren Erzählungen war sie für den südafrikanischen PEN Literary Award und für den Commonwealth Short Story Prize nominiert. Nach 'Die perfekte Lüge' ist 'Was verloren ist' ihr zweiter Roman.
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Samstag


Ich war gerade dabei, ein Löwenbaby zu retten, als mein Dad mich davontrug. Es war eine ziemlich komplizierte Geburt, die Clemesta und ich durchführten, weil das Löwenbaby im Bauch seiner Mutter feststeckte und nicht auf die Welt kommen konnte. Ich operierte, weil ich in solchen medizinischen Dingen ziemlich gut bin, während Clemesta mir assistierte und mir auf meinen Zuruf alle möglichen Instrumente reichte, zum Beispiel ein SKALPELL oder einen TUPFER oder eine LÖWENBABYGEBURTSZANGE. Das Spiel heißt TIERRETTUNG, und wir retten Tag für Tag viele wertvolle Tierleben oder sorgen dafür, dass es den Tieren besser geht, wenn sie krank sind oder bei einem Kampf verletzt werden. Ich sagte gerade ABSAUGEN BITTE, aber bevor mir Clemesta den Absauger reichen konnte, hatte Dad uns schon ins Auto gebracht, und so fing der beste Tag aller Zeiten an.

»Wo fahren wir denn hin?«, fragte ich. Dad setzte mich auf die Rückbank. Sein Gesicht glänzte ein bisschen, und er wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab.

»Dad«, sagte ich. »Wo bringst du mich hin?«

»Du und ich, wir erleben ein tolles Abenteuer«, sagte er. Sein Atem roch nach hundert Tassen Kaffee und nach etwas anderem, das ich nicht erkennen konnte.

Dad schenkte mir ein großes Lächeln mit allen Zähnen, zwinkerte mir mit einem Auge zu und tippte mir zwei Mal auf die Nase. Ich verzog das Gesicht.

»Ein Abenteuer?«

Dad nickte. »Oh ja«, sagte er. »Ein Abenteuer.«

Ich war HUNDERT PROZENT aufgeregt, weil ein Abenteuer eine riesige und unerwartete Überraschung ist, und die kriegt man normalerweise nur am Geburtstag oder an Weihnachten. Das sind nur zwei Tage im ganzen Jahr, das normalerweise 365 Tage hat, es sei denn, es ist ein SCHALTJAHR; das heißt deshalb so, weil am 29. Februar ein zusätzlicher Tag eingeschaltet wird, aber nur alle vier Jahre. An genau dem Tag hat auch Deacon mit den Riesenohren aus meiner Klasse Geburtstag, aber er darf trotzdem jedes Jahr eine Party machen. Jedenfalls war ich OBERAUFGEREGT, und als mein Vater mich anschnallte, sagte ich ihm nicht mal, dass ich das schon selbst könnte, und zwar seit EWIGKEITEN, weil sich alles in meinem Kopf drehte und ich mir hin und her überlegte, wohin wir denn nun fahren würden und was genau es für ein Abenteuer sein würde und wieso wir es EINFACH SO machten, an einem stinknormalen Samstagmorgen, der nicht mal in unserem mit drei keksförmigen Magneten am Kühlschrank befestigten ENGLISCHE-LANDGÄRTEN-Familienkalender rot angestrichen war; die Magneten sind übrigens aus Plastik, weshalb man sie auf gar keinen Fall probieren sollte.

Dad stieg ein und legte eine Reisetasche neben sich auf den Beifahrersitz. Er wischte sich noch mal das Gesicht ab.

»Wer kommt denn noch mit zu unserem Abenteuer?«, fragte ich.

»Nur wir«, sagte er. »Du und ich.«

»Und Clemesta«, korrigierte ich ihn, weil Clemesta es nicht AUSSTEHEN KANN, wenn man sie vergisst, und dann ausgesprochen grantig werden kann.

* * *

Dad ließ den Motor an, und ich schnallte Clemesta an, WIE ES SICH GEHÖRT, damit ihr nichts passierte, wenn wir einen Unfall hatten oder von einer Brücke fielen, was tatsächlich vorkommt. Einmal habe ich das im Fernsehen gesehen. Das Rettungsteam musste dicke Seile um das Auto binden, um es aus dem Wasser zu ziehen. Die Leute im Auto waren alle ertrunken, und ERTRINKEN ist in diesem Land die VIERTHÄUFIGSTE TODESURSACHE. Ich vergesse immer, was die häufigste ist, vielleicht Herzinfarkt oder dieser Krebs, an dem Millionen von Menschen sterben, so wie der Mann, der bei uns in der Straße gewohnt hat, oder Miss Jessop von meiner alten Schule, der alle Haare ausgegangen sind, oder Moms Mom, die meine Großmutter war, und noch viele andere Leute, deren Namen mir gerade nicht einfallen.

Dad fuhr aus der Ausfahrt, und ich drehte mich noch mal zu unserem Haus um, das in 11106 Astoria im Staate New York, Crescent Street 31–42, steht, ein sehr hübsches und ansprechendes Backsteinhaus mit einem großen Garten auf der Rückseite, ganz für mich allein. Mitten in dem Garten steht ein großer alter Baum, und Dad hat mir versprochen, dass er mir bald darin ein Baumhaus bauen wird. An dem Haus werde ich ein großes Schild aufhängen mit der Aufschrift DOLLY HAUPTQUARTIER INC. und manchmal auch darin übernachten, aber nur, wenn es GARANTIERT keine Spinnen oder neugierigen Mäuse gibt, die mich mit ihrem Mitternachtssnack verwechseln und anknabbern könnten. Natürlich wird Clemesta auch dabei sein, weil Clemesta immer dabei ist.

Ich hatte EINTAUSEND Schmetterlinge im Bauch. Diese Bauchschmetterlinge sind eine ganz besondere Sorte, die man bekommt, wenn man sehr aufgeregt oder nervös wegen etwas ist. Bei meinen handelte es sich um wunderschöne, bunte Tropenschmetterlinge, die in meinem Bauch eine Mordsparty mit jeder Menge Luftschlangen und Luftballons veranstalteten.

Ich gab Clemesta einen Knuff.

»Wo fahren wir denn hin für dieses Abenteuer?«, fragte ich Dad.

Er tippte etwas in sein Handy, während wir an einer Ampel standen.

»Es ist eine Überraschung«, sagte er.

»Komm, sag schon!«

»Nein, das geht nicht«, sagte er. »Noch nicht.«

»Aber du musst mir einen Hinweis geben«, sagte ich. »Damit ich raten kann. Und dann sagst du ›warm, wärmer, GANZ HEISS‹, wenn ich nahe dran bin, oder ›kalt, kälter, EISKALT‹, wenn ich falsch bin. So geht das.«

Dad kratzte sich am Kinn. »Aha«, machte er. »Na gut. Es ist ein Ort.«

»Was für ein Ort?«

»Ein toller Ort.«

»Toller als zu Hause?«

»Ja.«

»Der tollste Ort auf der ganzen Welt?«

»Ja.«

»Dann weiß ich’s: Disneyland.«

»Nein, Disneyland ist es nicht.«

Ich ließ mich in meinen Sitz zurückfallen und zog eine MEGASCHNUTE, was ich immer mache, wenn ich den Leuten zeigen will, dass ich MEGAtraurig und MEGAenttäuscht bin.

»Es ist viel besser als Disneyland«, sagte Dad, »und viel spannender. Es wird dir gefallen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es einfach.«

»Und wie lange brauchen wir bis dahin?«

»Ein paar Tage«, sagte Dad. »Nicht so lang.«

»Tage?«

»Ja.« Ich schaute zu der Reisetasche, die auf dem Beifahrersitz lag.

»Hast du schon all unsere Sachen gepackt?«

»Ja.«

»Meine auch?«

»Ja.«

»Aber ich habe dir gar nicht gesagt, was ich alles brauche.«

»Ich hab geraten«, sagte Dad. »Weil ich wollte, dass es eine Überraschung für dich ist.«

»Oh. Das ist nett. Und wir sind zu zweit, nur du und ich.«

»Ja.«

»Du und ich und Clemesta.«

Dad nickte.

»Und was ist mit Mom?«

Dad schaute mich mit seinen großen braunen Augen, die genauso aussehen wie meine, im Rückspiegel an. »Oh, Mom ist doch auf ihrem Mädels-Wochenende, erinnerst du dich?«

Ich gähnte, weil ich immer noch so müde war, obwohl es schon längst Zeit zum Aufstehen war. »Mit Rita?«, fragte ich.

Dad nickte.

»Das hatte ich vergessen.«

»Sie ist schon früh los«, sagte Dad. »Bevor du aufgestanden bist.«

»Aha.«

»Deshalb dachte ich ja auch, wir könnten uns ein Dolly-und-Dad-Wochenende gönnen.«

Ich nickte. »Ja, und wahrscheinlich haben wir sogar noch mehr Spaß.«

Mir fiel wieder die Tierrettung ein, unser Spiel, und dass der umgekippte Tierrettungswagen immer noch auf der Veranda lag.

»Ich hoffe bloß, dass es dem Löwenbaby gut geht«, sagte ich zu Clemesta.

»Es wird ihm schon gut gehen«, meinte Clemesta. »Ist ja sowieso nur ein Spiel.«

»Ja, und wir fahren auf ein echtes Abenteuer. Das ist viel wichtiger.«

»Ja.«

»Genauer gesagt sind wir noch nie zu einem echten Abenteuer gefahren. Nur einmal in den Urlaub, drei Tage und vier Nächte in Montauk, mit Mom und Dad.«

»Genau«, sagte Clemesta, »aber das hier ist was anderes.«

»Eben«, erwiderte ich. »Weil es eine Überraschung ist und wir noch vor ein paar Sekunden gar nicht gewusst haben, dass es passiert.«

Clemesta nickte, und meine Schmetterlinge flatterten wieder wie wild. Ich fand es sehr aufregend, Dad für mich ganz allein zu haben.

Clemestas Bauch war genauso randvoll mit Schmetterlingen wie meiner, und das liegt daran, dass wir Zwillinge sind. Wir beherrschen fließend TELEPATHIE, was bedeutet, dass wir miteinander reden können, ohne ein Wort zu sagen, und dass wir nicht nur Gedanken lesen, sondern auch in unsere Herzen blicken können. Wir sind immer einer Meinung, ganz egal, ob es um unser Lieblingsessen geht oder wir traurig sind, weil wir jemanden nicht leiden können und ihn am liebsten wie durch Zauberhand – – in Luft auflösen würden. Clemesta und ich haben auch genau die gleiche Haarfarbe, die man KASTANIENBRAUN nennt, lange, glänzende Haare. Das bedeutet, es ist dick und schimmert und ist schöner als das von anderen Leuten. Sie bürstet mir die Haare, und ich bürste ihre, HUNDERT...


Sacks, Michelle
Michelle Sacks, geboren in Südafrika, hat Film und Literatur in Kapstadt studiert. Mit ihren Erzählungen war sie für den südafrikanischen PEN Literary Award und für den Commonwealth Short Story Prize nominiert. Nach »Die perfekte Lüge« ist »Was verloren ist« ihr zweiter Roman.

Schwaab, Judith
Judith Schwaab, Jahrgang 1960, studierte Italienische Philologie. Sie ist Lektorin und Übersetzerin aus dem Englischen und Italienischen, unter anderem von Anthony Doerr, Daniel Mason, Jojo Moyes, Sue Monk Kidd, Maurizio de Giovanni und Stefania Auci. Für ihre Übersetzung von Chimamanda Ngozi Adichies "Blauer Hibiskus" erhielt sie 2020 den Internationalen Hermann-Hesse-Preis.



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