Schiebel | Das Wunder von Mals | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 225 mm

Schiebel Das Wunder von Mals

Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet

E-Book, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 225 mm

ISBN: 978-3-96006-226-4
Verlag: oekom
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Überall auf der Welt befindet sich die industrielle Landwirtschaft auf dem Vormarsch. Überall? Nein! Ein von unbeugsamen Vintschgern bewohntes Dorf in Südtirol hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Seine Bewohner sind wild entschlossen: Ihr Mals soll die erste pestizidfreie Gemeinde Europas werden. Bei einer Volksabstimmung entschied sich eine Mehrheit für eine Zukunft ohne Glyphosat & Co. Ein ungleicher Kampf beginnt: hier die 5000-Seelen Gemeinde, angeführt von einem Dutzend charismatischer Querdenker, dort eine übermächtige Allianz aus Bauernbund, Landesregierung und Agrarindustrie. Alexander Schiebel erzählt in seinem Buch nicht nur die Geschichte dieses Aufstandes, er enthüllt gleichzeitig das Rezept jenes Zaubertrankes, der die mutigen Malser unbesiegbar macht. Eine Inspirationsquelle für Aufständische in aller Welt – und ein lebendiges Porträt jenes kleinen Dorfes, das sein Schicksal selbst in die Hand nehmen möchte.
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1 Ein unbeugsames Dorf Wie alles begann
In Österreich ist das Benzin viel günstiger«, sagt Gianni Bodini auf dem Weg zur Kassa. »Deshalb fahren viele Südtiroler extra hier herauf, um zu tanken.« Mit »hier herauf« meint Gianni Bodini den Reschenpass an der Grenze zwischen Österreich und Italien, zwischen Tirol und Südtirol. Mein Blick fällt auf ein Schild, das den »höchstgelegenen Campingplatz Österreichs« anpreist. Er liegt direkt hinter der Tankstelle und sieht wenig einladend aus. An der Kassa bestehe ich darauf, das Benzin bezahlen zu dürfen. Schließlich gebe es für die Teilnahme an unserem Filmprojekt kein Honorar. Gianni lässt sich schließlich überreden. Bevor wir wieder in den Wagen steigen, sehe ich im ersten Stock des Tankstellengebäudes eine Schneewittchenfigur in einem der Fenster. Hinter den anderen Fenstern stehen die dazugehörigen Zwerge. Ich zähle nur sechs. Der siebte Zwerg fehlt. Doch er ist nicht der einzige Mangel. Alles an diesem Ort strahlt eine eigenartige Trostlosigkeit aus. Vielleicht weil die meisten der Gebäude nicht mehr benötigt werden. Wehmütig erzählen sie von einer anderen Zeit, ihrer früheren Bedeutung. Sie scheinen darüber zu klagen, dass heute niemand mehr anhält. Niemand kurbelt das Seitenfenster herunter, um seinen Reisepass vorzuweisen. Niemand wechselt hier Schilling in Lire oder umgekehrt. Niemand steigt hundert Meter nach dem Grenzübertritt aus, um feierlich den ersten italienischen Espresso zu trinken. Auch Gianni Bodini und ich steigen nicht aus. Wir parken unseren Wagen zwar vor einem flachen Gebäude mit der Aufschrift Bar Spaghetteria Daniel, neben dessen Eingang eine italienische Flagge lustig im Wind flattert, aber nicht, um den Grenzübertritt zu zelebrieren, sondern um die vor uns liegende Arbeit zu besprechen. Im Inneren der Bar ist es so dunkel, dass man auf Kunstlicht angewiesen ist. In einer Ecke des Raums sitzt ein dicker Mann mit heruntergezogenen Mundwinkeln und einem Bart, der an einen Seehund erinnert. Er starrt auf ein Glas Bier, das vor ihm auf dem Tisch steht. Sonst ist die Bar menschenleer. Wir gehen zum Tresen und bestellen einen Espresso und eine heiße Schokolade bei einer etwa 30-jährigen Frau, die nur italienisch spricht. Gianni bringt in Erfahrung, dass diese Frau von Bologna hier heraufgekommen ist, weil sie weiter unten keine Arbeit gefunden hat. Mein Italienisch reicht aus, um Giannis Gespräch mit der Frau in groben Zügen zu folgen, doch es reicht nicht aus, um selbst auch nur einen Satz hervorzubringen. Es reicht übrigens auch nicht aus, um den italienischen Radiosprecher zu verstehen, der seine Moderationen in atemberaubender Geschwindigkeit vorträgt. Zur Zeit der Römer führte die wichtigste Nord-Süd-Verbindung hier über den Reschenpass: die Via Claudia Augusta. Jahrhundertelang wurden hier Menschen und Waren vom Süden in den Norden und vom Norden in den Süden transportiert. Erst im 14. Jahrhundert, mit dem Bau einer Straße durch das Eisacktal, verlor der Reschenpass einen Teil seiner Bedeutung. Zum Glück, möchte man heute sagen. Während nämlich an diesem Morgen des 17. Oktober 2014 endlose Fahrzeugkolonnen über den Brennerpass und die Autostrada A22 durch das Eisacktal rollen, passiert den Reschenpass nur dann und wann ein vereinzeltes Fahrzeug. The main ingredient is love
»Der Film soll eine Art Road-Movie werden«, erkläre ich Gianni. »Wir folgen dem Verlauf der Via Claudia Augusta durch ganz Südtirol, vom Reschenpass bis zur Salurner Klause, und halten unsere Augen offen, warten ab, was uns widerfährt.« »Wie zum Beispiel unsere Begegnung mit einer Frau aus Bologna, die nur am Reschenpass Arbeit findet?«, fragt Gianni. »Genau.« Ich bestelle ein Croissant, das parfümiert schmeckt, und plaudere mit Gianni über die Hintergründe des Filmprojekts, dessen Dreharbeiten gerade beginnen. Produziert wird dieser Film für die aktuelle Kampagne der Südtirol-Werbung. Als Regisseur war ich ausgewählt worden, weil ich als Spezialist für einfühlsame Filmporträts gelte. Seit ich nämlich vor rund drei Jahren von Wien nach Südtirol übergesiedelt war, hatte ich Monat für Monat ein solches Filmporträt gedreht und auf der Website »Südtirol erzählt« veröffentlicht. Im Mittelpunkt standen jeweils besonders interessante Menschen, die mir ihre Geschichten ausführlich erzählten. Im ersten Porträt der Serie ging es um den Bozner Eismacher Paolo Coletto. Das Interview hatte ich damals auf Englisch geführt, da ich noch kein Wort Italienisch verstand. Das Englisch von Paolo Coletto klang ziemlich genau wie das Englisch von Roberto Begnini im Film Down by Law. Und irgendwann sagte Paolo dann mit unnachahmlichem Akzent einen Satz, den ich nie vergessen werde: »Let’s face it – the main ingredient is love.« Ich glaube, das trifft nicht nur auf das Handwerk des Eismachers zu, sondern auf jedes Handwerk. Ganz speziell auf mein eigenes. Immer wenn mein Herz bei einer Kameraeinstellung höher schlägt, immer wenn ich innerlich in Jubel ausbreche, während ich durch den Sucher der Kamera blicke, dann entstehen besondere Bilder. Andrej Tarkovsky sagte einmal über die Bilder, die er bei den Dreharbeiten seines Filmes Nostalgia machte, dass diese am Ende viel düsterer wirkten, als sie eigentlich dürften. Als ob sich Tarkovskys Gefühle damals in geheimnisvoller Weise auf die Bilder ausgewirkt hätten. »Ich glaube auch an die Übertragung von Gefühlen auf Zelluloid«, sage ich zu Gianni. »Obwohl es natürlich heute kein Zelluloid mehr ist. Was man mit Liebe tut, enthält diese Liebe schließlich auch.« Ich schaue ihm geradewegs in die Augen, um zu sehen, ob er mich nun für verrückt hält. Gianni Bodini ist Fotograf. Seit Jahren erscheint Woche für Woche eines seiner Bilder in der Lokalzeitung des Vinschgau. Diese Bilder produziert er sehr aufwendig. Oft kehrt er zu einem Ort immer und immer wieder zurück, um mit großer Geduld auf den richtigen Augenblick zu warten. Er lächelt mich an. »Ich bin meine Bilder!« So werde er seine nächste Ausstellung nennen. »›Ich bin meine Bilder!‹ Das wird ihr Titel sein«, wiederholt Gianni Bodini. Er hält mich also nicht für verrückt. Und ich erinnere mich daran, dass eine seiner Ausstellungen der Grund für unsere Reise ist. Gianni Bodini hatte nämlich eine Fotoausstellung über die Via Claudia Augusta zusammengestellt, die an verschiedenen Orten entlang der alten Römerstraße zu sehen war. Als ich diese Ausstellung vor einigen Monaten besuchte, kam mir die Idee zu diesem Filmporträt. Denn in gewisser Weise ist Gianni Bodini selbst ein Produkt der alten Römerstraße, die Norden und Süden verbindet. Ohne erkennbaren Grund war er als junger Italiener vor Jahren nach Südtirol gekommen, um sich im Vinschgau niederzulassen. Als wir aus der Bar heraustreten, hat es zu regnen begonnen. Im Gegenlicht der aufgehenden Sonne sehen die Regentropfen wie silbrig-glänzende Fäden aus. Wir fahren los und überqueren nach kurzer Zeit den höchsten Punkt der Passstraße. Unser Blick fällt nun auf einen langgezogenen See. »Der Reschensee«, erklärt Gianni. »Ein künstlicher See. Ein Stausee.« Dahinter, in weiter Ferne, wird das Tal durch einen majestätischen Gebirgszug begrenzt. »Das Ortler-Massiv«; Gianni zeigt mit dem Finger auf einen hochaufragenden, schneebedeckten Gipfel an der östlichen Flanke des Gebirgszugs. »Und da auf der rechten Seite, das ist der Ortler selbst. König Ortler, wie die Einheimischen sagen. Mit einer Höhe von 3.900 Metern ist er der höchste Berg in Tirol.« Zerstörte Kulturlandschaft für ein Überraschungsei
Die Straße schlängelt sich am Ufer des Sees entlang. In einiger Entfernung sehe ich die Spitze eines Kirchturms aus dem Wasser ragen. Ich kenne dieses Motiv schon von Ansichtskarten und aus Südtirol-Bildbänden. Am Ufer, dort, wo der Turm aus dem Wasser ragt, wurde ein Parkplatz für Touristen angelegt. Wir halten an und steigen aus. Gianni geht hinunter zum Ufer. Ich schlendere inzwischen zu einer großen Glasvitrine, die sich genau auf der Höhe des Kirchturms befindet. Sie enthält ein Modell, das zeigt, wie es hier früher aussah. Man sieht eine weite Hochebene mit zwei kleinen Naturseen: dem Reschensee, der am Nordrand des heutigen Stausees lag, und dem Mittersee an dessen Südrand. Genau unterhalb von mir, wo jetzt der Kirchturm aus dem Wasser ragt, befand sich das Dörfchen Graun. Auf der gegenüberliegenden Seite erstreckten sich die Weiler Arlund, Piz und Gorf. Eingebettet waren diese Ansiedlungen in rund 500 Hektar Kultur- und Naturlandschaft, entstanden in 1.000-jähriger Siedlungsgeschichte. Ein kurzer Begleittext erklärt, dass es bereits in den 20er-Jahren Pläne gab, das Niveau der Naturseen durch einen Staudamm um fünf Meter anzuheben. 1939 wurden diese Pläne von der faschistischen Regierung geändert. Der Wasserspiegel sollte nun um 27 Meter steigen. Dies lag, so lese ich, im nationalen Interesse zur Stärkung der Industrie. Durch den Krieg verzögerte sich der Baubeginn für den Stausee bis zum Jahr 1949. Die Bevölkerung wurde enteignet und umgesiedelt. 181 Wohnhäuser und landwirtschaftliche Gebäude wurden gesprengt. Nur den romanischen Kirchturm aus dem 14. Jahrhundert ließ man stehen. Denkmalschutz. Die betroffenen Gemeinden, so lese ich, waren dagegen machtlos. Denn unter dem faschistischen Regime in Italien hatten die Gemeinden Südtirols von 1923 bis in das Nachkriegsjahr 1952 keine gewählten Volksvertreter, weder Gemeinderäte noch Bürgermeister. Im Spätsommer 1950 wurde schließlich das gesamte Gebiet unter Wasser gesetzt, und ein riesiger Stausee mit 677 Hektar Fläche...


Schiebel, Alexander
Alexander Schiebel wurde 1966 in Salzburg, Österreich geboren. Gleich nach dem Abitur hat er seine Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen zum Beruf gemacht und in Wien das Filmhandwerk erlernt. 2013 zog er für fünf Jahre nach Südtirol und arbeitete in dieser Zeit an Buch und Film zum »Wunder von Mals«. Für das Buch über den Widerstand der Gemeinde Mals gegen den Pestizideinsatz in den Südtiroler Apfelplantagen wurde er 2018 mit dem Salus-Medienpreis ausgezeichnet. Nach kurzem Aufenthalt in Leipzig befindet sich Schiebel seit 2019 auf weltweiter Recherchetour zu neuen Buch- und Filmprojekten.

ALEXANDER SCHIEBEL hat seine Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen gleich nach dem Abitur zum Beruf gemacht und in Wien das Filmhandwerk erlernt. Nach einem Zwischenspiel als Webentwickler und im Online-Marketing steht seit 2013 das Wunder von Mals im Mittelpunkt seines Denkens und Schaffens. Seit einem Jahr lebt der gebürtige Salzburger nun mit seiner Familie in Mals, um das kleine Dorf im Vinschgau in seinem mutigen Kampf zu unterstützen.


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