Schönherr Der Widerschein
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-627-02201-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Debütromane in der FVA
ISBN: 978-3-627-02201-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Schönherr, 1980 am Niederrhein geboren, lebt in Leipzig. 2007 gewann er mit seinem Regiedebüt 'König Ubu' beim Internationalen Festival für Theaterregie in Trient den Preis der Festivaljury sowie den Preis der Jungen Jury. Von 2008 bis 2012 leitete er das Festival versionale und ist seit 2011 beim Theater der Jungen Welt in Leipzig als Theaterpädagoge engagiert. 'Der Widerschein' ist sein erster Roman.
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Nach dem Besuch in einer entfernten Gemeinde wurde Hobrecht wie gewohnt von zahllosen Bittstellern umringt. Die Sonne war im Begriff unterzugehen, das Ende des Tages war fur den Pfarrer noch lange nicht in Sicht. Man bedrangte ihn von allen Seiten, forderte mit Nachdruck die Herausgabe von Almosen und verlangte nach Brot. Hobrecht druckte allen sein Mitgefuhl aus, versprach umgehende Unterstutzung und bekam kaum mit - bedingt durch die Fulle der Fragen und das gleichzeitige Nachdenken uber mogliche Losungen -, wie mude und erschopft er eigentlich war.
Selbst auf dem spat angetretenen Heimweg wurde Hobrecht um ein Gesprach gebeten - unglücklicherweise von einem landlaufig bekannten Taugenichts, der meistens mit ausdrucksloser Miene durch die Gegend lief, gelegentlich aber lautstark das Ende der Menschheit verkundete, um danach angeblich tagelang seinen Rausch auszuschlafen.
Uberraschend deutlich begann jener Mensch zu sprechen: Er benotige den Beistand des Herrn Pfarrer, sofort, sofort! Der Verruckte machte einige hastige Bewegungen um Hobrecht herum, Schrittchen, Sprunge, Tanzeleien - ein wahnwitziges Schauspiel! Ebenso unerwartet blieb der Mann jedoch plotzlich stehen, so dass er vom letzten Licht des Horizonts beschienen wurde; ein zartes Flimmern umspielte seine nun erstarrten Umrisse.
Erst nach einem Moment bemerkte Hobrecht, dass sein Gesprachspartner ein unformiges Bundel aus Lumpen und zerschlissenen Decken auf dem Arm hielt, in dem er unscharf das Gesicht eines etwa drei- oder vierjahrigen Kindes erblickte, tief und fest schlafend.
In wirren Worten und Satzen erfuhr Hobrecht nun, dass es sich bei diesem Jungen um einen gewis- sen Ferdinand Meerten handelte, der mittlerweile leider beide Elternteile verloren hatte: den Vater durch Einruckbefehl, die Mutter starb, vermutlich an der Schwindsucht - der Mann selbst schien ein Onkel von jenem besagten Ferdinand zu sein.
Der Pfarrer nickte, obwohl er vor Mudigkeit kaum noch zuhoren konnte. Das Tageslicht war vollstandig verschwunden, Hobrecht erkannte in der Dunkelheit nur noch die Umrisse des Mannes. Zum Gluck war dem Pfarrer durch seine langjahrige Erfahrung schnell klar, worauf dieses Gesprach hinauslief. Bereitwillig und geduldig horte er zu, nickte aufmunternd in die Nacht hinein und wartete, bis dieser Mensch zum Ende seiner Rede kam: Er, ein einfacher Mann, in seinem Zustand, ohne Ruckhalt einer guten Familie, er sei doch vollig unfahig, fur das Heranwachsen des Kindes zu sorgen, solch ein liebes Geschopf, ein guter Junge, ein vorbildliches Kind. Er hoffe da auf das Verstandnis des Herrn Pfarrer - und naturlich dessen tatkraftige Unterstutzung.
Schnell traf man eine Vereinbarung, die Hobrecht bereits erwartet hatte. Ferdinand solle noch heute durch den Herrn Pfarrer zu einer anderen Familie gegeben werden, die gegen eine entsprechende Bezahlung die Aufzucht von Waisen anbot. Sobald das Kind groß genug sei, durfe es zudem in die vom Pfarrer geleitete Dorfschule gehen.
Hobrecht steckte das Geld des Onkels ein und nahm den schlafenden Jungen an sich.
Ein Rauspern, das einem Bellen gleichkam, drang aus der Kehle des Onkels.
Allerdings gebe es da noch eine Kleinigkeit, die erwahnt werden musse.
Hobrecht hielt das Bundel auf dem Arm, fragend sah er in die Richtung, aus der die Stimme des Onkels gekommen war.
Dieses Kind, der Onkel flusterte nun, es habe zu ihm gesprochen.