Schreiner | Die Eskimorolle | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Schreiner Die Eskimorolle


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7317-6025-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6025-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am Anfang steht die traumatisierte Elterngeneration und ihr dogmatisches Schweigen. Die Mutter, die das erste Kind während der Geburt verliert, der alternde, in Erinnerungen an den Böhmerwald schwelgende Vater, der schwermütige Onkel Hans, die knacksende, im russischen Feldlazarett aufgenommene zerbrechliche Platte mit der hellen Jungenstimme des kurz darauf gefallenen Onkel Hugo.

Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmu?nd, Niederösterreich. Sie erhielt fu?r ihre Bu?cher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Wu?rdigungspreis fu?r Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit Kein Platz mehr war sie 2018 fu?r den Österreichischen Buchpreis nominiert. www.margitschreiner.com
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Anfangs

Ich bin durch einen Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Das Kind vor mir hat meine Mutter verloren, weil es eine Steißlage war und die Ärzte nicht operieren wollten. Aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich aus Neugier oder aus Sportgeist, wollten sie das Kind unbedingt während der Geburt drehen. Was nicht gelang. Das Kind, das Marlies heißen sollte, blieb stecken. Nicht nur, daß es im Bauch meiner Mutter erstickte, es saß auch fest. Die Ärzte überlegten, es zu zerstückeln. Aber dann schafften sie es doch irgendwie, das tote Kind aus meiner Mutter zu ziehen. Sie wurde dabei so verletzt, daß sie nicht mehr auf natürliche Weise gebären konnte.

Ich kam zwei Tage vor Weihnachten zur Welt. Meine Mutter hat mir erzählt, daß sie dann am Abend des 24. Dezember plötzlich den Krankenhauschor »Uns ist ein Kind geboren« und »Stille Nacht, heilige Nacht« singen hörte und daß sie, vom Morphium noch ganz benommen, alles durcheinanderbrachte und gar nicht mehr richtig unterscheiden konnte zwischen dem holden Knaben im lockigen Haar und mir. So etwas kann zur Belastung werden.

Am Tage meiner Geburt erhielt Neruda den Stalinpreis, und am Dachstein ging eine Lawine nieder, die drei Menschen unter sich begrub.

Meine Tauffeier habe in kleinstem Kreise stattgefunden. Es sei im Januar 1954, im Jahrhundertwinter gewesen, und deshalb hätte ich eine weiße Wolljacke mit Silberfäden getragen und ebensolche Wollfäustlinge und auch so eine Haube, aber mit langen seidenen Schleifen, und hätte außerdem in einem Steckkissen gelegen, das mit langen seidenen Schleifen zugebunden gewesen sei.

Der Kachelofen im Wohnzimmer sei gut geheizt gewesen, und zwei volle Eimer mit Koks hätten neben dem Ofen gestanden. Auf der Fensterscheibe hätten sich Eisblumen gebildet. Es habe heiße Schokolade mit einem kleinen Schluck Rum zu trinken gegeben und verschiedene Torten zu essen.

Die Erde draußen habe warm unter einer dicken Schneeschicht gelegen. Die Vögel seien in dem Vogelhaus auf unserem Balkon gefüttert worden, und immer wieder hätten die fetten Tauben versucht, die Blaumeisen zu vertreiben. Und die Rotkehlchen, die mein Vater besonders gemocht habe. Er sei während der Tauffeier mehrmals ans Balkonfenster getreten und habe an die Scheibe geklopft, um die Tauben zu verjagen.

Gegen Abend habe es wieder stärker zu schneien begonnen. Im Licht der Laterne, das damals noch gelb gewesen sei, habe man die Schneeflocken dicht und schwer fallen gesehen. Um sechs Uhr habe es Ananasbowle gegeben und Wurstbrötchen, auf die mit bunten Plastikzahnstochern Sardellenringe gespießt worden seien. Die Plastikzahnstocher habe man auch benützen können, um die Ananasstückchen aus der Bowle zu fischen.

Mein Vater habe die Gitarre gestimmt und »Drei weiße Birken in meiner Heimat stehn« gesungen, und meine Mutter habe »Uns ist ein Ros entsprungen« gesungen. Und draußen habe es geschneit und geschneit, als ob es kein Ende gäbe mit dem Jahrhundertschnee. Die wenigen Autos, die es damals gegeben habe, habe man nicht gehört. Der Schnee habe fast alle Geräusche verschluckt; nur das Gurren der Tauben nicht.

Im Laufe des Abends habe mein Vater eine Taufrede gehalten, die er sich zuvor auf einen Zettel notiert habe. Er habe gesagt, daß meiner Mutter und ihm zwei Tage vor Weihnachten ein lang ersehnter Wunsch in Erfüllung gegangen sei, und meine Mutter habe geweint. Mein Vater habe sein Glas erhoben, und während draußen der Schnee so dicht gefallen sei, daß er wie ein weißer Vorhang im Fenster gehangen habe, hätten alle auf meine Geburt angestoßen.

Meine früheste Erinnerung ist die an den Beiwagen.

Ich weiß noch, er war feuerrot. Oder nein, er war grellgrün. Feuerrot war der Overall, den ich bei den Fahrten im Beiwagen trug, denn der Wind pfiff durch die Ritzen. Jetzt weiß ich es wieder ganz genau: Der Beiwagen war schwarz!

Meine Eltern haben mir oft erzählt, wie sie ihn in Wien gekauft und abgeholt hatten. Schon beim Abholen des Beiwagens hätten sie sich geschworen, ihn bald wieder zu verkaufen. Es habe an dem Tag nämlich fürchterlich geregnet und gestürmt. Während mein Vater auf dem Motorrad völlig durchnäßt worden sei und die ganze Fahrt gegen den Seitenwind habe lenken müssen, sei meine Mutter trocken im Beiwagen mit dem Verdeck gesessen und habe Angst gehabt, mein Vater könne sie vergessen. Meine Eltern haben das Motorrad mit Beiwagen dann leider wirklich bald wieder verkauft, weil meine Mutter diese Angst nie ganz überwinden konnte.

Wir sind bestimmt nicht oft mit dem Beiwagen gefahren. Ich erinnere mich nur an die Fahrt zum Sudetendeutschentreffen nach Passau. Von dieser Fahrt gibt es drei Fotos im Familienalbum, unter denen »Auf der Fahrt zum Sudetendeutschentreffen in Passau« steht.

Das erste Foto, wahrscheinlich mit Selbstauslöser geknipst, zeigt meinen Vater auf dem Motorrad und meine Mutter und mich neben dem Beiwagen. Im Hintergrund sind die VÖEST-Häuser. Da es damals noch keine Farbfotos gab, kann man nicht sehen, daß mein Overall feuerrot ist. Auch die Farbe des Beiwagens kann man natürlich nicht erkennen. Aber ich weiß, daß er schwarz war.

Das zweite Foto zeigt uns in Aschach. Auch auf diesem Foto sitzt mein Vater auf dem Motorrad, während meine Mutter und ich neben dem Beiwagen stehen. Nur daß hier statt dem VÖEST-Häuserblock die Donau im Hintergrund ist.

An die Fahrt von Linz nach Passau, an der Donau entlang, erinnere ich mich ganz genau. Ich erinnere mich, auf dem Schoß meiner Mutter direkt an der Beiwagenwindschutzscheibe gesessen und die Donau in der Sonne glitzern gesehen zu haben. Ich erinnere mich an das Geschaukel, an das Gebrumme und Gepfeife im Beiwagen. Und daß man das Verdeck öffnen konnte. Einmal sind wir mit offenem Verdeck gefahren, und der Wind hat an meinen Haaren gezerrt, und der Himmel war blau.

Auf dem dritten Foto sieht man nichts als einen langen, klobigen Tisch mit einem Schild »Matura 1922«. Mein Vater hatte 1922 im heutigen Tschechien sein Abitur gemacht. Wir haben also höchstwahrscheinlich in der Nibelungenhalle in Passau, wo die Sudetendeutschentreffen immer stattfanden, an diesem langen, klobigen Tisch mit anderen, die 1922 im heutigen Tschechien ihr Abitur gemacht hatten, zusammengesessen. Aber das kann ich natürlich nicht so genau sagen. Ich erinnere mich nur, daß ich ein kurzes grünes Sommerkleid trug und ziemlich fror in der düsteren Halle. Und daß ich unter dem Tisch saß und den ersten Marienkäfer meines Lebens sah. Er setzte sich auf eines meiner nackten Beine, spazierte es entlang und erklomm dann meine Zehen. Als er auf meinem großen Zeh angelangt war, flog er weg. Er war rot und hatte auf jedem Flügel einen schwarzen Punkt.

Mit vier Jahren besuchte ich den Kindergarten. Er lag auf dem Spallerhof direkt neben der Spallerhofkirche. Wenn die Glocken der Spallerhofkirche zur Messe läuteten, verstanden wir im Kindergarten unsere Schwester Mathilda nicht mehr. Die Schwester Mathilda war Nonne. Einmal zeigte sie mir eine Glaskugel, da war ein Schlitten mit einem Pferd und dem Weihnachtsmann drin. Wenn man sie umdrehte, schneite es.

Meiner Erinnerung nach hatte Schwester Mathilda große, braune Augen, lange, dunkle Wimpern, eine gerade Nase und einen großen Mund. Sie war sanft und gütig. Ich mochte sie sehr gern, so daß es eigentlich merkwürdig ist, daß ich den Kindergarten haßte. Aber meine Mutter hat immer gesagt, daß ich mich jahrelang jeden Morgen, wenn wir uns auf den Weg machten, weinend an unser Treppengeländer geklammert hätte. Es kann nur an den anderen Kindern gelegen haben, daß ich den Kindergarten so haßte.

In dem Kindergarten auf dem Spallerhof waren, weil es ein katholischer Kindergarten war, alle katholischen Feste sehr wichtig. Die Schwester Mathilda konnte so sanft vom Jesukind sprechen, daß es mir heute noch vorkommt, als hätten wir es damals gesehen, blond und lockig, mit blauen Augen und kleinen, dicken Zehen.

Zu Ostern haben wir Eier bunt bemalt und gelernt, daß Gott auferstanden ist. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang an ein Heiligenbildchen, das wir im Kindergarten von der Schwester Mathilda bekommen hatten und auf dem die Himmelfahrt abgebildet war. Es kann aber auch sein, daß wir das Heiligenbildchen später in der Volksschule von der Religionslehrerin bekamen, zur Belohnung für zehn besuchte Maiandachten. Jedenfalls sah man darauf einen bärtigen Mann zwischen zwanzig und dreißig Jahren steil in die Höhe fahren, unter ihm Wiesen, Felder und Bäume und über ihm eine Wolke, hinter der hielt Gottvater Ausschau nach seinem gerade aufsteigenden Sohn. Und obwohl es ja eindeutig nach oben ging, ist es mir als Kind immer so vorgekommen, als müßte sich das rotbraune Gewand Jesu eigentlich bauschen, statt still in vielen Falten um seinen Körper zu fallen.

Zu Fronleichnam führten die Mädchen aus dem Kindergarten die Prozession an. Direkt hinter dem Pfarrer und seinen Meßdienern. Wir hatten alle weiße Kleider an und Blütenkränze auf dem Kopf. Die Blütenkränze waren nicht echt, sondern aus Seide. Ich weiß noch genau, wie mein Kranz aussah: Er hatte weiße Seidenröschen und dazwischen grüne Seidenblätter. Es gibt ein Foto, da hat mein Onkel Fritz plötzlich meinen Blütenkranz auf. Wahrscheinlich war gerade Fasching, denn er trägt dazu eine Hitlertolle und ein entsprechendes Bärtchen.

Aber damals bei der Fronleichnamsprozession hatte ich meinen Blütenkranz selber auf, und ich ging hinter dem Pfarrer und seinen Meßdienern her mit meinem weißen Kleid und dem mit der Brennschere gewellten Haar und streute Blumen aus einem Korb, den ich am Arm trug. Echte Blumen....


Schreiner, Margit
Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmu¨nd, Niederösterreich. Sie erhielt fu¨r ihre Bu¨cher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Wu¨rdigungspreis fu¨r Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit Kein Platz mehr war sie 2018 fu¨r den Österreichischen Buchpreis nominiert.
www.margitschreiner.com

"Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren, wo sie nach Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie heute mit ihrem Mann in Gmünd. Seit 1983 tätig als freie Schriftstellerin, erhielt sie für ihre Bücher zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis (2016). Mit "Kein Platz mehr" war sie 2018 für den Österreichischen Buchpreis nominiert."



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