Schreiner Heißt lieben
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7317-6023-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6023-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmu?nd, Niederösterreich. Sie erhielt fu?r ihre Bu?cher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Wu?rdigungspreis fu?r Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit Kein Platz mehr war sie 2018 fu?r den Österreichischen Buchpreis nominiert. www.margitschreiner.com
Autoren/Hrsg.
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Am Ende bringen wir unsere Mütter um, weil wir nicht mehr lügen wollen.
Es beginnt bereits im November. Wir fühlen uns nicht wohl und wissen nicht, warum wir uns nicht wohl fühlen. Wir schieben es auf den Nebel oder den Schneeregen. In Wirklichkeit haben wir Angst vor Weihnachten. Sobald wir die ersten Schokoladeweihnachtsmänner im Kaufhaus sehen, beginnt die Angst. Und steigert sich dann, Tag für Tag.
Wir fühlen uns immer schlechter, haben ständig kalte Füße und Kopfschmerzen, beginnen zu husten und versuchen, den Weihnachtsbesuch bei unseren Müttern abzusagen. Da unsere Mütter erfahrungsgemäß Krankheiten ignorieren, wenn sie ihnen nicht in den Kram passen, beginnen wir zu lügen. Wir sprechen von unaufschiebbaren beruflichen Terminen, und da auch das nichts nützt, schieben wir unsere Kinder vor. Wir er?nden ansteckende Kinderkrankheiten wie Masern oder Scharlach.
Am Ende bringen wir unsere Mütter um, weil wir nicht mehr lügen wollen. Unsere Bedenken, wir könnten sie zu Weihnachten anstecken, so daß sie dann geschwächt sind und womöglich hinfallen und dann später infolge des Sturzes ins Pflegeheim müssen und dort an einem Organzusammenbruch sterben werden, tun sie lachend ab.
Die Mütter tun unsere Bedenken ja immer mit einem Lachen ab. Einerseits haben sie selbst vor allem und jedem Angst und warnen uns ununterbrochen: vor dem Straßenverkehr, vor schlechter Gesellschaft, vor Drogen, dem anderen Geschlecht, verdorbenen Mahlzeiten, Hundekot auf den Straßen, den Folgen von Masern, dem Lesen bei schlechtem Licht, Mangel an Frischluft und so weiter und so fort, andererseits akzeptieren sie nicht die geringsten Einwände unsererseits. Wir sollen uns unseren Müttern mit Haut und Haar ausliefern. Darauf läuft alles hinaus. Sie selbst haben eine lebensbedrohende, ansteckende Krankheit, unsere Bedenken tun sie aber mit einem Lachen ab. Es sei doch verrückt anzunehmen, sagen sie, daß sie ihr eigenes Enkelkind anstecken würden. Auf diese Weise zwingen sie uns, sie anzulügen. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb.
Unsere Tochter habe leider Scharlach bekommen, sagen wir unserer Mutter eine Woche vor Weihnachten am Telephon, weil wir nicht sagen wollen, daß wir mit einem Kleinkind niemanden besuchen, der sich nicht über die Gefährlichkeit und die Ansteckungsgefahr seiner Krankheit im klaren ist. Gegen Scharlach hat unsere Mutter keine Chance. Es gibt eine gesellschaftliche Übereinkunft, ein scharlachkrankes Kind nicht mit dem Zug weißgottwohin zu transportieren. Aber Schuldgefühle bleiben zurück. Weil wir die Mutter angelogen haben. Zu all den Lügen, mit deren Hilfe wir es am Ende doch noch geschafft haben, halbwegs erwachsen zu werden, ist eine weitere dazugekommen. Lügen haben immer Lügen zur Folge. Oder Anpassung. Da wir nicht jedes Jahr eine andere Kinderkrankheit er?nden können, die uns daran hindert, mit unseren Kindern und Müttern gemeinsam Weihnachten zu feiern, geben wir nach.
Zu Weihnachten fahre ich, obwohl ich krank bin, mit meiner Tochter zu meiner Mutter. Ich rufe die Mutter vorher mehrmals an und will den Besuch verschieben, da ich stark huste und Antibiotika nehmen muß. Seit dem Tod des Vaters huste ich jedes Jahr im Winter und muß dann Antibiotika nehmen. Jedenfalls will ich meine Mutter nicht anstecken und auch mich selbst will ich schonen. Die lange Anreise von der Stadt, in der ich mich angesiedelt habe, weil es mich immer schon möglichst weit von meiner Geburtsstadt weggezogen hat, mit einer siebenjährigen Tochter, ist anstrengend. Aber die Mutter reagiert, wie ich es ohnehin erwartet habe. Ich habe mich, sagt die Mutter, schon so auf das gemeinsame Weihnachtsfest gefreut und Kekse habe ich auch schon gekauft und den Weihnachtsbaum und eine tiefgefrorene Gans. Was soll ich denn mit den Keksen machen? So viele Kekse kann ich unmöglich alleine essen. Es ist mir sowieso meistens schlecht und auch eine tiefgefrorene Gans hält sich nicht ewig. Außerdem paßt sie nicht in das Tiefkühlfach hinein. Ich werde mich schon nicht anstecken.
Und Vati ist auch tot, sagt die Mutter und weint.
Ich sage, dann kommen wir eben. Aber das ist ein Fehler, denn die Mutter wird sich dann tatsächlich anstecken. Wir werden über die Feiertage drei verschiedene Notärzte kommen lassen müssen und am Ende, nachdem ich bereits abgereist bin, wird die Mutter dann gleich am dritten Tag meiner Abwesenheit stürzen. Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert werden, aus dem sie nicht mehr in ihre Wohnung zurückkommen wird.
Nachdem wir am Heiligen Abend die stundenlang gebratene und am Ende ganz zähe und sehr fette Weihnachtsgans gegessen haben, wird der Mutter schlecht. Sie ist weiß im Gesicht. Ich stelle einen Eimer mit Wasser neben den Fernsehstuhl. Aber die Mutter wendet den Kopf auf die andere Seite, als sie erbricht. Alles Erbrochene landet auf der Mutter selbst und auf dem Tisch und dem Teppich. Sogar auf der Unterseite des Eßtisches kleben Reste von Erbrochenem. Nachdem ich alles weggewischt und gesäubert habe, bitte ich die Mutter, ins Bett zu gehen. Die Mutter reagiert nicht. Ich rufe den Notarzt. Der Notarzt und ich versuchen gemeinsam, die Mutter ins Bett zu bringen. Aber die Mutter kann nicht mehr gehen. Sie hebt einen Fuß, setzt ihn dann aber nicht vor den anderen, sondern auf dieselbe Stelle. Wir fassen die Mutter an je einer Seite unter den Arm. Aber die Mutter begreift nicht, daß sie sich auf uns stützen kann. Oder sie will sich nicht auf uns stützen. Sie legt den Arm nur ganz leicht auf meinen Arm und hebt den Fuß wieder zu wenig an. Dann setzt sie ihn erneut auf derselben Stelle ab. Der Notarzt spricht beruhigend auf die Mutter ein. Er sagt, sie solle versuchen, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Ich trau mich nicht, sagt meine Mutter zum Notarzt und lächelt plötzlich. Der Notarzt sagt, daß wir beide sie sicher am Arm hielten. Daß sie sich darauf verlassen könne. Da lächelt die Mutter noch einmal ein wenig und setzt schließlich einen Fuß ein paar Zentimeter vor den anderen. Sie stützt sich weiterhin nicht auf uns. Wir packen die Mutter fest am Arm, wogegen sie sich aber wehrt. Sie versucht statt dessen, sich an der Lehne des Fernsehstuhls und am Tisch festzuhalten. Der Notarzt sagt immer wieder, die Mutter solle uns doch vertrauen.
Die Mutter tastet sich Schritt für Schritt vor, hält sich an Türen, Wänden, Vorhängen fest. Es dauert eine volle Stunde, bis sie vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer gegangen ist. Der Notarzt ist ratlos. Ich befrage ihn im Wohnzimmer leise über meinen Verdacht eines Schlaganfalles. Aber der Notarzt gibt der Mutter bloß Magentropfen und ein kreislaufstärkendes Mittel.
Am nächsten Tag ist sie wieder die alte. Sie sitzt bereits um acht Uhr früh am Frühstückstisch und weckt mich, wie immer, seit ich mich erinnern kann, mit ihren Niesanfällen auf.
So sind die Mütter. Sie vertrauen uns nicht. Sie haben uns unser Leben lang mißtraut und denken nicht daran, uns gerade in der Not zu vertrauen. Jahrelang wecken sie uns jeden Tag in der Früh mit ihren Niesanfällen. Manchmal jahrzehntelang. Unsere ganze Kindheit und Jugend lang niesen Mütter jeden Tag in der Früh beim Kaffeetrinken acht oder zehn oder zwölf Mal. Als Kind zählen wir mit, später dann nicht mehr. Wir haben uns nie angewöhnen können, die Niesanfälle unserer Mütter einfach hinzunehmen. Dadurch ist der Ärger immer schon in der Früh da und gleichzeitig mit dem Ärger über die Niesattacken auch der Ärger über das zu Erwartende. Denn immer, wenn wir unser Kinderzimmer verlassen, sprechen uns Mütter an. Das ist unsere ganze Kindheit so und hat nie aufgehört. Schon als Kind fürchten wir morgens im Bett nichts mehr, als daß wir aufstehen und sofort von unserer Mutter angesprochen werden. Wir versuchen immer wieder, den Müttern klarzumachen, daß wir in der Früh nicht angesprochen werden wollen, aber die Mütter verstehen uns nicht. Nicht nur in dieser Hinsicht, sondern überhaupt. Nie können wir unseren Müttern sagen, daß wir etwas Bestimmtes nicht mögen oder etwas anderes besonders mögen. Unsere Mütter können es nicht verstehen. Wer kann sich an einen einzigen Fall erinnern, bei dem Mütter einmal befolgt hätten, worum sie gebeten wurden?
Unsere Mütter sind nicht imstande, andere Menschen wahrzunehmen. Auch unsere Väter nehmen sie nicht wahr, nicht die Nachbarn und nicht die Verwandten. Unsere Mütter können andere Menschen nur wahrnehmen, nachdem sie sich die Menschen einverleibt haben. Sie haben ihre eigene Vorstellung von den Menschen und nehmen diese Vorstellung dann wahr. Natürlich sind auch die Mütter selbst dementsprechend eingeschlossen in sich, denn auch von sich selbst haben sie eine Vorstellung, und sie können niemals mehr als diese Vorstellung ihrer selbst sehen. Wir sind als Kinder auf diese Weise aufgewachsen: als eine Vorstellung unserer Mütter. Natürlich haben wir ständig vor unseren Müttern davonlaufen müssen, um nicht verrückt zu werden.
Daß unsere Mutter auch Landschaften nie wirklich wahrgenommen hat, ist uns erst viel später aufgefallen. Anfangs haben wir uns nur gewundert, wieso die Mutter am Gipfel eines Berges beispielsweise immer den Kopf ein wenig hebt, in den Himmel lächelt und sagt, daß man von den Bergen eine so herrliche Aussicht habe. Wir fragen uns unsere Kindheit lang, warum unsere Mutter bei diesem Satz nicht auf die Landschaft, sondern in den Himmel schaut. Und wenn sie sagt, daß dieser oder jener Tag ein besonders schöner Tag zum Wandern im Wald sei, dann schaut sie auch immer in den Himmel. Gleichzeitig nimmt sie eine Wanderhaltung ein. Sie geht dann mit sehr geradem Oberkörper ein paar Schritte schneller als sonst – »zügig« nennt sie...