E-Book, Deutsch, Band 1, 275 Seiten
Reihe: Kramer und Niebuhr ermitteln
Schulz Ein Mord im Oberharz
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98690-885-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kramer & Niebuhr ermitteln (Band 1)
E-Book, Deutsch, Band 1, 275 Seiten
Reihe: Kramer und Niebuhr ermitteln
ISBN: 978-3-98690-885-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mick Schulz, geboren in Bonn, begeisterte sich schon früh für Musik und Literatur. Nach einem Musikstudium am »Mozarteum« in Salzburg ging er zunächst als Kapellmeister zur Bühne, bis ihn schließlich das Schreiben packte. Seine Wahlheimat, der Oberharz bei Goslar, inspirierte ihn zu seinen unverwechselbaren Krimis, die in der Region spielen. Die Website des Autors: www.mickschulz.de Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Kriminalromane »Ein Mord im Oberharz« und »Ein Grab im Oberharz«.
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Kapitel 2
Am Morgen des zweiten Tages nach dem Mord im Oberharz wachte Sina Kramer im Schlafzimmer ihres kleinen Goslarer Reihenhauses auf. Sie hatte es nach der Scheidung behalten, obwohl sie alles darin an Bernie, ihren Ex, erinnerte. Aber es war so praktisch aufgeteilt, ihr Sohn Torsten und sie hatten jeder sein eigenes Reich, und vor allem wollte sie Torsten nach dem Weggang seines Vaters nicht noch eine weitere Veränderung zumuten.
Durch die gesprossten Rollläden fielen blasse Lichtstreifen auf das gelaugte Kiefernholz der Schrankwand. Sina rührte sich nicht. Noch war alles gut, aber sie wusste, dass sie da waren und auf sie lauerten, die mörderischen Stiche im Rücken und in den Knie- und Schultergelenken.
Mit ihnen konnte sie fest rechnen, wenn sie am Vorabend Volleyball gespielt hatte. Sie musste es tun, um fit zu bleiben, sie tat es sogar freiwillig, um sich nicht wie sechsundvierzig zu fühlen. Aber das Ergebnis war, dass sie sich am nächsten Tag genau doppelt so alt fühlte.
Vorsichtig drehte sie den Kopf nach links, starrte auf den Digitalwecker neben der halb vollen Wasserflasche. Zwanzig nach sieben. Ob Torsten schon im Bad war? Über ihr war nichts zu hören, kein Zischen der Rohre oder Getrampel von nackten Füßen.
Von draußen zog eisiger Wind herein. Sie ließ das Fenster immer auf Kipp, sogar im Winter, denn bei geschlossenem Fenster konnte sie nicht schlafen. Doch jetzt hatte sie plötzlich ein unwiderstehliches Verlangen nach Wärme. Aber nicht nach irgendeiner Wärme: nach körperlicher Wärme, Umarmungswärme.
Es war wieder einmal so weit für einen dieser kurzen, aber schmerzhaften Momente, wo die Verdrängung Löcher bekam. Ab und an setzten sich die Erinnerungen an die zärtlichen Szenen mit Bernie im Bett mitleidlos durch. Vor allem fehlten ihr die innigen Umarmungen mit dem alles überdeckenden Gefühl, dass sie zusammengehörten. Das vermisste sie, nicht den puren Sex. Einen Orgasmus konnte sie sich genauso gut selbst machen, und sie konnte ihn haben, wann sie wollte. Dazu brauchte sie nicht unbedingt einen Mann.
Ruckartig setzte sie sich auf, um die Schmerzphase möglichst abzukürzen. Ihre noch blutleeren Füße krochen in die weichen Puschen. Sie rieb sich über Arme und Beine und griff nach dem schweinsrosa Frotteebademantel auf dem Stuhl gegenüber dem Bett, bei dem sie sich jeden Morgen fragte, warum sie sich die Farbe angetan hatte.
»Torsten?«, rief sie auf dem Weg in die Küche die Treppe hoch.
Keine Antwort.
Sie erwartete auch keine; sie hatte sich daran gewöhnt, dass Torsten immer anders tickte, als sie sich das gerade vorstellte. Dass sie zusammenlebten, war längst keine Wunschkonstellation mehr, vielmehr reine Notwendigkeit – für Torsten. Natürlich war er ihr Sohn. Aber er war auch Bernies Sohn und genauso stur und zurückgezogen wie sein Vater. Sina hatte ihre Muttergefühle auf die fürsorglichen reduziert, sie hatte ja auch das Sorgerecht. Außerdem war es schwer, als Mutter das Ebenbild des kriegerisch geschiedenen Mannes zu lieben, wenn man den zu Liebenden so gut wie nie zu Gesicht bekam.
Sie registrierte Torstens Anwesenheit hauptsächlich durch Geräusche und Gerüche, gab sich damit zufrieden, dass sein Leben nicht bedroht war, und wusch seine dreckige Wäsche, die er ihr, wenn er gut gelaunt war, vor der Waschmaschine im Keller aufschichtete, ansonsten einfach oben ins Bad warf. Sein Zimmer betrat sie nur heimlich, wenn er nicht da war, in der Hoffnung, dass es irgendetwas von dem verriet, was er dachte oder fühlte, und kippte das Fenster, damit der Geruch von schweißigen T-Shirts abzog.
Bis jetzt hatte Sina nicht herausgefunden, wofür sich Torsten eigentlich interessierte. Keine Poster von Popgruppen oder anderen Idolen an der Wand. Keine Bücher oder Magazine. Sein Zimmer war ein kahler Raum, und in der Mitte auf dem Schreibtisch thronte der Computer wie ein Gott, der keine anderen Götter neben sich duldete. Jeden Nachmittag bis abends saß ihr Sohn wie festgeklebt vor dem Kasten, spielte Computerspiele und chattete im Internet und was es sonst noch gab. Das hatte er ihr jedenfalls einmal gesagt auf ihre Frage hin, was er die ganze Zeit mache.
Noch etwas anderes wunderte sie. Torsten war fast sechzehn. Normale Jungs hatten in dem Alter mindestens die zweite Freundin. Ihn aber schienen Mädchen kaltzulassen. Sina hatte sich schon gefragt, ob er schwul sein könnte. Aber Beweise dafür gab es nicht.
Manchmal traf sie Torsten beim Abendessen in der Küche und staunte ihn an wie einen Außerirdischen, so ungewohnt war ihr seine Gegenwart. Und wenn sie dann ihre mütterlichen Gefühle überwältigten und sie mit ihm reden wollte, hatte er sich schon wieder nach oben verabschiedet, kaum dass sie den Mund aufgemacht hatte.
Ein Trost war, dass er die Schule schaffte. In der Hinsicht hatte er noch nie Probleme gehabt.
Sina stieg die Stufen der Wendeltreppe hoch. »Es ist schon nach halb!«
Immer noch keine Antwort. Jetzt gab es nur noch ein Mittel: Sie klopfte hart mit dem Knöchel gegen seine Tür. Das konnte Torsten nicht ausstehen.
»Lass mich in Ruhe! Ich hab erst zur Dritten!«
Auf ihrem Gesicht erschien ein zufriedenes Lächeln. Er lebte noch. Sie konnte sich beruhigt einen Kaffee machen.
Als sie im Vorbeischlappen den Goslarschen Boten aus dem Zeitungsschlitz der Wohnungstür zog und den Aufmacher überflog, hatte sie wieder die Leiche im Treppenhaus vor Augen.
Im Kommissariat, oben bei Niebuhr, schlürfte Sina den zweiten Kaffee an diesem Morgen. Sie befand sich mit dem Kollegen in einem der kahlen Multifunktionsräume, die als Büro, Besprechungsraum oder auch für Verhöre genutzt wurden. Von der Decke knallte das grelle Licht einer Leuchtstoffröhre und ließ das Fenster wie eine Radierung mit düsterer Landschaft erscheinen.
Es war acht Uhr siebenundfünfzig, draußen dämmerte es immer noch, und es regnete.
»Hinrichtung im Oberharz. Den Schock ihres Lebens erlitt die Hoteliersfrau Sieglinde Lattinger, dreiundsiebzig, am gestrigen Montag, als sie wie jeden Morgen die Eingangstür zu ihrem Hotel aufschließen wollte …«, las Sina aus dem Goslarschen Boten.
»Hab ich dir’s nicht gesagt? Die blasen das auf. Je reißerischer, desto besser!«
Niebuhr schien der Aufmacher tatsächlich aufzuregen, dabei war es nur das übliche Geschäft mit dem Leid anderer.
»Wenn es um wirkliche Skandale geht, wie die haarsträubenden Fehlinvestitionen unserer gewählten Stadtoberen, da kneifen die Pressefritzen, weil sie sich mit niemandem anlegen wollen, und kommen erst mit den Fakten heraus, wenn ohnehin schon jeder Bescheid weiß …«
Sina zuckte nur mit den Schultern, in Gedanken war sie bereits bei den Berichten von Hasemann und der Spurensicherung.
»Die Gerichtsmedizin hat angerufen«, kam Niebuhr zur Sache. »Die Obduktion hat ergeben, dass Lattingers Tod zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr eingetreten sein muss, nicht durch Erhängen – obwohl gebrochenes Genick –, sondern schon vorher durch Einwirkung eines stumpfen Gegenstandes auf den Hinterkopf.«
»… der Aschenbecher in der Mansardenwohnung …«
»Genau. Laut Spusi klebten Partikel von der Schädeldecke und Blut vom Opfer dran. Übrigens ist alles Blut, das gefunden wurde, vom Opfer. Fragt sich nur, warum der Täter Lattingers Leiche noch im Flur aufgeknüpft hat.«
»Wenn er ihn nur umbringen wollte, dann hätte er mehrmals mit dem Aschenbecher zugeschlagen, um sicherzugehen, dass er auch wirklich tot ist«, bestätigte Sina.
»Vermutlich.«
»Also hat es was zu bedeuten, dass er die Leiche auf diese Weise zur Schau gestellt hat.« Sina fixierte Niebuhrs braune Augen.
»Glaube ich auch«, antwortete der wie hypnotisiert, während er mit der rechten Hand über seinen Dreitagebart schrabbte, was er immer tat, wenn seine Kollegin kombinierte.
»Und wen hängt man auf? Einen Verbrecher, einen Mörder, einen Dieb, was auch immer. Lattinger muss also irgendetwas auf dem Kerbholz gehabt haben …«
»Am Anfang haben sie anscheinend friedlich beim Whiskey gesessen, geklönt und geraucht, bis irgendetwas den Streit ausgelöst hat.«
»Dann wäre der Mord im Affekt passiert. Der Mörder kann aber auch nur den richtigen Augenblick abgewartet haben, um zuzuschlagen.«
»So wie es da oben ausgesehen hat, muss er dabei eine unglaubliche Wut im Bauch gehabt haben …«
Der Tatort bestätigt tatsächlich nicht gerade die Vermutung, dass dort ein geplanter Mord abgelaufen sein könnte, dachte Sina. Dagegen stand wieder die Hinrichtung im Treppenhaus. Da passte was nicht zusammen. Sie mussten die Sache anders angehen.
»Wen würde Lattinger wohl mit in seine Mansarde nehmen, in diese stinkende Bude? Doch niemanden, vor dem er gut aussehen wollte. Für den hätte er, auch wenn es schon später war, den Speisesaal aufgeschlossen. Gehen wir davon aus, dass es jemand war, dem er nichts vorzumachen brauchte.«
»Also ein guter Bekannter oder Freund«, schlug Niebuhr vor.
»Oder natürlich ein Familienmitglied«, ergänzte Sina.
Niebuhr seufzte, offenbar dämmerte ihm, was auf ihn zukam. »In welchen Vereinen war Lattinger Mitglied und so weiter?«
Sina schmunzelte schadenfroh. Jens stand ein mittlerer Telefonmarathon bevor. Was hatte Lattinger am Mordtag gemacht, wo hatte er sich aufgehalten, und mit wem hatte er sich getroffen? Alles unverzichtbare Routine.
Zwischen ihr und Niebuhr hatte es sich eingebürgert, dass er die Telefonjobs machte. Er sei unbestreitbar der Kommunikativere von ihnen beiden und deshalb die Idealbesetzung für solche Arbeiten, hatte sie ihm schon...




