E-Book, Deutsch, Band 5, 352 Seiten
Reihe: Allgäu-Krimis
Seibold Schandfleck
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97552-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Allgäu-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 5, 352 Seiten
Reihe: Allgäu-Krimis
ISBN: 978-3-492-97552-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jürgen Seibold, geboren in Stuttgart, arbeitete als Redakteur und freier Journalist. 1989 veröffentlichte der SPIEGEL-Bestsellerautor seine erste Musikerbiografie. Es folgten weitere Sachbücher, Theaterstücke, Thriller, Komödien und Kriminalromane. Mit seiner Familie lebt Jürgen Seibold im Rems-Murr-Kreis.
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Samstag, 22. Juli
Als Marga Mecheler auf ihrem alten Mofa davonknatterte, löste das quäkende Röhren des Zweitakters auf dem Weg von Schellenried nach Obergassen die unterschiedlichsten Gefühle aus.
Ferdi Kugler zum Beispiel, der an diesem Samstagnachmittag die ärgste Unordnung in seiner kleinen Werkstatt am Ortsausgang von Schellenried beseitigte, hörte dem Motor schon von Weitem an, dass er bald wieder Arbeit mit dem alten Ding bekommen würde, und er freute sich, weil er jeden noch so kleinen Auftrag gut brauchen konnte. In Untergassen, etwa auf halber Strecke, versetzte der Klang des Mofas Hans Hintermeyer wie üblich einen Stich. Wehmütig sah er die füllige Rentnerin durch den Ort brausen, die einen gut gefüllten Korb auf den Gepäckträger des Mofas geschnallt hatte, erwiderte ihr grüßendes Winken, aber nicht ihr fröhliches Lachen – wie auch, wo er doch seit so langer Zeit vergeblich darauf hoffte, dass sie endlich einmal mit ihm ausging! Und in Obergassen, gut hundert Meter vor Marga Mechelers Ziel, schaute Maximilian Röhrich sehnsüchtig aus dem Fenster seines Jugendzimmers, weil er nur zu gern mit einem solchen Mofa fahren würde und sich dafür noch mindestens ein Jahr lang gedulden musste.
Marga selbst hörte nichts außer der lauten Musik, die die kleinen Kopfhörer vibrieren ließ. Als sie nach einer schwungvoll genommenen letzten Linkskurve den Helm abgesetzt, die Stöpsel aus den Ohren gezogen und in der Tasche ihrer leichten Windjacke verstaut hatte, war der Zweitakter verstummt. Nur die bläulich-graue Abgaswolke schwebte noch hinter dem Auspuff und löste sich langsam in der warmen Sommerluft auf.
Sie zog das Gummiband aus ihren schulterlangen grauen Haaren und schüttelte ihre Frisur ein wenig auf. Dann strich sie ihren Rock glatt und sah sich um. Die Obergassener gingen ihren üblichen Wochenendbeschäftigungen nach. Sie tünchten Wände, putzten Fenster, rückten Vorhänge gerade, zupften Unkraut aus den gepflegten Beeten, schichteten das frisch gespaltete Brennholz auf akkurate Beigen, fegten die Einfahrt, polierten die Motorhauben ihrer knallig rot, blau und grün lackierten Oldtimer-Traktoren, gossen die Geranien und dekorierten ihre gepflegten Häuser mit Arrangements aus Strohblumen und dunkelbraun lasierten Holzrädern.
Kaum einer der Nachbarn grüßte sie oder sah auch nur von seiner Arbeit auf. Nur der greise Helmfried, der fast den ganzen Tag über seinem Fensterbrett hing, stierte wie immer zu ihr herüber, den erkalteten Rest seiner billigen Zigarre im Mundwinkel. Aber auch er winkte nicht, sondern glotzte sie nur unverwandt an – und sie wusste, dass er das auch noch tun würde, wenn sie ins Haus ging und ihm den Rücken zuwandte. Ihr Hintern hatte es ihm dabei natürlich mehr angetan als ihr Rücken, das konnte sie seinem ausgemergelten Gesicht mit den hervorstehenden Augen ansehen, wenn sie sich beim Aufschließen wie zufällig kurz umdrehte. Einmal hatte sie sich den Spaß erlaubt und vor dem Hineingehen einen ausladenden Hüftschwung eingelegt – doch als sie danach beobachtete, wie Helmfried der Stumpen aus dem Mund glitt, wie er sich an die Brust fasste und um Luft rang, hatte sie sich geschworen, den Alten nie wieder so aufzuregen.
Heute aber nickte sie Helmfried knapp zu, bevor sie sich ihren Korb schnappte und ins Haus ging.
»Manfred?«, rief sie.
Irgendwo im Haus glaubte sie Schritte zu hören, vielleicht auch das Knarren einer Bodendiele, aber als sie stehen blieb und horchte, war wieder alles still.
»Manfred?«
Sie sah auf die Uhr. Halb drei. Es kam zwar vor, dass ihr Neffe um diese Zeit noch sein Mittagsschläfchen hielt, aber zumindest an den Tagen, an denen sie ihn besuchte, rollte er sich schon etwas früher aus dem Bett und kochte Kaffee, den sie dann gemeinsam zu den süßen Stückle tranken, die sie gewöhnlich vom Bäcker in Schellenried mitbrachte.
Auch diesmal hatte sie Süßes dabei, dazu natürlich Brot und Semmeln, Wurst und Käse und eine Tupperschüssel mit dem vorgekochten Sonntagsessen.
»Manfred?«
Sie schaute sich nach allen Seiten um, während sie den Flur entlangging. Als sie die geräumige Wohnküche erreichte, war dort weder Kaffee zu riechen noch ihr Neffe zu sehen. Marga stellte die Tupperdose in den Kühlschrank und verstaute dort auch das Wurstpaket. Brot und Semmeln gab sie in den hölzernen Brotkasten, danach räumte sie Zeitungen, Notizblätter und geöffnete Rechnungen vom Tisch und wischte die gröbsten Krümel von der Platte. Sie richtete die süßen Stückle auf einem flachen Teller an und rückte ihn in die Mitte des großen Tischs. Dann setzte sie Kaffee auf und machte sich auf die Suche nach ihrem Neffen.
An die Schlafzimmertür klopfte sie mehrmals, erst leise, dann lauter, bevor sie öffnete. Auch hier war niemand. Dafür lagen auf dem Boden die Socken und Unterhosen herum, die Manfred seit ihrem vorigen Besuch getragen hatte, und dazwischen Zeitschriften, Chipspackungen und leere Limoflaschen. Der Fernseher, der gegenüber vom Bett an der Wand hing, war noch auf Standby, und Marga drückte kopfschüttelnd den Aus-Knopf.
Zurück im Flur, horchte sie wieder. Kein Geräusch von der Toilette, keines aus dem Wohnzimmer, nur von der Küche das Blubbern der Kaffeemaschine, das allmählich lauter wurde.
»Manfred, wo bist du denn?«
Keine Antwort. Ob er vergessen hatte, dass sie ihn besuchen wollte? Aber wo sollte er denn hin? Mit seinen alten Schulkameraden ging er höchstens einmal die Woche und dann auch erst am Abend einen trinken. Der Stammtisch der Jungbauern, die alle auch nicht mehr so jung waren, fand im Moosbacher Jägerwinkel nur donnerstags alle vierzehn Tage statt. Und die samstägliche Schafkopfrunde im Hasen in Sulzberg begann normalerweise erst gegen fünf, halb sechs.
Im Wohnzimmer war es unordentlich wie überall im Haus, auf dem Couchtisch lagen Zeitungen, auf dem Sofa Chipskrümel und Fernbedienungen, doch Manfred Garzinger war nirgendwo zu sehen.
Nun blieb nur noch ein Raum, in dem sie nachsehen konnte: Manfreds »Arbeitszimmer«, das eigentlich nur sein umgestaltetes früheres Kinderzimmer war. Irgendeine Arbeit hatte ihr Neffe schon lange nicht mehr erledigt – weder hier im Zimmer noch auf dem Hof, den er verfallen ließ. Auch seinen Beruf als Fotolaborant hatte er nur bis kurz nach der Gesellenprüfung ausgeübt. Und seit Foto- und Videokameras nicht mehr auf Filmrollen angewiesen waren, hatte Manfred die einstige Dunkelkammer im Speicher zu einem Lagerraum umfunktioniert, in dem sich noch mehr Gerümpel stapelte als im übrigen Haus.
Marga Mecheler schnupperte. Ihr fiel der seltsame Geruch auf, der in der Luft hing und allmählich intensiver zu werden schien. Im Vorbeigehen warf sie noch einen Blick auf die Toilette, aber die Tür war zu. Dann betrat sie das Arbeitszimmer. Auf einem kleinen Schreibtisch stand ein recht moderner Computer mit großem Bildschirm, in den Wandregalen stapelten sich selbst gebrannte CDs und DVDs, dazwischen waren diverse Kameras, Ladekabel und allerlei anderer Kram ausgebreitet. Der Bürostuhl vor dem Schreibtisch war leer.
Der hohe Ohrensessel, den sie Manfred geschenkt hatte, als ihr Mann gestorben war, stand mit der Rückenlehne zur Tür, damit Manfred bequem auf die Dorfstraße hinausblicken konnte. Rechts am plüschigen Möbelstück ragte ein Fuß heraus, nackt und reglos.
»Ach, Manfred, da bist du ja!«
Marga marschierte auf den Sessel zu. Missbilligend registrierte sie, dass sich ihr Neffe noch nicht angezogen hatte. Eines seiner dürren Beine hatte er ausgestreckt, das andere war angewinkelt wie in einem Krampf. Die Hausschuhe lagen ein Stück von den Füßen entfernt, der Saum seines alten Morgenmantels bedeckte den halben Oberschenkel. Das Kleidungsstück saß noch schlampiger am Leib des jungen Mannes als sonst. Es war zerknittert und zerknautscht, und der beigefarbene Stoff war über und über mit Flecken verunstaltet.
Mit roten Flecken.
Dieses Rot war überall. Auf dem Bademantel, auf dem abgewetzten Sessel, auf dem fadenscheinigen Unterhemd. Manfred Garzinger hatte die Augen weit aufgerissen, die Augäpfel waren hervorgetreten. Der Mund stand sperrangelweit offen und war rot, genau wie Kinn und Wangen. Grell, leuchtend, klitschnass schimmernd.
Die gellenden Schreie von Marga Mecheler rissen den halben Ort aus seiner Nachmittagsruhe, und während sich ein Schatten lautlos durch die Hintertür entfernte, rannte Marga auf die Straße, noch immer kreischend, und versuchte, das entsetzliche Bild wieder aus ihrem Kopf zu bekommen.
Auf den letzten Kilometern bis Füssen sprachen Hansen und Resi wieder einmal darüber, wann und wo denn ihre Hochzeit stattfinden könnte. Er hatte ihr schon im Mai vergangenen Jahres einen Antrag gemacht, über den Resi noch immer herzlich lachen konnte, so umständlich hatte er sich angestellt. Ihre Ringe trugen die beiden gern, Resi drängte nicht, und Hansen schob die Hochzeit nicht vor sich her – aber im Moment war für ihn alles angenehm so, wie es war, und irgendwie fand sich im Kalender nie die passende Lücke. Bald hatten sie Füssen hinter sich gelassen, zur Rechten erschien der Forggensee, und wenig später waren sie auch schon da.
Während Hansen die Haustür aufschloss, freute er sich, nach den Tagen in Hannover und Wunstorf wieder heimzukommen. Denn inzwischen empfand er das alte Bauernhaus am Forggensee als Zuhause. Es lag etwas außerhalb von Füssen und war – wenn man vom Wertstoffhof jenseits des Zufahrtssträßchens absah – nur von Wiesen umgeben.
Auf dem Küchentisch stand eine Vase mit einem frischen Tischstrauß, darunter klemmte ein Zettel seiner Vermieterin Frau Walburga:...