E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Simenon Drei Frauen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-455-01480-8
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-455-01480-8
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei Frauen ist eine zu viel
Sophie, Fallschirmspringerin und beliebtes Mitglied der feinen Gesellschaft, lebt mit der Nachtclubsängerin Lélia in einer schönen Wohnung mitten in Paris. Doch dann nimmt Sophie eines Tages ihre Großmutter Juliette bei sich auf, die ein neues Zuhause braucht. Juliette ist eine eigensinnige Frau, die mitsamt ihrer aufwühlenden Vergangenheit einzieht. Schon bald räumt die feinsinnige Lélia das Feld; zurück bleiben Sophie, Juliette und das Dienstmädchen Louise. Zwischen den drei Frauen entstehen neue Bündnisse – und es entspinnt sich ein erbitterter Machtkampf.
Ein Simenon, in dem die Frauen die Hauptrolle spielen.
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1
Im Hauseingang, der so kalt und feucht wie ein Keller war, blieb der Kommissar kurz stehen und sah auf die Armbanduhr. Er klopfte seinen Mantel aus, das Schneewasser spritzte auf die Steinfliesen und breitete sich dort aus wie auf Löschpapier. Es war fünf Minuten nach elf. Das erste Mal hatte er sich um halb zehn hier gemeldet; die noch junge, beinah hübsche Concierge, die sich in ihrer gemütlichen Loge zu schaffen machte, hatte sich weder durch seinen Polizeiausweis noch durch sein höfliches Benehmen beeindrucken lassen und war ihm ziemlich mürrisch begegnet. »Sie wollen die junge Dame doch wohl nicht verhaften?« »Nein, nein, natürlich nicht.« »Dann kommen Sie wohl, weil man ihr Auto wieder irgendwo gefunden hat?« »Ganz und gar nicht. Ich bin nicht einmal ganz offiziell hier. Aber Mademoiselle Émel könnte mir vielleicht eine Auskunft geben, mir möglicherweise sogar helfen …« Ohne ihren dröhnenden Staubsauger abzustellen, hatte ihm die Concierge einen spöttischen Blick zugeworfen. »Wenn Sie etwas von ihr wollen, würde ich sie lieber nicht um diese Uhrzeit stören. Vor elf steht sie nie auf, gewöhnlich wird es sogar zwei oder drei Uhr nachmittags …« Dies war also sein zweiter Besuch, und bevor er weiterging, fegte er die dicken, schmutzigen Wassertropfen von seinem Hut, setzte ihn dann wieder auf den Kopf und stampfte abwechselnd mit den Füßen, um den schmelzenden Schnee loszuwerden, der auf dem Boden eine große Pfütze bildete. Die Concierge, die über ihrem schwarzen Kleid eine weiße Schürze trug, schaute ihm durch die Glastür gleichgültig zu, ohne ihn zu ermuntern oder ihn davon abzubringen. Eine Treppe führte links, eine andere rechts von dem Eingangsgewölbe hinauf, beide hatten ein schmiedeeisernes Geländer, dessen Handlauf unten in einer kupfernen Kugel mündete. Im Hintergrund konnte man in einem Hof die Freitreppe eines alten herrschaftlichen Hauses erkennen, einige Schneeflocken waren zwischen den runden Pflastersteinen liegen geblieben. Da der Kommissar nicht wusste, in welche Richtung er gehen sollte, kam er noch einmal zurück, und die Concierge, die ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, öffnete ihre Tür einen Spaltbreit und sagte herablassend: »Linke Treppe. Fünfter Stock.« Er fragte gar nicht erst nach einem Aufzug, denn das war hier unwahrscheinlich. Viele der alten Häuser auf der Île Saint-Louis waren denkmalgeschützt und eigneten sich nicht für den Einbau solch platzraubender Anlagen, und mancher Hausbesitzer lehnte sie auch entrüstet ab. Der Kommissar stieg langsam die Stufen hinauf. Durch die holzgeschnitzten Türen drang kein Laut. Ab dem dritten Stock nahm er das Geländer zu Hilfe. Im fünften Stock gönnte er sich eine Pause, bis sein Atem wieder ruhig ging, dann drückte er auf den Klingelknopf und wartete ab. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, und er sah wieder auf die Uhr. Er wollte gerade ein zweites Mal klingeln, da hörte er innen leise, schlurfende Schritte, dann herrschte wieder Stille; endlich schnappte das gut geölte Türschloss auf. Die Tür wurde nur etwa zwanzig Zentimeter weit geöffnet. Ein klein gewachsenes, stämmiges Dienstmädchen, das wie die Concierge schwarz-weiß gekleidet war, blickte ihn stumm und herablassend an wie die Frau unten, so als böte der Besucher einen ungehörigen Anblick. Dabei war der Kommissar korrekt, ja sogar elegant gekleidet. Man konnte ihn weder für einen Gerichtsvollzieher noch für einen Staubsauger- oder Lexikavertreter halten. »Ist Mademoiselle Émel zu Hause?«, murmelte er und reichte dem Mädchen seine Visitenkarte, die er schon unterwegs auf der frisch-gebohnerten Treppe aus seiner Brieftasche gezogen hatte. Durch die Berührung seines Mantels waren seine Hände nass geworden; er hatte gedacht, für den kurzen Weg hierher auf sein Auto verzichten zu können. »Ich schaue mal nach.« Das Dienstmädchen war unentschlossen, ob es die Tür zumachen sollte oder nicht, zuckte dann mit den Achseln und ließ die Tür, wie sie war, ehe es sich entfernte. Aus dem hinteren Teil der Wohnung hörte er weibliche Stimmen, dann folgte ein eiliges Hin und Her, als versuche man, schnell Ordnung zu schaffen. Deutlich hörbar fragte eine Stimme in seiner Nähe: »Wo ist er?« »Ich habe ihn an der Tür stehen lassen.« Der eichene Türflügel wurde geöffnet, und nun stand der Kommissar jener Sophie Émel gegenüber, die zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit all den Zeitungs- und Zeitschriftenfotos hatte, ihm aber doch ganz anders erschien. Nicht zum ersten Mal brachte ihn sein Beruf in Berührung mit dem Privatleben berühmter Leute. Aber diese eng anliegende knallrote Torerohose, die nackten Füße auf dem Teppichboden und der Rollkragenpullover, den die junge Frau hastig über den Kopf gezogen hatte, wodurch sie etwas verstrubbelt aussah, brachten ihn nun doch aus dem Konzept. Sie hielt seine Visitenkarte in der Hand und sagte noch etwas verschlafen: »Es tut mir leid, dass Sie hier draußen warten mussten.« Dabei war deutlich zu spüren, dass es ihr überhaupt nicht leidtat; es war ihr völlig gleichgültig. »Ich habe mich zu entschuldigen, Mademoiselle …« Und als wäre es noch früh am Morgen, fügte er hinzu: »… dass ich Sie zu dieser Stunde störe.« »Kommen Sie herein.« Sie führte ihn durch einen weißgestrichenen Flur, und im Vorbeigehen sah er durch eine halb offene Tür in das unaufgeräumte Badezimmer. Kurz darauf traten sie in einen großen, atelierartigen Raum. Dessen breite Fensterfront bildete so etwas wie einen Rahmen für die Türme von Notre-Dame, die sich vor einem noch immer schneeverhangenen Himmel abzeichneten. In diesem Raum zog sich eine junge Frau rasch einen Morgenmantel über den schwarzseidenen Pyjama. Sie war fast weißblond, und Haut und Augen wirkten so hell, dass man sie für einen Albino halten konnte. »Ich nehme an, Sie kennen Lélia?« Der Kommissar hatte auch von ihr schon gehört und sie auf Plakaten und im Fernsehen gesehen. »Sehr erfreut …« Mit einer heiseren Stimme, der die Zigaretten und der Alkohol vom Vorabend anzuhören waren, sagte Lélia zu ihrer Freundin: »Ich lasse euch beide allein …« »Ach was! Es wird doch wohl keine Geheimnisse geben …« Auf dem Boden lag ein Paar hochhackige Pumps, ein Abendkleid hing über einer Sessellehne, und auf einem Tischchen standen eine zu drei Vierteln gelehrte Whiskyflasche und daneben zwei Gläser, dazwischen lagen Zigarettenkippen mit Lippenstiftspuren. Vermutlich noch Überreste vom Vorabend, denn auf einem anderen Tischchen dampfte in den Tassen der Kaffee neben zerkrümelten Croissants. »Setzen Sie sich, Monsieur …« Sophie Émel warf einen Blick auf die Visitenkarte und fuhr fort: »Monsieur Charon, nicht wahr?« Es war ihm etwas peinlich, dass er in das perlgraue Schlafzimmer sehen konnte, dessen zwei nebeneinanderstehende Betten so aufgeschlagen waren, dass man die womöglich noch warmen Mulden erkennen konnte, die die beiden Frauenkörper dort hinterlassen hatten. »Rauchen Sie?« Aus Höflichkeit nahm er eine Zigarette an, setzte sich dann wieder auf die äußerste Kante eines satinbezogenen Sessels. »Ich muss mich entschuldigen, da ich Sie ohne einen offiziellen Anlass belästige. Es ist so, dass ich mich seit einiger Zeit in einer ziemlich unangenehmen Lage befinde und deshalb ein wenig auf Ihre Hilfe hoffe.« Sophie Émel hockte auf einer Sessellehne, in der einen Hand ihre Kaffeetasse, in der anderen eine Zigarette. »Ich nehme an, Sie möchten keinen Kaffee? Sie sind bestimmt schon lange auf.« »Schon ziemlich lange, ja. Also, Ihr Name wurde rein zufällig in Zusammenhang mit der Angelegenheit genannt, die mich gerade beschäftigt. Darf ich Ihnen zunächst einmal eine Frage stellen? Kennen Sie eine Person mit Namen Juliette Viou?« Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie überlegte. »Viou sagen Sie?« »Die Frau ist heute neunundsiebzig Jahre alt …« »Juliette Viou …«, wiederholte sie. Und dann noch mehrmals: »Viou … Viou …« »Warten Sie! Bevor sie Juliette Viou hieß, war sie eine verwitwete Prédicant.« »Nein, so was!«, warf Sophie ihrer Freundin zu. »Weißt du, wen ich auf diese Weise wiederfinde?« »Nein.« »Meine Großmutter!« Neugierig wandte sie sich wieder dem Kommissar zu. »Erzählen Sie! Was ist los mit meiner Großmutter? Sie werden mir ja wohl nicht mitteilen, dass sie jemanden umgebracht hat?« Er hielt ein Lächeln für angemessen. »Davon kann keine Rede sein.« »Zuzutrauen wäre es ihr. Ist sie verunglückt?« »O nein, seien Sie unbesorgt …« »Wissen Sie überhaupt, Herr Kommissar, wie lange meine Familie nichts mehr von ihr gehört hat?« Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und murmelte: »Ehrlich gesagt weiß ich nur sehr wenig über die Dame …« »Sie hat uns verlassen, als wir noch am Boulevard Saint-Germain wohnten, das ist jetzt … warten Sie … das ist jetzt fast fünfzehn Jahre her … Rechnen Sie selbst nach … Es war im November oder Dezember 1944, ich weiß nicht mehr genau, im ersten Winter nach der Befreiung von Paris … Auf den Straßen war noch alles verdunkelt … Meine Großmutter war damals fünfundsechzig: für mich und meine Zwillingsschwester mit unseren zwölf Jahren eine sehr alte Frau … Da Sie sie Juliette Viou nennen, nehme ich an, dass sie wieder geheiratet hat …« Er nickte und fügte hinzu: »Seit anderthalb Jahren ist sie zum zweiten Mal...