Simenon | Im Falle eines Unfalls | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 86, 224 Seiten

Reihe: Die großen Romane

Simenon Im Falle eines Unfalls


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-455-01413-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 86, 224 Seiten

Reihe: Die großen Romane

ISBN: 978-3-455-01413-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Yvette weiß, wie sie sich mit Hilfe der ihr verfallenen Männer im Leben gut einrichten kann - aber ihre Liebe macht sie verletzlich. Die junge Yvette schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben, vor allem die Männer geben ihr zu tun. Aber sie weiß, die Waffen, die ihr als Frau gegeben sind, geschickt einzusetzen. Nach einem missglückten Raubüberfall bittet sie einen Anwalt um Hilfe, der ihr vollkommen verfällt und um ihren Freispruch kämpft. Während er seine Ehe und sein Ansehen zunehmend für Yvette aufs Spiel setzt, wird die Affäre nicht nur ihm gefährlich - denn es gibt da einen weiteren Mann, der Yvette leidenschaftlich verfallen ist.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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Titelseite
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Über Georges Simenon
Impressum


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Sonntag, den 6. November

Vor kaum zwei Stunden, als wir nach dem Essen in den Salon gegangen waren, um dort unseren Kaffee zu trinken, und ich so dicht am Fenster stand, dass ich die kalte Feuchtigkeit der Scheibe spürte, hörte ich meine Frau hinter mir sagen:

»Hast du vor, heute Nachmittag auszugehen?«

Und diese schlichten, gewöhnlichen Worte erschienen mir so bedeutungsschwer, als würden sich in ihren Silben Gedanken verbergen, die weder Viviane noch ich auszusprechen wagten. Ich habe nicht gleich geantwortet – nicht weil ich unschlüssig war, sondern weil mich einen Augenblick lang jene etwas beklemmende Welt gefangen hielt, die im Grunde wirklicher ist als die alltägliche und in der man die Kehrseite des Lebens zu entdecken glaubt.

Ich habe schließlich gemurmelt:

»Nein. Heute nicht.«

Sie weiß, dass ich keinen Grund habe auszugehen. Sie hat es erraten wie alles andere. Außerdem spioniert sie mir vielleicht nach. Ich nehme ihr das ebenso wenig übel, wie sie mir irgendetwas übelnimmt.

In dem Augenblick, als sie mir die Frage stellte, sah ich draußen in dem kalten, trüben Regen, der schon seit Allerheiligen fällt, einen Clochard unter dem Brückenbogen des Pont-Marie hin und her gehen. Er schlug sich die Arme um den Körper, um warm zu werden. Vor allem fiel mir ein Haufen dunkler Lumpen an der Steinmauer auf, und ich fragte mich, ob der Haufen sich wirklich bewegte oder ob das nur eine optische Täuschung war.

Er bewegte sich tatsächlich, merkte ich bald. Ein Arm tauchte aus den Lumpen auf und dann das aufgedunsene Gesicht einer Frau, das von wirrem Haar umrahmt war. Der Mann blieb plötzlich stehen und wandte sich zu seiner Gefährtin, um ihr irgendetwas zu sagen. Dann holte er, während sie sich aufsetzte, zwischen zwei Steinen eine halbvolle Flasche hervor, reichte sie ihr, und sie führte sie an den Mund und trank.

In den zehn Jahren, die wir am Quai d’Anjou, auf der Île Saint-Louis, wohnen, habe ich oft Clochards beobachtet. Ich habe alle Arten gesehen, auch Frauen, aber dies war das erste Mal, dass ich zwei sah, die sich wie ein Ehepaar verhielten. Warum hat mich das so bewegt, warum musste ich dabei an zwei Tiere, ein Männchen und ein Weibchen, denken, die sich in ihrem Schlupfwinkel im Wald verstecken?

Wenn von Viviane und mir die Rede ist, vergleichen uns die Leute manchmal, wie mir hinterbracht wurde, mit einem Raubtierpärchen. Und bestimmt hebt dann jemand auch noch hervor, dass bei Raubtieren das Weibchen wilder ist.

Bevor ich mich umdrehte und zu dem kleinen Tisch ging, auf dem der Kaffee bereitstand, nahm ich gerade noch wahr, wie ein riesengroßer Mann mit gerötetem Gesicht aus der Kajüte eines vor unserem Haus festgemachten Lastkahns herauskam. Er hatte sich die schwarze Kapuze seines Regenmantels über den Kopf gezogen, ehe er sich in die nasse Welt hinauswagte, trug in jeder Hand eine leere Flasche und schritt nun über das schwankende Brett, das das Schiff mit dem Quai verband. Er und die beiden Clochards sowie ein schmutzig gelber Hund, der unter einem schwarzen Baum kauerte, waren in diesem Augenblick die einzigen Lebewesen dort draußen.

»Gehst du ins Büro hinunter?«, hat mich meine Frau gefragt, als ich im Stehen meinen Kaffee trank.

Ich habe genickt. Sonntage sind mir stets ein Greuel gewesen, vor allem Pariser Sonntage, die mir eine fast panische Angst einflößten. Die Aussicht, unter Regenschirmen vor irgendeinem Kino Schlange zu stehen, verursacht mir Übelkeit. Ebenso ist es mir zuwider, die Champs-Élysées entlangzuschlendern, in den Tuilerien spazieren zu gehen oder in der langen Autokolonne auf der Straße nach Fontainebleau zu fahren.

Wir sind letzte Nacht spät nach Hause gekommen. Nachdem wir uns im Théâtre de la Michodière eine Generalprobe angeschaut hatten, haben wir im Maxim’s gegessen und sind dann gegen drei Uhr früh in einer Kellerbar in der Nähe des Rond-Point gelandet, wo sich Schauspieler und Filmleute treffen.

Der Schlafmangel macht mir mehr zu schaffen als früher. Viviane dagegen scheint nie die geringste Müdigkeit zu spüren.

Wie lange wir wohl noch im Salon geblieben sind, ohne ein Wort zu wechseln? Fünf Minuten mindestens, könnte ich schwören, und fünf Minuten solchen Schweigens sind lang. Ich habe meine Frau kaum angesehen. Schon seit mehreren Wochen vermeide ich es, ihr ins Gesicht zu blicken, und bin darauf bedacht, immer nur kurz mit ihr allein zu sein. Vielleicht hätte sie gerne mit mir gesprochen? Für einen Moment hatte ich den Eindruck, sie wollte etwas Bestimmtes sagen, als ich ihr halb den Rücken kehrte, doch dann hat sie nach kurzem Zögern nur erklärt:

»Ich werde gleich zu Corine gehen. Wenn du Lust hast, kannst du ja gegen Abend nachkommen.«

Corine de Langelle ist eine Freundin meiner Frau, die viel von sich reden macht und in der Rue Saint-Dominique eines der schönsten Häuser von Paris besitzt. Zu ihren vielen originellen Ideen gehört es, jeden Sonntagnachmittag Besuch zu empfangen.

»Es stimmt gar nicht, dass alle Welt zum Rennen geht«, pflegt sie zu sagen, »und nur wenige Frauen begleiten ihre Männer auf die Jagd. Sollen wir uns denn langweilen, bloß weil Sonntag ist?«

Ich bin im Salon auf und ab gegangen und habe dann gemurmelt:

»Bis nachher.«

Ich habe mich in mein Arbeitszimmer begeben. Nach all den Jahren ist es für mich immer noch ein merkwürdiges Gefühl, über die Galerie dorthin zu gelangen. Die Idee stammt von Viviane. Als die Wohnung unter uns frei wurde, hat sie mir geraten, sie zu kaufen, um dort meine Kanzlei einzurichten. Oben wurde es allmählich zu eng, besonders um Gäste zu empfangen. Wir haben die Decke des größten Zimmers entfernen und durch eine Galerie in Höhe der oberen Etage ersetzen lassen.

Dadurch ist ein sehr hohes Zimmer mit zwei Reihen Fenstern entstanden, an dessen Wänden sich von unten bis oben Bücherregale entlangziehen, wodurch der Raum einer öffentlichen Bibliothek ähnelt. Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe, dort zu arbeiten und meine Mandanten zu empfangen.

In einem der ehemaligen Schlafzimmer habe ich mir außerdem einen gemütlichen Winkel eingerichtet, in dem ich meine Plädoyers vorbereite und auf einem Lederdiwan meinen Mittagsschlaf halte.

So auch heute. Aber habe ich wirklich geschlafen? Ich weiß es nicht. Ich habe im Halbdunkel zwar die Augen geschlossen, glaube jedoch, dass ich die ganze Zeit dem Regen in der Dachrinne gelauscht habe. Viviane hat sich in ihrem mit roter Seide ausgeschlagenen Boudoir, das sich neben unserem Schlafzimmer befindet, wahrscheinlich ebenfalls ausgeruht.

Es ist jetzt kurz nach vier. Bestimmt zieht sie sich gerade an, und vermutlich wird sie noch einmal bei mir vorbeischauen und mir einen Kuss geben, bevor sie sich zu Corine begibt.

Meine Augen fühlen sich geschwollen an. Schon seit langem sehe ich schlecht aus, und die Medikamente, die Doktor Pémal mir verschrieben hat, vermögen nichts dagegen. Dennoch schlucke ich gewissenhaft weiter Tropfen und Tabletten, von denen ein ganzes Arsenal auf dem Esstisch für mich bereitsteht.

Ich habe schon immer hervorquellende Augen und einen dicken Kopf gehabt. Er ist so dick, dass ich nur in zwei oder drei Pariser Geschäften einen passenden Hut finde. In der Schule nannten sie mich »Kröte«.

Manchmal höre ich ein Knacken, weil das Holz der Galerie bei feuchtem Wetter arbeitet, und ich hebe dann jedes Mal wie ein ertappter Sünder den Kopf, in der Annahme, dass Viviane herunterkommt.

Ich habe ihr nie etwas verheimlicht, und dennoch werde ich ihr diese Aufzeichnungen verheimlichen und sie in dem Renaissance-Schrank in meinem kleinen Winkel einschließen. Bevor ich mit dem Schreiben begann, habe ich mich vergewissert, dass der Schlüssel nicht verlorengegangen ist und dass das Schloss funktioniert. Ich werde auch für den Schlüssel ein Versteck finden müssen – hinter den Büchern in der Bibliothek zum Beispiel, denn er ist so riesig, dass ich ihn nicht in die Tasche stecken kann.

Aus meiner Schreibtischschublade habe ich einen beigefarbenen Aktenhefter genommen, auf den mein Name und meine Adresse gedruckt sind:

Lucien Gobillot

Rechtsanwalt

Paris, Quai d’Anjou 17

Hunderte solcher Hefter, die mehr oder weniger prall mit den Fällen meiner Mandanten gefüllt sind, stehen in einem Metallschrank, den Mademoiselle Bordenave in Ordnung hält. Ich habe gezögert, meinen Namen dorthin zu schreiben, wo sonst der des Mandanten steht. Schließlich habe ich ironisch lächelnd mit Rotstift ein einziges Wort hingemalt:

Es ist im Grunde meine eigene Akte, die ich hier anlege, und es ist durchaus möglich, dass sie eines Tages von Nutzen sein wird. Zehn Minuten hat es gedauert, bis ich es gewagt habe, den ersten Satz niederzuschreiben. Fast war ich versucht, wie bei der Abfassung eines Testaments zu beginnen:

Ich, UnterzeichnetIer, im Vollbesitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte …

Denn es ist so etwas wie ein Testament. Genauer gesagt, ich weiß noch nicht recht, was es sein wird, und ich frage mich, ob dereinst am Rande dieses Schriftstücks dieselben unleserlichen Zeichen stehen werden, die ich bei meinen Mandanten verwende.

Ich habe nämlich die Angewohnheit, in ihrer Gegenwart das Wesentliche dessen, was sie sagen, zu notieren, das Wahre und das Falsche, das Halbwahre und das Halbfalsche, die Übertreibungen und die Lügen, und zugleich in Zeichen, die nur ich verstehe, meinen eigenen Eindruck festzuhalten. Ein paar dieser Zeichen sind...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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