E-Book, Deutsch, Band 50, 224 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
Simenon Maigret amüsiert sich
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-311-70066-1
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 50, 224 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
ISBN: 978-3-311-70066-1
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Autoren/Hrsg.
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1 Der Kommissar am Fenster
Der kleine Alte mit dem Spitzbärtchen kam erneut rückwärts aus dem Lagerhaus, blickte nach links und nach rechts und machte dabei mit beiden Händen eine Geste, als ob er den schweren Lastwagen, dessen Manöver er dirigierte, anlocken wollte. Seine Hände sagten:
»Etwas nach rechts … Ja … Geradeaus … Vorsicht … Nach links … Jetzt einschlagen …«
Und der sich ebenfalls im Rückwärtsgang bewegende Lastwagen holperte über den Gehsteig auf die Straße, wo der kleine alte Mann jetzt den Autos bedeutete, einen Augenblick zu warten.
Es war der dritte Lastwagen, der innerhalb einer halben Stunde aus dem großen Lagerhaus herauskam, auf dessen Giebel zu lesen war: Maigret waren diese Worte vertraut, denn seit mehr als dreißig Jahren hatte er sie täglich vor Augen.
In Hemdsärmeln und ohne Krawatte stand er am Fenster des Schlafzimmers in seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir und rauchte gemächlich eine Pfeife, während seine Frau hinter ihm die Betten machte.
Er war nicht krank, und genau das war ungewöhnlich, denn es war zehn Uhr morgens und nicht einmal Sonntag.
Mitten am Vormittag am Fenster zu stehen und das Kommen und Gehen auf der Straße zu beobachten, die Lastwagen, die ins Lagerhaus gegenüber hineinfuhren und wieder herausrollten, gab ihm ein Gefühl, das er manchmal in seiner Kindheit empfunden hatte, als seine Mutter noch lebte und er nicht zur Schule ging, weil er Grippe hatte oder die Schule geschlossen war: das aufregende Gefühl zu entdecken, »was passierte, wenn er nicht da war«.
Den dritten Tag ging das schon so, den zweiten, wenn man den Sonntag nicht mitzählte, und er konnte sich immer noch daran erfreuen, auch wenn ein leises Unbehagen hinzukam.
Er machte eine Menge Entdeckungen, interessierte sich nicht nur für die Bewegungen des kleinen Alten mit dem Spitzbärtchen, der die herausfahrenden Lastwagen überwachte, sondern beobachtete zum Beispiel auch, wie viele Gäste in das Bistro nebenan gingen.
Es war schon vorgekommen, dass er den Tag zu Hause verbracht hatte. Fast immer war er krank gewesen, lag dann im Bett oder saß in seinem Sessel. Aber diesmal war er nicht krank. Er konnte seine Zeit nach Belieben verbringen. Er verfolgte den Tagesablauf seiner Frau, mit welchen Tätigkeiten sie begann, wann sie von der Küche ins Schlafzimmer ging und wie sie ihre Aufgaben abarbeitete.
Plötzlich erinnerte sie ihn an seine Mutter, die den Haushalt machte, während er einfach aus dem Fenster sah.
Wie seine Mutter sagte Madame Maigret zu ihm:
»Geh bitte mal ein bisschen zur Seite, damit ich kehren kann.«
Selbst die wechselnden Küchendüfte trugen dazu bei; an diesem Morgen roch es nach Kalbsbraten und Sauerampfer.
Wie als Kind beobachtete er wieder manche Lichtspiele auf dem Gehsteig, sah, wie die länger werdenden Schatten das Licht vom Gehsteig verdrängten, wie sich Konturen in der flimmernden Luft eines heißen Tages verzerrten.
Das sollte noch siebzehn Tage so weitergehen.
Dass es so weit kommen konnte, war einer ganzen Reihe von Zufällen und Umständen geschuldet. Zunächst einmal hatte er im März eine ziemlich böse Bronchitis gehabt. Wie immer war er zu früh aufgestanden, weil am Quai des Orfèvres viel zu tun war. Er hatte einen Rückfall erlitten, und man hatte schon eine Rippenfellentzündung befürchtet.
Dank des schönen Wetters war er zwar schnell wieder genesen, aber er war weiterhin nervös, verdrossen, fühlte sich nicht wohl. Es schien ihm plötzlich, als wäre er ein alter Mann, auf den die eine Krankheit, die einen für den Rest des Lebens schwächt, an der nächsten Ecke lauert.
Seiner Frau hatte er nichts davon gesagt; ihre verstohlenen Blicke hatten ihn geärgert. Eines Abends war er zu seinem Freund Pardon gegangen, dem Arzt in der Rue de Picpus, bei dem die Maigrets einmal im Monat zu Abend aßen.
Pardon hatte ihn gründlich untersucht und ihn sogar, um ganz sicherzugehen, zu einem Herzspezialisten geschickt.
Die Ärzte hatten nichts gefunden außer einem etwas erhöhten Blutdruck, aber sie hatten ihm alle den gleichen Rat gegeben:
»Sie müssen Urlaub machen.«
Seit drei Jahren hatte er nicht mehr richtig Urlaub genommen. Jedes Mal, wenn er verreisen wollte, kam ein Fall dazwischen, den er übernehmen musste, und einmal, als er schon bei seiner Schwägerin im Elsass war, kam bereits am ersten Tag ein panischer Anruf, der ihn zurück nach Paris beorderte.
»Einverstanden«, hatte er seinem Freund Pardon mürrisch versprochen, »in diesem Jahr nehme ich Urlaub, was auch immer passieren mag.«
Im Juni hatte er das Datum festgelegt: den 1. August. Seine Frau hatte an ihre Schwester geschrieben. Sie wohnte mit ihrem Mann und den Kindern in Kolmar, besaß ein Chalet am Col de la Schlucht, wo die Maigrets schon oft gewesen waren und wo man sich wunderbar ausruhen konnte.
Doch leider hatte Charles, der Schwager, gerade einen neuen Wagen bekommen und wollte mit der Familie nach Italien fahren.
Wie viele Abende hatten Madame Maigret und er mit Diskussionen über ein anderes Reiseziel verbracht! Zuerst hatten sie an die Loire gedacht, wo Maigret angeln könnte, dann an das Hôtel des Roches-Noires in Les Sables-d’Olonnes, wo sie einmal herrliche Ferien verbracht hatten. Schließlich hatten sie sich für Les Sables entschieden. Madame Maigret hatte in der letzten Juniwoche angefragt und bekam die Antwort, bis zum 18. August sei alles ausgebucht.
Am Ende hatte ein Zufall die Entscheidung des Kommissars herbeigeführt. Mitte Juli war er an einem Samstagabend gegen sieben in einer eher unbedeutenden Angelegenheit an die Gare de Lyon gerufen worden. Die Fahrt vom Quai des Orfèvres in einem Auto der Kriminalpolizei hatte eine halbe Stunde gedauert, weil die Straßen vollkommen verstopft gewesen waren.
Acht Sonderzüge waren angekündigt, und die Menschenmengen mit den vielen Koffern, Taschen, Bündeln, Kindern, Hunden und Angelruten in der Eingangshalle, auf den Bahnsteigen, überall, ließen an eine Massenauswanderung denken.
All diese Menschen fuhren aufs Land oder ans Meer, würden über das kleinste Hotel, den bescheidensten Gasthof herfallen, ganz abgesehen von denen, die auf dem ersten freien Plätzchen ihre Zelte aufschlagen würden.
Es war ein heißer Sommer. Maigret war völlig erschöpft nach Hause gekommen, als hätte er selbst eine Reise in einem überfüllten Nachtzug hinter sich.
»Was hast du?«, hatte ihn seine Frau gefragt, die seit seiner Bronchitis doppelt um ihn besorgt war.
»Hast du vergessen, was Pardon gesagt hat?«
»Ich habe es nicht vergessen.«
Voller Grauen dachte er an die überfüllten Hotels und Familienpensionen.
»Sollen wir unseren Urlaub nicht besser in Paris verbringen?«
Zunächst hatte sie das für einen Scherz gehalten.
»Wir gehen eigentlich nie miteinander in Paris spazieren. Wir schaffen es höchstens einmal die Woche, ins nächstbeste Kino auf den Boulevards zu gehen. Im August ist die Stadt leer, wir hätten sie für uns.«
»Und du wirst als Erstes an den Quai des Orfèvres stürzen, um irgendeinen Fall zu übernehmen.«
»Nein, das schwöre ich dir!«
»Das sagst du so.«
»Wir könnten durch Viertel spazieren, in die wir sonst nie kommen, mittags und abends in netten kleinen Restaurants essen …«
»Wenn die Kriminalpolizei weiß, dass du hier bist, rufen sie dich bei der ersten Gelegenheit an.«
»Weder die Kriminalpolizei noch sonst jemand erfährt davon, außerdem lasse ich das Telefon sperren.«
Dieser Gedanke hatte ihm gefallen, und schließlich auch seiner Frau. Das Telefon im Esszimmer blieb also stumm, auch daran konnte er sich nur schwer gewöhnen. Zweimal wollte er nach dem Hörer greifen, bevor ihm einfiel, dass er das nicht durfte.
Offiziell war er nicht in Paris, sondern in Les Sables-d’Olonnes. Diese Adresse hatte er bei der Kriminalpolizei hinterlassen, und wenn dort eine dringende Nachricht ankäme, würde man sie ihm nachsenden.
Am Samstagabend hatte er den Quai des Orfèvres verlassen, und alle glaubten, er sei am Meer. Am Sonntag waren sie erst am späten Nachmittag ausgegangen und hatten in einer Brasserie an der Place des Ternes zu Abend gegessen, ein gutes Stück von ihrer Wohnung entfernt, als wollten sie einmal etwas ganz anderes sehen.
Am Montagmorgen war Maigret gegen halb elf zur Place de la République gegangen, während seine Frau den Haushalt machte, und hatte auf einer fast leeren Caféterrasse die Zeitungen gelesen. Sie hatten in La Villette zu Mittag und zu Hause zu Abend gegessen und waren danach ins Kino gegangen.
Sie wussten beide noch nicht, was sie am heutigen Dienstag tun würden, außer dass sie zu Hause den Kalbsbraten essen und dann wieder aufs Geratewohl losgehen würden.
An diesen neuen Rhythmus musste er sich gewöhnen, denn es war seltsam, keine Verpflichtungen zu haben, die Stunden und Minuten nicht zählen zu müssen.
Er langweilte sich nicht. Doch ehrlich gesagt schämte er sich ein wenig seines Nichtstuns. Ob seine Frau das merkte?
»Willst du dir nicht die Zeitungen holen?«
Es wurde schon zur Gewohnheit. Um halb elf würde er die Zeitungen kaufen und sie wahrscheinlich auf derselben Caféterrasse an der Place de la République lesen. Das amüsierte ihn. Kaum war er den alten Zwängen entwischt, hatte er sich schon neue auferlegt.
Er wandte sich vom Fenster ab, band sich eine Krawatte um, zog Schuhe an und suchte seinen...