Smith | Desperation Road | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

Smith Desperation Road


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-86913-973-9
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

ISBN: 978-3-86913-973-9
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mississippi-Delta: Elf lange Jahre saß Russell Gaines im
Gefängnis, weil er betrunken Auto fuhr und dabei einen
Jugendlichen tötete. Doch am Morgen seiner Entlassung muss
er feststellen, dass nicht jeder der Meinung ist, er hätte schon
für seine Schuld bezahlt. Am selben Tag stapfen eine Frau namens
Maben und ihre kleine Tochter Annalee die Interstate
entlang, verzweifelt, erschöpft, und bezahlen mit ihren letzten
paar Dollar ein Zimmer für die Nacht - eine Nacht, die damit
enden wird, dass Maben mit einer Pistole in der Hand durch
die Dunkelheit irrt und ein Deputy tot auf der Straße liegt.
Im Morgengrauen kreuzen sich die Wege von Russell und
Maben, und der Ex-Sträfling muss sich entscheiden, wessen
Leben er retten wird: sein eigenes oder das der Frau und ihrer Tochter.

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  3 Eine untersetzte Frau in schwarzen Stiefeln und einem Waylon-Jennings-T-Shirt weckte sie. Sie setzten sich auf, rieben sich die Augen, und als sie standen, fragte die Frau, was sie da machten. »Nichts«, erwiderte Maben, strich dem Kind mit der Handfläche übers Haar und hob dann den Müllsack auf. »Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit oder so was? Ich muss jetzt zuerst mal was essen, aber dann fahr ich runter Richtung New Orleans.« »Wir kommen schon klar«, sagte Maben, nahm die Hand des Mädchens und verließ mit ihm den Umkleideraum. Sie gingen hi­naus und setzten sich auf den Bordstein. Während sie ein paar Stunden Schlaf ergattert hatten, in denen höfliche oder desinteressierte Besucher der sanitären Einrichtungen über sie hinweggestiegen waren, bis schließlich die untersetzte Frau beschlossen hatte, sie zu wecken, war der Nachmittag verstrichen. Maben fragte sich, ob die Zeit noch reichte, um es zum Frauenhaus zu schaffen, oder ob sie wieder in der Nacht stranden würden. Ob sie noch einen Platz für sie hätten. Ob sie ihr helfen könnten, einen Job zu finden. Ob sie Malbücher hätten. Ob sie einen Tag lang bleiben könnten oder drei Tage oder einen Monat. Ob. Ihr Blick fiel über den Parkplatz auf die Motelzimmer. Sie sah das Mädchen an. Sie waren drei Tage lang am Straßenrand oder im Wald gewesen. »Komm«, sagte sie zu dem Mädchen, und sie gingen wieder hi­nein und zur Kasse des Diners, wo die Zimmerschlüssel an Haken auf einem an die Wand genagelten Holzbrett hingen. Die junge Frau, die sie bedient hatte, stand hinter der Kasse und sortierte Quittungen, schaute auf und sagte, ich dachte, ihr wärt längst weg. »Noch nicht«, erwiderte Maben. »Wir hätten gern eines der Zimmer, falls Sie noch eines haben.« »Klar«, sagte die Kellnerin, legte die Quittungen hin und holte ein Notizbuch unter dem Tresen hervor. Sie schlug es auf, hakte ein paar Felder ab und sagte, es sähe so aus, als wäre Zimmer sechs noch frei. Genau fünfunddreißig Dollar. Maben zog die gefalteten Scheine aus der Tasche. Während sie das Geld abzählte, sah die Kellnerin zu dem Mädchen hinunter und fragte es nach seinem Namen. »Annalee«, antwortete das Mädchen. Dann sah das Mädchen auf und sagte, meine Mama heißt Maben. »Danach hat sie nicht gefragt«, sagte Maben und gab der Kellnerin das Geld. Die Kellnerin drehte sich um, nahm einen Schlüssel von einem Haken, reichte ihn Maben und lächelte wieder das Mädchen an. »Achten Sie darauf, dass Ihre Tür immer abgeschlossen ist.« »Warum?«, fragte das Mädchen, doch Maben sagte ihr, sie solle mitkommen, und sie überquerten den Parkplatz zu ihrem Zimmer. Sie blieben kurz stehen, um einen Sattelschlepper vorbeizulassen, und als sie ihren Weg fortsetzten, begann das Kind in Vorfreude darauf, von einem weichen Sitzplatz aus fernzusehen, vergnügt zu hüpfen.   Sie hatten sich Zeichentrickfilme und die Wettervorhersage angesehen. Hatten die Schuhe ausgezogen, auf dem Bett gesessen und die Beine ausgestreckt. Hatten kalte Getränke aus dem Automaten geschlürft. Und nun war das Mädchen eingeschlafen, und das Licht des Fernsehers flackerte im dunklen Zimmer über ihren sauberen Körper. Maben ging zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Der Parkplatz, auf dem inzwischen mehr Lkws standen, die dort die Nacht über bleiben würden, war in ein schaurig-gelbes Licht getaucht. Sie konnte über den Parkplatz hinweg in die Fenster des Diners sehen, in dem sich mehr Kellnerinnen als Gäste befanden. Sie hatte über die Hälfte ihres Geldes ausgegeben und kam sich nun ziemlich dumm vor. Wenn sie morgen in der Broad Street aus irgendeinem Grund nicht das fand, was sie zu finden hoffte, wenn das Frauenhaus dichtgemacht hätte oder überfüllt oder einfach nicht der richtige Ort für sie beide wäre, dann hätte sie einen schweren Fehler begangen. Dreiundsiebzig Dollar waren ohnehin sehr wenig, aber wenn man fünfunddreißig Dollar abzog und noch mal acht fürs Mittagessen, dann blieb wirklich nicht mehr viel übrig. Sie ging zum Fernseher, schaltete auf einen Nachrichtensender und sah auf die Uhrzeit in der rechten unteren Ecke des Bildschirms. Zehn nach elf. Sie ging zurück zum Fenster, setzte sich in einen Sessel und zog erneut den Vorhang zurück. Wenigstens stinken wir nicht mehr, dachte sie. Ihr fiel ein, dass die Kellnerin gesagt hatte, schließen Sie immer die Tür ab, doch sie verstand nicht, was es mit der Warnung auf sich hatte. Es schien, als ob die Menschen hier das taten, was sie tun sollten. Genau in diesem Moment bemerkte sie am Rand des Parkplatzes zwei junge Mädchen, die vor einer Sekunde noch nicht dort gewesen waren. Als wären sie aus irgendwelchen Löchern im Boden hochgeschossen. Die eine war weiß, die andere schwarz. Sie waren gleich gekleidet. Kurze Jeansröcke, weiße Tanktops und Flip-Flops. Eine kleine Handtasche. Vielleicht sechzehn, dachte Maben. Das weiße Mädchen hatte ihr dunkles Haar so kurz geschnitten wie ein Junge, und das schwarze Mädchen trug ein rotes Bandanatuch um den Kopf. Sie gingen gemeinsam zur Mitte des Parkplatzes, wo das schwarze Mädchen auf einen lilafarbenen Lkw zeigte und das weiße Mädchen auf einen schwarzen Lkw, und dann trennten sie sich. Maben verfolgte, wie jedes Mädchen zum Fahrerhaus des Lkw ihrer Wahl ging, auf die Trittstufe kletterte, sich am Außenspiegel festhielt und an die Scheibe klopfte. Die Tür des lilafarbenen Fahrerhauses öffnete sich zuerst, und das schwarze Mädchen kroch hinein. Das weiße Mädchen klopfte erneut an und rückte ihren Rock zurecht, und dann öffnete sich die Tür des schwarzen Führerhauses, und auch sie verschwand im Inneren. Danach wurden bei den beiden Lkw die Vorhänge zugezogen. Maben zählte neun weitere Lkw auf dem Parkplatz. Neun mal dreißig. Zweihundertsiebzig Dollar. Neun mal fünfzig wären vierhundertfünfzig Dollar. Sie warf einen Blick quer durch das Zimmer auf die dreißig Dollar, die zusammengeknüllt auf dem Tisch neben dem Fernseher lagen. Sie hatte es früher schon gemacht, und sie hatte sehr lange nicht mehr daran gedacht, hatte sich gezwungen, es aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Und wie sie jetzt darüber nachdachte, kam es ihr vor, als wäre das damals jemand anderes gewesen. Sie hatte es so gut verdrängt, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wann sie es getan hatte und wo sie es getan hatte oder wie oft sie es getan hatte, sondern nur, dass es zu einer Zeit gewesen war, als die tollwütigen Hunde des Lebens sie in eine dunkle Ecke tiefster Verzweiflung getrieben hatten. Sie betrachtete die Lastwagen und fragte sich, ob die Mädchen schon alt genug für den Führerschein waren. Fragte sich, woher sie kamen. Fragte sich, ob diesen Männern auch nur für einen Moment in den Sinn gekommen war, dass diese Mädchen noch bis vor Kurzem Kinder gewesen waren. Oder es immer noch waren. Oder vielleicht nie gewesen waren, weil sie dazu nie die Chance bekommen hatten. Sie sah Annalee an und begriff, was das Mädchen möglicherweise erwartete, falls sich nicht grundsätzlich etwas änderte. Dann holte sie tief Luft und blickte wieder hinaus auf den Parkplatz, und jene Nacht vor so vielen Jahren erschien deutlich vor ihren Augen. Und das Bild dieses Jungen. Dieses wunderschönen Jungen. Sie beide zusammen auf der Heckklappe des Pick-ups, der auf der Walker’s Bridge parkte. Unter ihnen plätscherte der Shimmer Creek dahin, und Bach und Brücke waren von dichtem Wald umgeben, dessen Bäume die Brücke fast beschützend umschlangen. Der Pick-up füllte die ganze Breite der Brücke aus, in dessen schiefes, morsches Holzgeländer längst verflossene Liebeserklärungen mit Flaschenöffnern und Taschenmessern geritzt worden waren. Es herrschte Vollmond, und sein Licht warf die Schatten der Bäume über den Boden und erschuf die Illusion, dort würde eine Armee stiller Geister lauern. Der Himmel war voller Sterne. Über die Musik aus dem Radio und das Plätschern des Wassers hinweg hörte man den gemischten Chor der Frösche und Grillen, und sie wusste, dass alles genau so sein sollte. Wusste, dass er der Richtige war. Also sagte sie ihm, er solle auf die Ladefläche des Trucks klettern und sich hinlegen. Frag nicht, leg dich einfach hin, und nicht die Augen aufmachen, und er gehorchte, und dann stand sie auf, entfernte sich vom Pick-up und ging zum Rand der Brücke. Nicht gucken, sagte sie. Sie blickte nach Bestärkung suchend zum Himmel auf, zog dann ihr T-Shirt aus, ihren BH, streifte die Shorts ab und ihren Slip. Sie kniete sich hin und legte ihre Kleidung ordentlich gestapelt an den Rand der Brücke. Sie richtete sich auf, und ein Schauer lief über ihren Körper, doch sie breitete die Arme aus und spürte das Mondlicht, das sie wie ein Paar warme Hände umfasst hielt. Sie sah auf die Ladefläche des Pick-ups und zu dem Jungen, der ihr gesagt hatte, dass er sie liebte. Sie machte einen ersten Schritt auf ihn zu, als das Brummen eines sich nähernden Autos in die Dunkelheit einbrach und das Licht von Scheinwerfern über dem Hügel erschien, Scheinwerfer, die schnell näher kamen und zu zwei grellen Lichtkegeln explodierten, noch bevor sie ihm etwas zurufen konnte, bevor sie Zeit hatte, ihre Sachen aufzuheben, und das Auto wurde nicht langsamer. Und sie hörte, wie sie ihm etwas zubrüllte, während sie von der schmalen Brücke runter an den Straßenrand lief und sich genau in dem Moment umdrehte, als das Auto frontal auf die Schnauze des Pick-ups prallte. Sie duckte sich beim Krachen des Zusammenstoßes, durch den Jasons großer, schlanker Körper von der Ladefläche des Pick-ups in die Nacht hinausgeschleudert wurde, als könne er fliegen. Die Funken, das...


Michael Farris Smith, geboren 1971,
ist Schriftsteller und Essayist und lebt mit
seiner Familie in Columbia, Mississippi.
Für sein literarisches Schaffen wurde er
vielfach ausgezeichnet. Er gilt als einer der
bedeutendsten Autoren des amerikanischen
Südens. Der endgültige Durchbruch gelang
ihm mit seinem dritten Roman Desperation
Road (2017), 2018 folgte The Fighter.



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