Sniadanko Sammlung der Leidenschaften
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7099-3731-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-7099-3731-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Natalka Sniadanko gehört zu den großen Talenten der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Geboren in Lemberg, hat sie u.a. in Freiburg studiert. Seit ihrer Rückkehr nach Lemberg arbeitet sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin, u.a. von Herta Müller, Günter Grass, Friedrich Dürrenmatt und Stefan Zweig. Ihre eigenen Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und international ausgezeichnet. Ihr Roman 'Sammlung der Leidenschaften' genießt in ihrer Heimat längst Kultstatus. Zuletzt erschien bei Haymon ihr Roman 'Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen' (2016).
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Leidenschaften auf Ukrainisch
Dee Snider, die „Zelle“ und die Crux des vorehelichen Sex
Alles begann mit Dee Snider und der „Zelle“. Selbst wenn Dee Snider in seinem Leben nichts weiter getan hätte als ‚Dee Snider’s Teenage Survival Guide‘ zu schreiben, von dem Ende der achtziger Jahre Auszüge in der Zeitschrift ‚Der Altersgenosse‘ veröffentlicht wurden, hätte er mit vollem Recht als herausragende und schicksalsbestimmende Persönlichkeit in die Geschichte unseres Wohnblocks eingehen können. Doch Dee Snider war außerdem noch ein cooler Rocker, ein geiler Typ mit einer geilen Mähne, der die steilsten Soli auf seiner Fender hinlegte, eine abgewetzte Lederjacke trug und bei dem es auf jedem Konzert so richtig abging. Er war nicht einer dieser Poptypen wie Jim Morrison, Santana oder „Led Zeppelin“, ganz zu schweigen von „Halloween“ oder solchen Leuten, die alle hörten und alle toll fanden. Dee Snider machte richtig coole Mucke für die, die geschnallt hatten, was echter Hardrock bedeutete, die ordentliche Dezibels zu schätzen wussten und es sich nicht leicht machten im Leben. Dee Snider machte Mucke für die Hippies unter den Hardrockern und ist deshalb auch mit vollem Recht in die Geschichte der internationalen Rockmusik eingegangen. Obwohl das für unsere Geschichte nicht so wichtig ist.
Nachdem der ‚Altersgenosse‘ über mehrere Nummern Auszüge aus dem ‚Teenage Survival Guide‘ abgedruckt hatte, diese Hefte von uns wieder und wieder – bis sie auseinanderfielen – verschlungen, sorgfältig vor den Eltern versteckt, immer wieder neu gedeutet, erörtert und noch einmal durchgelesen worden waren, begann bei uns im Block die sexuelle Revolution.
Die heutige Schülergeneration wird unsere damalige Ahnungslosigkeit wahrscheinlich stark verwundern. Heute – zumindest wenn man der Zeitschrift ‚Natalie‘ glauben will, die auf eine vergleichsweise keusche und anständige Leserschaft ausgerichtet ist – kann ein Mädchen, das mit dreizehn immer noch nicht ihre Jungfräulichkeit verloren hat, sich als physiologisch nicht vollwertig betrachten. Nicht zu reden vom männlichen Teil dieser Generation, der zwar die Zeitschrift ‚Natalie‘ nicht liest, sich aber über seine Vollwertigkeit nicht wesentlich später zu sorgen beginnt.
Zu unserer Zeit kam dies gerade erst in Mode, was ein gewisses Element der Unruhe in unser beschauliches Provinzdasein brachte. Unsere Eltern hatten uns in dem Bewusstsein erzogen, dass die erste Ehenacht, wenigstens für die Braut, tatsächlich die erste sein sollte, dass sexuelle Erfahrung erst nach der Hochzeit zu sammeln sei und dass ein Mädchen, das sich von einem Jungen hat rumkriegen lassen und von der verbotenen Frucht gekostet hat, sich mit Fug und Recht als entehrt und seine Chancen auf eine glückliche Heirat automatisch um mindestens 50 Prozent geschmälert betrachten könne.
Andererseits war der Strom der verderbten westlichen Zivilisation, der sich in den sexfreien postsowjetischen Raum ergoss, immer weniger aufzuhalten, und Publikationen von der Art des ‚Guide‘ untergruben nach und nach unsere traditionellen Vorstellungen, wenngleich der Schritt von der Theorie zur Praxis beileibe nicht allen glückte. Allein manche Kapitelüberschriften bei Dee Snider trieben mir bei dem Gedanken, die Zeitschrift könnte meinen Eltern in die Hände fallen, den Schweiß auf die Stirn. Man stelle sich unser Gespräch vor, nachdem sie dahintergekommen sind, dass ich mich für Artikel interessierte wie zum Beispiel: „Eltern und Familie – mit ihnen leben kann ich nicht, aber sie abzuknallen täte mir auch leid“, „Was es heißt, zu früh des Lebens müde zu werden“, „Ist Abtreibung gefährlich?“ oder „Der Druck der Clique, der Druck des Biers und der Druck in der Blase“.
Zudem kamen mir manche Tipps des westlichen Rockers etwas widersprüchlich vor. Einerseits mahnte er: „Geht nie ohne Kondom aus dem Haus!“, erklärte einem dabei aber nicht, was man seinen Eltern sagen sollte, wenn sie auf einmal ein Kondom bei einem im Federmäppchen, unterm Kopfkissen oder in der Hosentasche der Jeans im Wäschekorb fanden. Andererseits war es zweifelhaft, dass ein Kondom einen vor allen Gefahren der Straße schützen konnte, denn laut einer Statistik ebenjenes Dee Snider „erkranken trotz der aktiven Aufklärungsarbeit spezieller Einrichtungen jährlich dreitausend Jugendliche an Syphilis, einer chronischen und höchst ansteckenden Geschlechtskrankheit, die, wenn sie nicht behandelt wird, tödlich verlaufen kann. So weise ist Mutter Natur!“. Erstens war mir nicht klar, inwiefern hier die Weisheit von Mutter Natur zum Ausdruck kam, zweitens, welche Art Aufklärungsarbeit die sozialen Einrichtungen leisteten und ob man ihnen angesichts der trostlosen Statistik Vertrauen schenken sollte. Und drittens, wie konnte man es nach einem solchen Hinweis überhaupt noch wagen, das Haus zu verlassen?
Zuweilen durften Dee Sniders Leser sich als komplette Idioten fühlen: „Wenn du dir nicht sicher bist, ob du vielleicht schwanger bist, solltest du als Erstes einen Schwangerschaftstest machen.“ Das klang so weit recht schlüssig, nicht ganz klar war allerdings, woher man im postsowjetischen Raum Ende der achtziger Jahre einen solchen Test hätte nehmen, geschweige denn, wie man ihn hätte anwenden sollen. Stattdessen hieß es dort: „Wenn das Testergebnis negativ ist, bedeutet das, du hast dich umsonst aufgeregt. Wenn es aber positiv ist, steht dir eine schwerwiegende Lebensentscheidung bevor.“ Für alle, die es immer noch nicht begriffen hatten, folgten noch genauere Erläuterungen: „Diese Entscheidung sieht dann so aus: Entweder du nimmst eine Abtreibung vor (für die ganz Begriffsstutzigen hier noch eine letzte Präzisierung:), das heißt, du brichst die Schwangerschaft durch einen chirurgischen Eingriff ab, oder du trägst das Kind aus.“
Für diejenigen, die sich für die Abtreibung entschieden, führte Dee Snider eine Liste von Organisationen an, an die man sich wenden konnte: ein US-weites Netz von Kliniken zur Geburtenkontrolle, die Organisation „Birthright“ und die Nationale Föderation für Abtreibung. Die Nummern, unter denen alle diese Einrichtungen zu erreichen waren, sollte man „im Telefonbuch nachschlagen“. Kunststück!
Nicht weniger simpel stellte sich der Weg für diejenigen dar, die sich dazu entschlossen, das Kind auszutragen und zur Adoption freizugeben: „Mit dem Problem der Adoption befassen sich verschiedene Einrichtungen wie zum Beispiel die ‚Vereinigten Sozialen Dienste‘, die ‚Katholische Wohlfahrt‘ oder die ‚Allgemeine Föderation jüdischer Philanthropen‘. Die Adressen dieser Einrichtungen findest du im Telefonbuch.“ Dee Snider hätte mal versuchen sollen, die Nummer der Lemberger Auskunft zu wählen und nach der „Allgemeinen Föderation jüdischer Philanthropen“ zu fragen.
Doch obwohl wir weder Gin und Tonic hatten, um uns vor dem „ersten Mal“ Mut anzutrinken, noch die Möglichkeit, Sex auf dem Rücksitz des väterlichen Wagens auszuprobieren (selbst wenn der Vater ihn einem anvertraut hätte, erforderte die Ausführung dieses Vorhabens etwa in einem sowjetischen Kleinwagen vom Typ „Saporoshez“ mehrjährige Erfahrung, ein Anfänger war mit dieser Aufgabe überfordert), oder überhaupt einfach ohne weiteres an Kondome gekommen wären, mal ganz abgesehen von ihrer Zuverlässigkeit (erhältlich waren damals im Wesentlichen Erzeugnisse einheimischer Produktion und zweifelhafter Qualität), beschlossen wir, Dee Sniders Ratschläge auszuprobieren.
Der Ort, den wir dafür auswählten, hieß „die Zelle“ und war ein winziger Raum unterm Dach eines der Häuser in unserem Block. Schon als Kinder hatten wir uns dort versteckt, wenn wir „Räuber und Gendarm“ oder „Krieg“ spielten. Damals war es ein leeres, heruntergekommenes kleines Kabuff über dem Fahrstuhl gewesen, dessen Türen immer offen gestanden hatten. Als wir heranwuchsen und drei coole Typen aus unserem Block nicht ohne Einfluss von Dee Snider beschlossen, eine eigene Rockband zu gründen und „geile Mucke, die richtig fetzt“, zu machen, kam die Idee auf, die „Zelle“ als Übungsraum zu nutzen.
Die Hausverwaltung, wohin sich die Jungs wegen der Genehmigung wandten, kam der Jugend zunächst entgegen und gestattete, in dem Kabuff über dem Fahrstuhl Proben durchzuführen. Sie machten es also sauber, schleppten von der Müllkippe ein paar Stühle an, die gerade noch funktionstüchtig waren, bugsierten ein Schlagzeug hinauf und hielten die erste Probe ab.
Bereits am folgenden Tag nahm die Hausverwaltung ihre Worte zurück und kam den empörten Bewohnern mehrerer Nachbarhäuser entgegen. Sie untersagten der frisch gegründeten und auf dem Gebiet der damals erst schwach entwickelten Musikrichtung des „Thrash Metal“ äußerst vielversprechenden Band, ihre Proben in der „Zelle“ zu veranstalten, und veranlassten so die heranwachsende Generation dazu, ihr Hauptaugenmerk von dem Aspekt ihrer kulturellen Entwicklung auf andere Aspekte ihrer Entwicklung zu verlagern, namentlich auf den sexuellen. Es wurde beschlossen, die „Zelle“ für andere Zwecke zu nutzen. Dazu wurden von der Müllkippe weitere noch nicht ganz unbrauchbare Möbel herangeschafft und mehr schlecht als recht eine Art Intimraum geschaffen.
Halbdunkel, ein schmales Sofa mit hier und da hervorquellender Füllung und herausstechenden Sprungfedern, ein Kassettenrecorder, Kassetten, verschiedene Flaschen mit alkoholischen Getränken und ein Sortiment Kondome. Hinter einer schmutzigen Gardine ein großes, an eine ehemalige Schultür erinnerndes Brett, das auf wacklige Pfosten gelegt und mit einem nicht allzu sauberen Tischtuch bedeckt worden war.
Die Jungs...




