Späth | Alyeska | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 182 Seiten

Späth Alyeska

Acht Geschichten
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-85787-977-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Acht Geschichten

E-Book, Deutsch, 182 Seiten

ISBN: 978-3-85787-977-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Band versammelt eine Auswahl teilweise unveröffentlichter Erzählungen des sprachgewaltigen und vielfach ausgezeichneten Schweizer Schriftstellers.
Auf den ersten Blick scheint die Welt in Gerold Späths Geschichten in Ordnung, doch hinter den idyllischen Fassaden öffnen sich bald die Abgru¨nde, treten Tragödien offen zutage. Kunstvoll legt der Autor die Fallstricke aus. Ob in Venedig, auf dem Zu¨richsee, in Alaska oder in Mexiko - die Lebensläufe und Familiengeschichten driften ab ins Groteske und fu¨hren oftmals ins Verderben. Gerold Späth entfaltet einen Erzählkosmos, der Leser und Leserinnen unweigerlich in seinen Bann zieht.

Späth Alyeska jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Als Emo starb
An jenem Tag, an Emos Todestag, waren alle Stunden gleich lang wie vorher und gleich lang wie nachher. Alle Stunden waren gleich jung und gleich alt, als Emo starb. I Der Tag, Emos Todestag, war heiss. Schon um halb vier dämmerte es hellgrau über den Bergen. Die Nacht fiel in die Täler und verkroch sich. Es tagte, schnell wurde es hell, und es wurde warm, als die Sonne stieg. Neun Uhr war der Anfang mörderischer Hitze: Feuer sirrte herab, raste in die Steine, frass alle Schatten auf. Emo lag in seiner Hütte. Verschlossene Fensterläden. Schrägstabiges Licht, wie Pfeile von oben durch die Ritzen. Emo trank abgestandenes Wasser, ein paar Schlücke nur, kleine, dünne Schlücke, und hustete, keuchte, beruhigte sich nach einer Weile, hechelte, atmete mühsam, wollte ganz ruhig, ganz behutsam atmen, ganz gleichmässig. Staub strich durch die Spalten. Und Stimmen, auch Geräusche von Wagenrädern und Hufen im Wegstaub. Fliegengesumm, wenn es wieder ruhig wurde vor der Hütte. Dann Kinderlärm und Hundegekläff. Ruhig atmen, dachte Emo und liess sein Wasser. Er regte sich nicht, lag still in der Nässe. Nur keine Bewegung, keine Aufregung, ganz ruhig liegen, keine Anstrengung, nichts tun, einfach nichts tun. Warten. Am besten wartest du. Du bist ein alter Knabe, und deine Jahre haben dich das Warten gelehrt. Emos Lippen brandeten. Er hatte Durst. Scharfer Schweiss brach plötzlich aus seinem Gesicht und verbiss sich in seine Lider. Emo liess die Arme über den Pritschenrand baumeln. Der Schweiss ätzte ihm die Augen aus. Du musst ruhig bleiben und warten, dachte er. Die Fliegen schwirrten in engen Kreisen. Emo stemmte sich noch einmal hoch. Aber am Mittag erschlug ihn die Hitze. Staub flirrte im Licht, das flach hereinstiess und die Hütte mit gleissenden Wänden unterteilte, als die Sonne endlich im Westen herabrollte. Die Fliegen schwärmten; sie tanzten über Emos stinkender Pritsche. II Oder an einem andern Tag, als der Wind unerwartet auffrischte, als zuerst feines Eis herabstäubte, und als dann die fauchende Kälte kam und Schnee brachte, als die Scheiterbeige neben dem Drahtverhau unter die Schneewehen geriet. Emo rieb Hände und Gesicht. Er war krank, er fror. Der kleine Eisenblechherd war kalt. Emo hustete und spürte das Stechen in der Brust, dieses heisse Stechen, dieses rasende Reissen! In einer Konservenbüchse schmolz er ein wenig Schnee. In den Winkeln hockte der Frost. Emo knüllte noch mehr Zeitungen zusammen, und noch eine, bald die letzte. Er stopfte dem kleinen Ofen das Maul; es war gefrässig: das Feuer schlug hoch und verschlang alles und gab nichts her. Emo fand zwei Scheiter im Bratofenloch. Er versplitterte sie, schnitzelte Späne, legte zuerst eine Zeitung hinein, schob zitternd drei Handvoll drauf. Der kleine Herd schlang alles hinab. Eine Zeitlang blieb der Rauch im Rohr, drückte herab, schwallte zurück und quoll stickig aus den Löchern; dann plötzlich jaulende Windstösse, die das kleine Feuer mit Gewalt aus dem Ofen in den Kamin hinaufrissen und die dünne Wärme aufsogen, hinauszerrten wie nichts. Es gab nur zwei, drei Maulvoll lauwarmes Wasser. Der Wind stiess überall herein, überall bleckte die Kälte scharfbissig durch die Fugen. Noch am Vormittag begann das Fieber einen höllischen Trommeltanz. Emos Herz hastete, wollte Schritt halten mit dem heissen Leben. Der Ofen war so kalt wie zuvor. Es wurde Nachmittag; die Eisböen liessen nicht nach, sie schrien von weit her und sprangen die Hütte an, verkrallten sich. Kurz vor Mitternacht fisperte Emo etwas Unhörbares in den Sturm. Dann schwieg er, und alles fror, wurde stocksteif. III Als Emo starb, schlugen die Gewitterwellen über ihm zusammen. Er wurde in die Strömung geschleudert, das Wasser sog ihn hinab; es verrenkte ihm die Arme, riss den Schuh von seinem linken Fuss. Ein paar Männer in knalligen Schwimmwesten, mit straff ums Kinn gezurrten Südwesterriemen wagten sich mit einem schweren Kahn hinaus. Sie warfen Leichenhaken über Bord, um Emo anzuschrenzen und herauszufischen. In vier Schüben rasten schwere schwarze Wolkensäcke seeaufwärts. Der ganze Zeltplatz flügelte bauschig in die Böen hinauf. Am andern Morgen fand man Emos linken Schuh zwischen den Wellenbrechersteinen draussen vor der Mole. Mehr wurde nie gefunden. IV Emo wurde seines Alters oder seiner Jugend wegen aussortiert und neben dem Ausladplatz dorthin getrieben, wo eine Kinderschar verstört wimmerte und nicht wusste, wohin. Grosse Augen. Gekeuch. Gehuste. Bärte und beruhigendes Gemurmel der Greise. Dann eine Menschenherde auf dem Marsch. Uniformen. Befehle. Glänzendes Lederzeug. Und endlich Luft nach der beklemmenden Enge, frische Luft und Bewegung. Kein Uringestank mehr, kein Angstschweissgeruch, kein Gestank mehr von faulem, nassem, verhocktem Stroh. Frische frostige Luft. Emo atmete tief. Als er seine Lungen füllte, sah er mit geschlossenen Augen während eines kurzen Augenblicks ein sonngleissendes Schneefeld. Die Kleider waren sorgfältig gebündelt auf die lange Wandbank zu legen: alle fünfzig Zentimeter ein sauberes Bündel. Es wurde streng auf Ordnung geachtet. Die Schuhe mussten links mit rechts vernestelt werden. Jeder Haken an der Holzwand eine Nummer. Die Nummer sechsundneunzig tilgte Emos Namen. Aber der Winter ist vorbei, die Sonne fächert über die morastigen Tümpel, und der Wegstaub trocknet schon fleckweis. Wieder atmet Emo tief und schliesst seine Augen. Da werden die eisernen Tore zugeschlagen; sie scheppern krachend ins Schloss. Und jetzt Gerede, was so geredet wird, aber hastiger, plötzlich aufgeregt, plötzlich furchtsam. Was soll man glauben? Man wird sehen, gewiss, man wird sehen, aber was ist das? Jemand schreit, und eine Frau ruft es laut: »Sie wollen uns umbringen!« Und viele schreien, viele schlagen jetzt um sich, viele brüllen, einige erbrechen sich, einige klappen schon zusammen, krümmen sich, werden käsig, sacken ächzend ein. Die Luft, es ist die verbrauchte Luft! Gift in der Luft! Gift! Emo schnaufte mit aufgerissenem Mund. Er reckte sich an der Säule empor, wollte steigen; hinauf, hoch über alle hinauf, hinaus wollte er, hinaus aus der Gasfalle. Es fuhr wie Stahl glatt in seine Kehle, und seine Brust barst. Nach zwanzig Minuten lagen alle nackt übereinander: ein Schwarm erstickter Fische in einem ausgelaufenen Trog. V Oder sie schlugen ihn. Seine Hände krümmten sich oben in den Strickschlaufen und verkrampften, verfärbten, schwollen blau an. Emo stand auf den Zehenspitzen. Fusstritte brachten ihm das Baumeln bei. Sie traten in seinen Bauch und schlugen mit Ziemern. Emos Blut drang durch den Hosenstoff. Er wusste nicht, was sie von ihm wollten. Er wusste nichts. Er hörte Gelächter und gehässiges Geschrei. Er wollte schlafen. Striemen rissen quer über sein verschwollenes Gesicht. Der Schmerz über und über peitschte sein Herz in einen rasenden Totentanz. Seine klumpige Zunge flatterte sinnlos. Zuunterst am Boden hatte Emo zuerst gefroren. Wer zuunterst lag, fror und konnte nicht schlafen vor Kälte; das wusste jeder. Zuunterst waren die Neuen, die Anfänger, zuunterst lagen nur Leute mit Hoffnung auf irgend etwas. Emo war aufgestiegen, weil über ihm gestorben wurde. Es starben viele. Jeden Tag starben mindestens anderthalb oder zwei Dutzend oder mehr. Nach sechs Tagen hatte Emo seinen Platz zuoberst auf der dreistöckigen Pritsche. Er musste sich wehren. Jeder wollte zuoberst in der stinkigen Wärme schlafen. Sie schnitten Emo vor dem Abendappell ab. Er schlug plump auf den Steinboden. Einer zielte und schoss schräg vor sich hin. Emo warf den Kopf herum. Seine geplatzten Augen waren halb geöffnet. Er wurde an den Beinen hinausgeschleift. Über seinen linken Mundwinkel quoll traniges Blut hervor. VI Emo war guter Laune. Ein wenig müde, das schon, aber fröhlich am warmen Abend. Es waren schöne Frauen da, eine gepflegte Gesellschaft mit blanken Zähnen und feinen Manieren. Das kalte Buffet: Lachs, Schinken, Kaviar, Gambas, Hummer, Oliven, Artischocken, geräucherte Forellen, Gänseleberpastetchen, Austern, Roastbeef und so weiter, Mayonnaise und andere Saucen, dazwischen allerlei Salate. Der Mond ging auf, Lampions leuchteten. Musik. Eiswürfelgeklirr in beschlagenen Gläsern. Geplauder, Scherze, fröhliches Lachen, Erinnerungen, Pläne. »Sehen Sie, jener Stern dort, das ist die Venus, der Abendstern, sehen Sie? Luzifer ist sein anderer Name. Und vor Sonnenaufgang ist’s der Morgenstern.« »Es...


Gerold Späth, geboren 1939 als Spross einer Orgelbauerdynastie in Rapperswil am oberen Zu¨richsee, schrieb zahlreiche Romane ("Die heile Hölle", "Sindbadland", "Stilles Gelände am See" u.a.), Hörspiele und Theaterstu¨cke. Fu¨r sein Werk erhielt er u.a. den Alfred-Döblin-Preis (1979), den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1992) und den Gottfried-Keller-Preis (2010). Gerold Späth ist Mitglied des DeutschSchweizer PEN Zentrums und korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Ku¨nste.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.