Stern Maddrax - Folge 316
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8387-1698-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Pest in Venedig
E-Book, Deutsch, Band 316, 64 Seiten
Reihe: Maddrax
ISBN: 978-3-8387-1698-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eben noch im Flächenräumer, sehen sich Matthew Drax, der Daa'mure Grao'sil'aana und Xij nach dem Sprung durch das Zeitportal gänzlich anderen Problemen gegenüber - die jedoch genauso tödlich sind! Während Xij als Hexe verurteilt wird, müssen sich Matt und Grao in einem mittelalterlichen Venedig behaupten, das im Sterben liegt. Und über allem stehen die Fragen: Kann es eine Rückkehr geben? Ist ein Eingriff in die Zeitlinie möglich? Oder ist die Zukunft verloren?
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Du bist schon einmal durch die Zeit gestürzt. Hast dich hineinverirrt in den unsichtbaren Strahl und die Zukunft gefunden. Nun wirst du zurückgeworfen, suchst mit aller Macht einen Weg, zu verhindern, was längst geschah. Wie willst du ihn finden? Die Erde steht auf dem Spiel. Wirst du aufgeben oder kämpfen? Matthew Drax rannte. Die einstürzende Brücke hinter ihm verschaffte ihnen einen Vorsprung, aber noch waren Grao’sil’aana und er nicht in Sicherheit. Xij, dachte er besorgt, was werden sie dir antun? Xij Hamlet hatte es nicht mehr geschafft, die Brücke zu überqueren. Sie war der wütenden Menge ausgeliefert. Er musste so schnell wie möglich umkehren. Aber wie sollte er ihr helfen? Er warf einen Blick auf Grao’sil’aana. Der Daa’mure hatte seine Gestalt verändert und sah nun nicht mehr aus wie eine geschuppte Echse auf zwei Beinen, sondern wie der übergewichtige Händler Hermon – eine Rolle, die er schon beim Volk der Dreizehn Inseln gespielt hatte. Alles an ihm, von den rotblonden Haaren bis hin zur nachgeahmten venezianischen Kleidung, bestand aus Myriaden winzigster Schuppen, die der Daa’mure im Rahmen seiner Körpermasse beliebig verformen und verfärben konnte. Sie hetzten über einen Marktplatz, der wie so viele Plätze der zahlreichen Inseln ein winziges, überfülltes Zentrum mit Ständen für Obst, Gemüse, Gewürze, Kräuter und Geflügel darstellte. Türkische Muslime mit Turban, Armenier, Juden mit Schläfenlocken, Seeleute und Pilger, sie alle kauften und verkauften, redeten in vielen verschiedenen Sprachen aufeinander ein. Und sie alle wurden still, drehten neugierig ihre Köpfe und musterten ihn, den sonderbaren Fremdling in der ungewöhnlichen Kleidung – ein schwarzes T-Shirt, Hosen aus marsianischer Spinnenseide und halbhohe Stiefel –, wenn er vorübereilte. „Die anderen Primärrassenvertreter werden auf dich aufmerksam“, sagte Grao’sil’aana überflüssigerweise. „Runter vom Markt“, zischte Matt und lief an einer kunstvoll gekleideten Dame mit weitem Rock vorbei. In welchem Jahr waren sie gelandet? Auf jeden Fall musste es das späte Mittelalter sein. Die Frau drehte sich stirnrunzelnd zu ihm um und sagte etwas auf Italienisch. Matt blieb nicht stehen, um darüber zu rätseln, was es bedeutete. Er erreichte das Ende des Platzes und hielt auf eine weitere Brücke zu. Angespannt sah er sich um. Irgendwo musste es einen Ort geben, an den er sich unauffällig zurückziehen konnte. Aber wo? Es wimmelte vor Leuten, wohin er auch blickte. Nach den langen Jahren auf der postapokalyptischen Erde fühlte er sich so eingeengt, als würde er nach zehn Jahren Klosteraufenthalt in einer New Yorker Shopping Mall Weihnachtsgeschenke einkaufen müssen. Grao’sil’aana überholte ihn. „Da vorn, der Hauseingang!“ Er zeigte auf ein schmales vierstöckiges Haus mit Bogenfenstern, das von vielen Rissen und Sprüngen verunstaltet wurde. Das Erdbeben hinterließ seine Spuren. Oder sah das Gebäude schon länger so aus? Der aufgemalte geflügelte Löwe an der Wand war bis zur Unkenntlichkeit verblichen. Sie erreichten den schützenden Eingang. Ein fauliger Geruch nach Moder und Schimmel strömte ihnen entgegen. Matt presste sich die Hand vor den Mund. Der Gestank war übelerregend. Obwohl das Haus heruntergekommen und einsturzgefährdet wirkte, war es offensichtlich nicht nur bewohnt, sondern sogar überfüllt. Im Inneren tönten Stimmen und Geräusche. Ein schwarzhaariger Mann in einfachem Gewand drängte sich an ihnen vorbei und rief etwas. Da Matt kein Italienisch sprach, konnte er nur raten, was es zu bedeuten hatte. Sicherheitshalber wich er ein Stück vom Eingang zurück. Grao’sil’aana stellte sich vor ihn, damit sein ungewöhnlicher Aufzug verdeckt wurde. Ein weiterer Mann in schlichter Kleidung kam mit polternden Schritten das schmale Treppenhaus herunter. Vielleicht ein Handwerker oder Arbeiter. Er trug einen zweiten Mann auf dem Rücken. Eine Leiche. Über Matts Nacken lief ein kalter Schauer. Die Hände des Toten hatten sich an den Nägeln unnatürlich schwarz verfärbt, als wäre die Haut in Kohle gerieben worden. Matts Blick fiel auf zwei Ratten, die sich nicht weit vom Eingang an die Hauswand drückten. Es waren nicht die einzigen auf dem Platz. Bei genauerem Hinsehen konnte er überall zwischen den Ständen und Gebäuden weitere Ratten ausmachen. Erst in diesem Moment begriff er die Gefahr. In Venedig, dem Tor zur Welt, grassierte die Pest! Entsetzt zog er Grao’sil’aana zurück auf den Platz, um nicht mit dem Toten und seinem Träger in Berührung zu kommen. Sie mussten weg. Aber wohin sollten sie fliehen? Die Pest blieb so allgegenwärtig wie das farbenfrohe Heer aus Menschen. Eine Hure grinste ihn an der nächsten Hausecke mit schwarzen Zähnen an. Sie machte einladende Gesten, die an Eindeutigkeit nicht zu überbieten waren. Matt schüttelte den Kopf und wandte sich mit flauem Magen ab. Die zahlreichen Gesichter auf dem Platz verschwammen zu verwaschenen hellen und dunklen Flecken. Er fühlte sich elend, die aufkommende Angst und der noch immer schwach wahrnehmbare Gestank von Moder und Tod würgten ihn. In seiner Erinnerung saß er wieder im Hörsaal der Columbia University, im Seminar „Italienische Geschichte – das große Sterben1)“. Vor dem Antibiotikum hatte es kein Heilmittel gegen die Pest gegeben. Gerade Venedig als Schnittstelle zwischen Okzident und Orient war immer wieder Schauplatz der Seuche geworden. Allein zwischen der Mitte des 14. und 16. Jahrhunderts wurde es mehr als zwanzigmal heimgesucht. Im 17. Jahrhundert konnte keine europäische Metropole mit den Quarantänebestimmungen der Stadt mithalten – und doch kam es erneut zur Katastrophe. Die Sterblichkeitsrate lag je nach Art der Pest bei siebzig bis hundert Prozent. Wer sich infizierte, starb. Ihn schwindelte. Früher an der Uni hatte Matt mit Fakten gearbeitet. Nun stand er unter Todgeweihten, atmete dieselbe Luft wie sie. Wie viele der Menschen um ihn herum würde es treffen? Anhand der hohen Rattenpopulation konnte er schließen, dass die Seuche – wenn es denn die Pest war und nicht die Pocken oder etwas anderes – noch an ihrem Anfang stand. Erst wenn die Ratten krepierten und ihre Flöhe sich menschliche Wirte suchten, würde hier das große Sterben beginnen. „Schau!“ Grao’sil’aana deutete auf eine hölzerne Schubkarre, die in einer engen Gasse neben einem Mietshaus an einem schmalen Kanal stand. „Da ist etwas zum Anziehen für dich.“ Er ging hin und griff nach einem Hemd. Matt fiel ihm mit beiden Händen in den Arm. „Nicht! Fass das nicht an!“ Er glaubte nicht, dass sich der Daa’mure mit dem Pesterreger infizieren konnte. Sein thermophiler Körper blieb vermutlich gegenüber Viren unangreifbar. Aber er selbst konnte sich sehr wohl anstecken, falls Flöhe in der Kleidung steckten und auf ihn übersprangen. „Hier grassiert eine Seuche, Grao. Vermutlich die Pest. Wenn du mich nicht umbringen willst, lass die Finger davon!“ Grao’sil’aana zögerte kurz, mit Blick auf die Schubkarre. Dachte er in diesem Augenblick daran, wie lange sie Erzfeinde gewesen waren und einander den Tod gewünscht hatten? Der Daa’mure war zum Flächenräumer am Südpol gekommen, um Matt zu helfen, den Streiter aufzuhalten. Er hatte es nicht aus Freundschaft, sondern aus Kalkül getan. Gab er Matt die Schuld, dass sie gescheitert waren? Laute Stimmen lenkten Matthew von Grao’sil’aana ab. Er fuhr herum und sah zwei Handwerker hinter sich, die wild gestikulierend auf ihn zeigten. Hastig blickte er zum Kanal hin – vielleicht konnten sie mit einer Gondel fliehen –, als Grao’sil’aana ihn packte und hochhob. Matt spannte seine Muskeln kampfbereit an. „Was tust du?“ „Ich weiß ja nicht viel über die Vergangenheit deines Planeten, Mefju’drex. Aber Seuchen mögen die Primärrassenvertreter gar nicht.“ Der Daa’mure lud Matt auf seine Schultern. „Stell dich tot.“ „Was?“ Matt spürte, wie Graos vermeintliche Kapuze länger wurde. Sie wuchs über seinen Körper hinweg, sodass sie wie ein großes Tuch seine fremdländische Kleidung verdeckte. Dabei veränderten sich Farbe und Schnitt. Sie passten sich dem Aussehen des Totenträgers aus dem überfüllten Mietshaus an. Grao’sil’aana stapfte auf die beiden Handwerker am Ende der Straße zu. Die bekreuzigten sich und gingen schnell weiter. „Wir müssen zu Xij“, flüsterte Matt, auf dem gebeugten Rücken liegend. „Am besten nehmen wir eine Gondel.“ „Nein. Zuerst brauchst du Kleidung. Du erwartest doch nicht, dass ich dich die ganze Zeit herumtrage, oder?“ Matt dachte nach. Jede Seuche breitete sich in unhygienischen Verhältnissen besonders schnell aus. Die Obdachlosen und Armen klagten zuerst über Schmerzen. Die Reichen besaßen im Verhältnis bessere Chancen, zumindest wenn die Seuche sich noch nicht über die ganze Stadt ausgebreitet hatte. „Bring mich in ein reicheres Viertel. Wir müssen Kleidung von Gesunden stehlen.“ Er hätte am liebsten gar nicht gestohlen, aber welche Wahl hatte er? Geld besaßen sie nicht. Grao’sil’aana schnaufte und ging durch die Menge. Man wich ihnen aus, eine Gasse entstand. In Matts Kopf arbeitete es auf Hochtouren. Sie mussten die Stadt verlassen oder zur Zeitblase gehen, um in ihre Zeit und den Flächenräumer zurückzukehren. Zunächst aber mussten sie Xij wiederfinden und konnten nur hoffen, dass sie noch lebte. Xij überlegte, ins Wasser zu springen, doch neben den zahlreichen Ratten im Kanal graute ihr vor der Kälte. Zudem würde die Flucht...