Straub | Wer hier schlief | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Straub Wer hier schlief

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1378-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1378-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie weit würdest du gehen, um dich zu retten? Philipp Kuhn schluckt Refluxtabletten und verkauft Sicherheitstüren. Er ist nicht unzufrieden, aber glücklich ist er auch nicht. Bis er überraschend die Chance bekommt auf das richtige Leben. Es heißt Myriam. Und Kuhn macht ernst, opfert alles. Die Frau, den Job, alle Sicherheiten. Doch es kommt anders. Myriam verschwindet im Gewühl der Stadt. Und je länger die Suche andauert, desto weiter scheint Kuhn sich zu entfernen, nicht nur von Myriam, auch von sich selbst. Wer hier schlief ist eine moderne Odyssee, bei der Kuhn alles aufs Spiel setzen muss: seine Liebe, seine Gesundheit, seine Existenz. Kuhn sucht Myriam in der ganzen Stadt. Am Pirandelloplatz, ihrem Treffpunkt, verpasst er sie nur knapp, dann wird sie von einer Demo verschluckt. An ihrem Arbeitsplatz im Hotel ist sie nicht zu finden. In ihrer Wohnung wohnt gar eine andere Frau. Während er versucht herauszubekommen, was mit ihr passiert ist, lebt er auf der Straße, übernachtet im Fitnessstudio. Sein Magen wird von Krämpfen geplagt, sein Geld geht zur Neige, die ganze Stadt ist ein Alptraum. Doch er entdeckt auch etwas Neues: ein Gespür für das Leben. Wer hier schlief erzählt davon, was man gewinnt, wenn man alles verliert. »Man überschlägt sich mit Adjektiven wie eloquent, leichtfüßig, originell, grotesk, anspruchsvoll, empfehlenswert oder bereichernd.« Sabine Oppolzer, ORF »Voller Erfindungsgabe und einer emotionalen Kraft, die den Witz nicht aufhebt, sondern scharf beleuchtet.« Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung



Isabella Straub, geboren in Wien, lebt in Klagenfurt am Wörthersee. Studium der Germanistik und Philosophie, danach Werbetexterin. Der Roman 'Südbalkon' (2013) war auf der Shortlist des Bremer Literaturförderpreises, des Franz-Tumler-Preises und gewann den Debütpreis der Erfurter Herbstlese. Zuletzt erschien von ihr'Das Fest des Windrads'.
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Bitte weiteratmen


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Philipp Kuhn setzte einen Fuß vor den anderen. Es war so einfach zu gehen, wovor hatte er sich gefürchtet? Die Gropiusgasse entlang bis zur Kübler-Ross-Straße, dann durch das Machiavelli-Tor in den Naumannpark.

Die Luft war zu warm für Ende September. Ein Pärchen lag auf der Wiese, das Mädchen hatte seinen Kopf auf den Bauch des Jungen gelegt. Ihre Körper bildeten ein perfektes T.

Um einen Teich waren Bänke in U-Form arrangiert. Eine Frau zerbröselte Kuchen, um ihn an die Vögel zu verfüttern. Sie warf die Brösel in die Luft und gurrte wie eine Taube. Als Kuhn an ihr vorbeiging, hob sie den Blick, sah aber nicht ihn an, sondern das Bild, das er mit sich trug. Es war ein gerahmter Kunstdruck und zeigte einen Männerkopf mit blendend weißem Turban, makellos, als sei er aus Porzellan.

Am Teich gab es einen Kiosk. Kuhn kaufte Limonade. Trank im Stehen, das Bild stellte er auf einen Stuhl. Der Verkäufer stapelte Magazine auf dem Tresen. Das Radio lief. Und wenn ich sterb, ich sterb für dich. Und wenn ich wein, ich wein um dich. Der Verkäufer pfiff die Melodie mit.

Kuhn war der einzige Gast. Die Limonade war eiskalt, sein Magen krampfte. Er kramte in seinen Hosentaschen, bis er den Blister fand, drückte das letzte Digestopax heraus und schluckte es mit Limonade hinunter. Die vergangenen Tage war er nachlässig gewesen. Hatte unregelmäßig gegessen, die Tabletten nur genommen, wenn er daran gedacht hatte, und er hatte selten daran gedacht.

»Der schaut aber streng«, sagte der Verkäufer und deutete auf das Bild. »Sind Sie das?«

Kuhn schüttelte den Kopf. Der Mann auf dem Bild war viel älter als er. Zehn, fünfzehn Jahre, mindestens.

»Das ist Adam«, sagte er.

Der Maler hatte sich über Jahrzehnte selbst gemalt, und sein Adam war mit ihm gealtert. Auf diesem Bild war das Gesicht zerfurcht, die Haut gelblich-grau, die Wangen eingefallen, wulstige Lippen über dem vorspringenden Kinn. Er wirkte ausgezehrt, sein Blick aber war selbstbewusst, beinahe arrogant.

»Der mit Eva und dem Apfel?«, fragte der Verkäufer.

»Ein anderer«, sagte Kuhn.

»Dann kenn ich ihn nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte er. Wer konnte schon behaupten, einen anderen zu kennen, selbst wenn er ihn täglich sah. Die Taubenfrau gurrte, als Kuhn nach dem Bild griff und ging.

Vera hatte Adam nie leiden können. Sie verbannte ihn ins Kinderzimmer, in dem niemals ein Kind schlafen würde. Ein Zimmer, das sie kaum je betraten. Als er sie fragte, ob ihr das Bild nicht gefiel, sagte sie, dass sie sich vor Adams Blick fürchte. Sie war eine miserable Lügnerin.

Das Bild war der erste Gegenstand, den Kuhn in Veras Villa mitgebracht hatte, und nun war es das letzte, was er von dort mitnahm. Viel war es ohnehin nicht gewesen. Sein Ehrgeiz als Mann und Liebhaber bestand darin, keine Lasten anzuhäufen. Keine Kinder, kein gemeinsames Eigentum, keine Verpflichtungen.

Abgesehen davon war das Bild das Einzige, was er noch besaß, wenn man die beiden Kisten abzog, die er bereits in der Vorwoche aus der Villa geschmuggelt und bei Myriam untergebracht hatte: zwei Kartons mit Kleidern und Papieren, ganz zuunterst die Tabletten gegen den Reflux und die Sparbücher mit dem Überbrückungsgeld.

Allmählich ging die Villengegend in eine Mietshauslandschaft über. Das Grün vor den Häusern wurde struppiger, die Autos schäbiger, das Klingeln der Straßenbahnen klang aggressiver. Auf den Dächern drängten sich Satellitenschüsseln aneinander. In den Thujahecken nisteten Gespinstmotten.

Vor der Dominikanerinnenkirche saß ein Bettler auf einer Decke. Auf einem Karton stand: FÜR LOTTO. Die Leute lachten, wenn sie vorbeigingen, einige warfen Münzen in den Pappbecher. Eine junge Touristin ließ sich mit dem Bettler fotografieren. Er legte seinen Arm um sie und strahlte, als hätte er schon gewonnen.

Auch Kuhn fühlte sich wie ein Gewinner. Hätte man ihn in diesem Moment gefragt, ob er glücklich sei, hätte er geantwortet: Noch nie war ich so erleichtert. Es war nicht zum Eklat gekommen. Er hatte damit gerechnet, dass Vera weinen würde. Ein verhaltenes Schluchzen wenigstens, die zitternde Hand auf den Mund gepresst, zerronnene Schminke, sowas in der Art. Er hatte befürchtet, dass sie versuchen würde, ihn zu schlagen, er wäre auf alles vorbereitet gewesen, hätte ihr Handgelenk gepackt, ihren flatternden Puls unter seinen Fingern. Vera. Bitte.

Aber sie hatte nur die Lippen aufeinandergepresst, und an ihrem Hals war eine bläuliche Ader hervorgetreten, die ihm zuvor nicht aufgefallen war. Er hatte sie nicht angelogen, aber er hatte die Wahrheit vorsichtig dosiert. Und Myriam nicht erwähnt, kein Wort von Myriam. Nicht eine Silbe.

Als Kuhn die Apotheke ZUM HEILIGEN NEPOMUK betrat, klingelte ein Glöckchen. Es war eine auf alt getrimmte Apotheke mit Schränken aus dunklem Holz, die unzählige winzige Schubladen enthielten. Mit einer Großpackung Digestopax würde er eine Weile auskommen.

»Ihre Verschreibung, bitte«, sagte die Apothekerin.

»Einen Moment.« Er griff in die Hosentaschen und legte alles auf den Tresen, Taschentuch, Fahrschein, FLOW-Mitgliedskarte. Die Apothekerin wartete geduldig. Er holte die Geldbörse hervor und faltete einen Zettel nach dem anderen auf. Alles Kassenbons und Restaurantbelege.

»Ich könnte schwören –«

»Wir benötigen eine aktuelle Verschreibung. Wir machen keine Ausnahme.«

»Hören Sie, ich muss – also, es geht mir schlecht, wenn ich … Das müssen Sie mir einfach glauben.«

Er wusste nicht, wie er ihr begreiflich machen sollte, dass er ohne Tabletten den Tag nicht überstehen würde.

»Gehen Sie zum Arzt und kommen Sie dann mit der Verschreibung wieder«, schlug sie vor.

Als ob das so einfach wäre. Er wusste nicht einmal, ob er noch versichert war.

Die Apothekerin griff in die Vitrine und legte eine Auswahl an Tees vor ihm auf den Tisch. Die Tees hießen Magenwohl, InnerPeace und Bauchgefühl. Sie strich über die Verpackung. »Wertvolle Kräuter, schonend getrocknet, sorgfältig verarbeitet, Apothekenqualität«, sagte sie. Es klang wie auswendig gelernt. »Diesen hier«, sagte sie und hielt Bauchgefühl hoch, »trinke ich selbst, und sehen Sie mich an!«

Er sah sie an, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Als er die Tür öffnete, um auf die Straße zu treten, blieb das Glöckchen stumm.

Am Perec-Platz fand ein Hausflohmarkt statt. Auf dem Gehsteig standen eine zerschlissene Couch, eine Stehlampe, ein Bettgestell, dessen Ecke gefährlich weit in die Fahrbahn hineinragte, und ein grüner Fauteuil. Auf dem Boden lagen Kisten mit staubigen Büchern. Wenn sie keine Wände mehr um sich hatten, sahen Möbel fremd aus, dachte Kuhn.

Er setzte sich in den Fauteuil, lehnte Adam gegen das Bettgestell, holte das Handy heraus. Um die Tabletten würde er sich später kümmern. Er rief Myriam an.

Besetzt.

Wahrscheinlich versuchte sie ebenfalls, ihn zu erreichen, es wäre nicht die erste Gleichzeitigkeit.

Er schrieb eine Nachricht: Geschafft. Alles gut gegangen. Freu mich unendich auf dich.

Dass das »l« fehlte, fiel ihm erst auf, als es zu spät war. Als sie nach einer Minute nicht antwortete, fürchtete er, der Fehler hätte sie irritiert, doch er schickte keine zweite Nachricht, aus Angst, sie noch mehr zu verwirren.

Eine Frau trat an ihn heran. Er unterdrückte den Impuls aufzuspringen.

»Eine Okkasion«, sagte sie und blickte auf ihn herab. Sie trug ein Sommerkleid, das um ihren Körper flatterte. Sie war sehr dünn, über dem knochigen Schlüsselbein spannte die Haut.

»Für zehn Euro gehört er Ihnen.«

Kuhn strich mit der Hand über die Armlehne.

»Cord«, sagte sie. »Wieder sehr aktuell.«

»Sie ziehen um«, sagte er, mehr Feststellung als Frage.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Tante sei gestorben, sie müsse die Wohnung ausräumen. Der Sanierungstrupp sei schon im Anmarsch, noch bevor die Tante im Sarg lag. Die Hausverwaltung sei berüchtigt für ihre Taktlosigkeit.

Die Augen der Frau waren verschattet, und Kuhn erhob sich rasch, der Sessel fühlte sich mit einem Mal bedrohlich an. Alles hier schien mit dem Tod infiziert.

»Ich überlege es mir«, sagte er.

»Aber nicht zu lange, er ist sehr begehrt«, sagte die Frau, so als versteckten sich zwischen den ausgesetzten Möbeln noch weitere Interessenten.

Unendlich, dachte Kuhn, bedeutete ohne Ende, und wenn etwas kein Ende hatte, dann hatte es auch keinen Anfang, dann war es immer schon gewesen, und während er durch die Nussbaumstraße ging, fragte er sich, ob er sich nicht schon sein ganzes Leben nach Myriam gesehnt hatte. Ob das, was er ohne nachzudenken ins Handy getippt hatte, das Einzige war, das in seinem Leben je etwas bedeuten würde. Ob er möglicherweise auf diesen Moment hingelebt hatte, taub und blind. Ob sie verstanden hatte, was er meinte, und es keiner Worte mehr bedurfte. Ob sie deshalb nicht antwortete.

In der Ferne sah er den Unterstand der Straßenbahnhaltestelle. Am Pirandellosteg würde er Myriam treffen. Fünf Stationen, dann wäre er bei ihr. Gedankenverloren würde sie aus der U-Bahn-Station ans Tageslicht treten, die rechte Hand am Trageriemen ihrer Tasche, wie es ihre Art war. Er...



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