E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Susi Die Kollision
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-423-43530-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Thriller
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-423-43530-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Eine verhängnisvolle Fahrt über das Mittelmeer
Leia Laine und ihre Schwester machen eine Woche lang Urlaub auf einem Luxuskreuzer. Doch Leia wird den Verdacht nicht los, dass auf dem Schiff irgendetwas nicht stimmt, und schon bald verwandelt sich die entspannte Kreuzfahrt in einen Albtraum. An Bord eines einfachen Fischerbootes sind die elfjährige Amira und ihre Eltern ebenfalls auf dem Weg über das Mittelmeer, in banger Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Das kleine Boot und das Kreuzfahrtschiff – sie steuern aufeinander zu, sie begegnen sich. Luxus und Elend kollidieren gnadenlos.
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MONTAG BARCELONA
3.
Der Mann hat eine Waffe. Seine Hand liegt entspannt auf dem Gürtel der Uniform, aber unter seinen Fingern glänzt etwas Dunkles, Metallisches. Sein Blick geht langsam hin und her, streift über die Menschenmasse in der großen Halle, stockt bei ihr. Ein aufmerksamer, prüfender Blick. Leia wendet sich schleunigst ab. Eigentlich müsste sie sich sicher fühlen, bei all den bewaffneten Sicherheitsleuten. Doch sie tut es nicht. Ripsa hat sich auf der Bank bequem zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, auf ihren Knien liegt eines der Formulare, die ihnen beim Betreten des Terminals in die Hand gedrückt wurden. Sie übersetzt für ihre Schwester: »Bitte wählen Sie yes or no, kreuzen Sie die relev…, äh, zutreffende Antwort an, wenn Sie in den letzten drei Tagen mindestens eines der folgenden Symptome an sich beobachtet haben: Schnupfen, Husten, Halsschmerzen. Durchfall – igitt – oder Erbrechen, oder wenn Sie Kontakt zu jemandem hatten, der an Influenza Typ A oder H1N1 erkrankt ist.« Ripsa hat einen strengen Blick aufgesetzt. »Und – hattest du?« »Bitte?« »Na, Kontakt.« Ripsa zeigt mit dem Zeigefinger auf sie. »Also? Was soll ich ankreuzen?« »Hatte ich nicht.« »Hast du denn auch dein Allergiemittel genommen? Nicht dass du anfängst zu schniefen, sobald wir an Bord gehen.« »Hier blühen doch ganz andere Gräser als zu Hause«, sagt Leia. »Außerdem – auf See …« Erst als sie die Grimasse sieht, wird ihr klar, dass ihre Schwester sie veräppelt. Und sie hat es mal wieder nicht rechtzeitig gemerkt. Sie rollt die Augen und öffnet ihre Wasserflasche, nimmt einen Schluck, lässt die inzwischen lauwarme Flüssigkeit in ihrem Mund kreisen, bevor sie sie hinunterschluckt. Ein kurzes Nickerchen in der Kabine, beschließt sie. Leias Rücken klebt feucht an der Lehne, die Leistung der Klimaanlage reicht bei Weitem nicht aus, denn die südliche Sonne brennt auf die zwei Stockwerke hohe Glaswand. Das Thermometer im Flughafenbus hat 36 Grad angezeigt. Das Licht ist so hart und nackt, dass es in den Augen wehtut. Die Sonnenbrille steckt leider im Koffer, und den musste sie schon am Eingang abgeben, wo er von Gepäckträgern weitertransportiert wurde. Die Wartehalle ist voll mit Hunderten von Reisenden: Pärchen, Familien, Gruppen von Freunden. Eine vielsprachige Kakophonie schwillt abwechselnd an und ebbt wieder ab und trägt nicht dazu bei, das unangenehme Gefühl zu dämpfen, das Leia schon den ganzen Tag zu schaffen macht. Ein Unwohlsein, das irgendwie an Reiseübelkeit erinnert. Die Wanduhr steht auf halb drei. In Finnland wäre es schon halb fünf, rechnet Leia. Kein Wunder, dass die Nerven blank liegen: Sie ist müde. Der Tag ist jetzt schon verdammt lang. Der Wecker hat um halb vier geklingelt, was beim besten Willen noch nicht als Morgen bezeichnet werden kann. Um sechs Uhr mussten sie schon am Flughafen sein, obwohl der Flug erst um 8:15 Uhr ging. Dann hieß es, alle möglichen und unmöglichen Durchleuchtungsgeräte über sich ergehen zu lassen, diverse Kleidungsstücke aus- und wieder anzuziehen, während der Nächste einem schon in den Nacken hechelte, sowie die unnötig detaillierte Leibesvisitation und die aufdringlichen Fragen des Sicherheitspersonals auszuhalten. Haben Sie Flüssigkeiten im Handgepäck? Akkus, Batterien, Elektronik? Bitte packen Sie die Geräte aus. Sprengstoff, andere Waffen, Drogen? Rezeptpflichtige Medikamente, andere Medikamente, Kosmetik? Genaue Angaben, bitte. Und bei der Zwischenlandung in Frankfurt das Ganze überraschenderweise noch einmal, mit deutscher Gründlichkeit. Excuse me, madam, was ist das für eine medizinische Salbe in der 12-Milliliter-Dose in Ihrem Handgepäck? Ein Ausschlag? Haben Sie das Rezept zur Hand? Leider sehen wir uns gezwungen, die Dose zu vernichten, damit sie keine Gefahr für andere Reisende darstellt. Und hatten Sie in den letzten zwölf Monaten Kontakt zu kriminellen Organisationen, national oder international, zu Terrorgruppen oder zu Schurkenstaaten? Mehr als einmal wurden aus der Schlange beim Security-Check Reisende herausgewinkt. Einzelpersonen, aber auch ganze Familien. Leia konnte nicht umhin, zu bemerken, dass offenbar alle aus dem Nahen Osten oder Nordafrika stammten. Bärtige Männer, Frauen mit Kopftüchern, die Kinder mit den gleichen Frozen- oder Mickey-Maus-Rucksäcken wie ihre blonden und blauäugigen Altersgenossen. Das mit anzusehen machte sie wütend und traurig. Ebenso wie der Zustand der ganzen Welt. Sehr schnell waren Angst und Misstrauen zur neuen Normalität geworden, ethnische und religiöse Zugehörigkeit waren jetzt Anlass, andere zu diskriminieren. Doch auch ihre Pässe wurden erneut genauestens unter die Lupe genommen, und zwar mehrmals. Leia konnte sich nicht daran erinnern, wann ihr Passbild jemals so genau inspiziert, ja, regelrecht durchleuchtet worden war. Die Finnair-Maschine, mit der sie angereist waren, hatte sie an Terminal 2E abgesetzt, und der Lufthansa-Flug nach Barcelona sollte an Terminal 1A starten. Zwar war fürs Umsteigen reichlich Zeit vorhanden gewesen, doch hier versickerte sie nun. »Rest in peace, europäische Reisefreiheit«, schnaubte Ripsa hinter ihr und scharrte mit den Füßen wie ein Rennpferd an der Startlinie. Aber als sie ihre Papiere zurückbekamen, lächelte die Passkontrolleurin, wünschte ihnen eine gute Weiterreise und entschuldigte sich für die Verzögerungen aufgrund der Ausnahmesituation. »Hat sie Ausnahmesituation gesagt?«, wollte Leia von Ripsa wissen, als sie in einem unterirdischen Verbindungsgang, der mit seinen Metallwänden an ein Raumschiff erinnerte, zu ihrer nächsten Etappe galoppierten. »Wie schrecklich, was denn für eine Ausnahmesituation?« »Wir wollen jetzt nicht spekulieren«, sagte Ripsa knapp. »Wir haben es eilig!« In letzter Minute erreichten sie das Gate und schafften gerade noch rechtzeitig den Flug nach Barcelona. Im Hafenterminal war es mit der Eile auf einmal vorbei. Es wurde zum Boarding aufgerufen, das man dann ohne Angabe von Gründen sofort wieder abgebrochen hat. »Vielleicht gibt es hier auch irgendeinen Ausnahmezustand«, fing Ripsa an, ließ sich aber nicht weiter darüber aus, als sie Leias Gesicht sah. Leia zieht ihren Fuß zurück, um den vorbeirennenden Kindern nicht aus Versehen ein Bein zu stellen. Ein etwa vierjähriger spanischer Junge und ein rund zwei Jahre älteres Mädchen, wohl seine Schwester, laufen kichernd hintereinander her, die Schwester versucht, den Kleinen mit ausgestreckten Armen zu fangen, droht damit, ihn zu kitzeln. Sie schlängeln sich zwischen den vollbesetzten Bänken und den Cafétischen hindurch und genießen kichernd jeden einzelnen Moment. Auf ihrem Weg zaubern sie ein Leuchten in viele Erwachsenengesichter, egal welcher Nationalität. »Leiden Sie an Fußpilz? Oder Schuppen? Ernsthaft jetzt?« Ripsa kann sich immer noch über die Gesundheitsfragen amüsieren. »Haben Sie in den letzten drei Tagen Ebola-Patienten gepflegt? Das kann doch nicht funktionieren. Wer ist denn so dumm, kurz vor dem Boarding zuzugeben: Also gut, meine Nase läuft ein bisschen. Dann bleibe ich eben an Land, was soll’s.« »Vermutlich will die Reederei sich nur gegen Entschädigungszahlungen absichern, falls auf einmal viele Leute an Bord krank werden«, sagt Leia. Sie hat genug von dem Thema. »Fünftausend Passagiere, überleg doch mal. Wenn da einer am Buffet ordentlich in den Lachssalat niest, kommt da richtig Leben rein. Du müsstest das doch wissen.« Ripsa faltet das Blatt und steckt es in ihre Handtasche. »Ich wollte mich doch nur unterhalten.« Leia verzieht den Mund. Vielleicht sind sie ja beide müde. Sie legt die Arme um Ripsas Schultern und drückt sie an sich. »Danke.« »Wofür denn?« »Na, dass du mich gefragt hast, ob ich mitkomme.« Ein paar Sekunden, und sie spürt, wie Ripsa sich entspannt. Übung macht den Meister, denkt Leia. Das gilt auch, wenn man seine kleine Schwester beschwichtigen will. »Man wird ja schließlich nur einmal fünfunddreißig«, sagt Ripsa. »Schön, dass wir beide mal wieder was zusammen machen – verreisen, ist doch ewig her.« »Genau.« »Ich dachte, das ist genau das, was du jetzt gut gebrauchen kannst. Ein bisschen Luxus im Leben.« Leia tut ihr Bestes, doch sie fürchtet, ihr Lächeln wirkt etwas angestrengt. Wenn Ripsa sie nicht gebeten oder vielmehr bekniet hätte, mit ihr auf eine Luxuskreuzfahrt im Mittelmeer zu kommen – eine Woche all-inclusive auf der Mediterranean Siren, mitten im Juli, zweifellos die teuerste Saison –, wäre ihr nie im Leben eingefallen, so eine Reise zu unternehmen. Wenigstens nicht von ihrem eigenen Geld. Nicht mal, wenn sie das Geld gehabt hätte. Allein dieses Wort: Luxus. Dazu kann man sich einfach nicht normal verhalten. Da schwingt immer Übertreibung mit, eine ans Obszöne grenzende Peinlichkeit. Schon bei dem Gedanken daran ertönt im Kopf automatisch die Titelmelodie von Love Boat, der Fernsehserie aus den achtziger Jahren, die sie und Ripsa vor Ewigkeiten in der x-ten Wiederholung kichernd durchgenudelt haben. Laaf-booot, ti-di-tidi-di-di-dii-di-dii … Und gleich danach kommt ihr die nächste Assoziation in den Sinn, der Animationsfilm Wall-E, den sie zusammen mit Viivi unzählige Male gesehen hat, mit seinem schrecklichen Raumschiff, auf das die Menschheit vom verdreckten Planteten Erde geflohen ist. Das Vorbild für das Raumschiff waren bestimmt...