E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Theurillat Lenz
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1848-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1848-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Theurillat, geboren 1961 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften, Kunstgeschichte und Geschichte und arbeitete jahrelang erfolgreich im Bankgeschäft. Die Romane mit Kommissar Eschenbach sind eine der beliebtesten Krimiserien der Schweiz. 2012 wurde Rütlischwur mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Michael Theurillat lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.
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2
Nur einen Gefallen
ZÜRICH, SAMSTAG, 28. JULI – 21:45 UHR
Lenz erkannte den Anrufer, die hohe, leicht metallene Stimme. Sie telefonierten regelmäßig in größeren Abständen. Trotzdem beschlich ihn ein seltsames Gefühl, denn normalerweise war er es, Lenz, der anrief, und nicht umgekehrt. »Bist du’s?«, fragte er deshalb etwas unsicher.
»Ja, warum … störe ich?«
»Nein, natürlich nicht.« Lenz ließ sich auf seiner Chaiselongue nieder und wusste nicht recht, ob er sich nun freuen sollte oder nicht. Seltenes weckte bei ihm immer eine gewisse Skepsis. Was Lenz noch mehr verwunderte, war, dass ihn der Anrufer über das normale Telefonnetz kontaktierte. Seit sie miteinander telefonierten, hatten sie eine abhörsichere End-to-End-Verbindung benutzt.
»Ich weiß nicht, ob du dich an den Tag erinnerst, an dem wir uns das allererste Mal begegnet sind.«
»Ja, schon …«, sagte Lenz zögerlich. Obwohl er über ein geradezu fotografisches Gedächtnis verfügte, sah er die Bilder ihres ersten Zusammentreffens nur verschwommen. »Das war an der ETH und ist schon sehr lange her.«
»Es war ein Donnerstag, morgens um zehn«, sagte die Stimme am Telefon. »Wir hatten eine Freistunde. In der Mensa, ganz hinten in der Ecke, bin ich gesessen, an meinem Tisch. Ich dachte jedenfalls, es wäre meiner, weil sich bis dahin niemand zu mir gesetzt hatte. ›Störe ich?‹, hast du gefragt. Ich habe -sofort den Kopf geschüttelt. Wir haben beide gelacht. Wir haben miteinander gelacht, bevor wir richtig miteinander geredet haben. Das war im Frühling 1970.«
»Eine Ewigkeit ist das her.«
»Du sagst es.«
Eine Pause entstand.
Lenz wunderte sich. Wenn er den Mann anrief, ging es meistens um Informationen, die er, Lenz, im Zusammenhang mit kriminalpolizeilichen Ermittlungen brauchte. Der Anrufer war eine von Lenz’ Quellen. Und wie seine anderen Quellen auch, hatte Lenz sie nie offengelegt. Auch nicht gegenüber seinem Freund Kommissar Eschenbach, dem Leiter der Zürcher Kriminalpolizei.
Oft hatten Lenz und der Mann auch über gesellschafts-politische und philosophische Themen diskutiert, über Dinge, die sie beide interessierten. Manchmal hatten sie über Belangloses gesprochen. Selten zwar, aber es war vorgekommen. Nie jedoch war die Vergangenheit in ihren Gesprächen ein Thema gewesen.
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Du weißt ja, ich verlasse meine Wohnung nicht mehr. Ich meine, abgesehen von den Besuchen bei meinem Zahnarzt. Ich habe wirklich schlechte Zähne. Eine schlechte Milz auch, Lunge miserabel. Leber und Nieren zum Kotzen. Aber warum erzähle ich dir das überhaupt.«
Lautes Husten erklang.
»Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich noch da bin«, fuhr die Stimme am Telefon fort. »Heute denke ich, dass mein Zahnarzt schuld daran ist. Wegen ihm muss ich mich bewegen, und das auch noch an der frischen Luft. Über eine Stunde brauche ich jedes Mal bis zu seiner Praxis an der Höschgasse, zu Fuß natürlich, und das mit meinen kurzen Beinen. Er weigert sich partout, zu mir zu kommen. Sturer Hund. Wegen seinen läppischen paar Geräten, sagt er. So ein Witz. Die paar Bohrer und Spritzen hätte ich auch noch anschaffen können. Ich habe ja auch sonst alles hier: Dialysegerät. Eine halbe Intensivstation ist es mittlerweile geworden. Du weißt ja, wie es bei mir aussieht.«
»Ja, weiß ich«, sagte Lenz. »Es geht um einen Gefallen, hast du gesagt. Also schieß los.«
Ein kurzes, helles Lachen erklang. »Ich bin heute ausschweifend und umständlich, stimmt’s? Aber ich belästige dich nicht gern, drum habe ich …«
»Hör auf«, unterbrach Lenz. »Du hast mir mehr als einen Gefallen getan.«
»Stimmt auch wieder«, erwiderte der Mann. »Meine Angestellte, Franziska, besorgt mir ja sonst alles, was ich brauche – erledigt das, wofür man selbst im Zeitalter der totalen Vernetzung noch aus dem Haus muss. Aber jetzt müssen wir hier räumen …«
»Wer sagt das?«, fuhr Lenz dazwischen. »Es ist so gut wie dein Haus. Du kannst bleiben, solange du willst.«
»Ja, klar …« Eine kurze Pause entstand. »Wir müssen nur etwas Platz schaffen, mehr nicht.«
»Die Wohnung ist riesig. Was willst du da Platz schaffen?« Lenz beschlich ein ungutes Gefühl. »Wenn du ins Krankenhaus musst … Das würdest du mir doch sagen, oder? Ich könnte dich begleiten.«
»Jetzt mach mal halblang«, meinte der Anrufer. »Ich lebe in einem Krankenhaus, muss ich dir nicht erzählen. Es geht nur um etwas Kleines. Ein Päckchen. Ich wäre froh, wenn du für mich einen Botendienst erledigen könntest.«
»Kein Problem. Wohin soll das Päckchen gehen?«
»Nach Freiburg im Breisgau«, sagte der Mann. »Meinst du, das geht?«
»Klar geht das.«
»Es ist für Isabel. Ich weiß, dass du …« Der Mann beendete den Satz nicht. »Ich wäre dir wirklich sehr dankbar.«
»Isabel?«, murmelte Lenz erstaunt.
»Ja.«
»Ich weiß nicht …« Lenz hielt einen Moment inne. »Isabel und ich haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Über vierzig Jahre«, sagte die Stimme am Telefon.
Eine Pause entstand.
»Sag mal«, meinte Lenz. »Kaust du gerade Fingernägel oder knackt es in der Leitung?«
Beide lauschten in die Stille.
»Lass uns auf Signal wechseln«, sagte der Anrufer.
»Okay.«
Ein paar Minuten später, mit einer sicheren End-to-End-Verschlüsselung, telefonierten sie weiter.
»Glaub mir, Isabel freut sich … Wirklich, das hat sie mir gesagt. Wir haben darüber gesprochen.«
Lenz schwieg.
»Es ist nur ein kleines Päckchen«, fuhr der Anrufer unbeirrt fort.
»Okay«, sagte Lenz leise. Nachdenklich strich er sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurrbart. »Ich mach’s dir zuliebe. Wann soll ich das Päckchen abholen?«
»Du musst es nicht abholen. Franziska bringt es vorbei. Morgen um neun ist sie bei dir.«
»Das geht jetzt aber rasant.«
»So ist es«, sagte der Anrufer. »Sie wird dich genau instruieren, wie es weitergeht. Wohin du das Päckchen bringen sollst und wann. Es ist wichtig, dass du dich genau an den Zeitplan hältst.«
»Wenn du meinst.«
»Und dann ist da noch etwas.«
»Ja?«
»Ich gebe Franziska auch noch eine Kassette mit ein paar persönlichen Dingen mit. Ich wäre froh, wenn du sie für eine Weile an einem sicheren Ort verwahren könntest.«
Lenz biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Irgendetwas stimmte nicht. Er stand auf und ging ein paar Schritte mit dem altertümlichen schwarzen Telefonapparat. Er musste achtgeben, dass er nicht über das Kabel stolperte. »Das klingt alles ein wenig seltsam, findest du nicht? Bist du in Schwierigkeiten? Du kannst offen mit mir sprechen.«
»Ewald«, unterbrach ihn der Anrufer. Sein Tonfall war schärfer geworden. »Frag mir jetzt bitte keine Löcher in den Bauch. Tu’s einfach.«
Eine Weile sagten beide nichts.
»Okay«, willigte Lenz schließlich ein. Mit einem Seufzer ließ er sich erneut auf die Chaiselongue fallen. »Ich mach’s. Und die Sache mit der Kassette auch. Entschuldige, wenn ich ein wenig ungehalten war.«
»Kein Problem.«
»Ich werde ein hübsches Versteck dafür finden.«
»Sicher?«
»Absolut sicher.«
»Das Versteck meine ich.«
»Hab’s schon verstanden«, grummelte Lenz. »Egal, was drin ist. Man wird es frühestens bei archäologischen Ausgrabungen finden. In tausend Jahren vielleicht.«
»Zweitausend Jahre wären besser«, sagte der Mann.
Am nächsten Morgen Punkt neun klopfte es an der Wohnungstür. Lenz hatte kaum geschlafen. Lange hatte er über das seltsame Telefongespräch nachgedacht, und es hing ihm am Gemüt wie ein dunkler Schatten. In aller Frühe war er aufgestanden, hatte einen kleinen Spaziergang unternommen und etwas Kleines gefrühstückt. Seit einer Stunde sah er immer wieder ungeduldig auf seine Uhr.
»Darf ich einen Moment hereinkommen?«, fragte die Frau. Sie trug einen weißen Kittel, war klein und strotzte vor Energie. Ihr kurzes, dunkles Haar glänzte in der Morgensonne.
»Sehr gerne«, sagte er.
»Ich bin übrigens Franziska. Wir sind uns noch nie begegnet, nicht wahr?«
Lenz schüttelte den Kopf. Er führte den Besuch in die große Wohnstube, die direkt an die offene Küche grenzte und auch als Esszimmer diente. »Hier lebe ich«, sagte er mit einem Achselzucken.
»Sehr schön.« Franziska hievte die Einkaufstüte, die sie mitgebracht hatte, schwungvoll auf einen der...