E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Theurillat Rütlischwur
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0012-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0012-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Theurillat, geboren 1961 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften, Kunstgeschichte und Geschichte und arbeitete jahrelang erfolgreich im Bankgeschäft. Die Romane mit Kommissar Eschenbach sind eine der beliebtesten Krimiserien der Schweiz. 2012 wurde Rütlischwur mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Michael Theurillat lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.
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Kapitel 1
Das Mädchen Judith
Wenn ein Vater sein Kind nicht will, dann macht er sich aus dem Staub. Am besten vor der Geburt. Das Kind bleibt noch eine Weile im Bauch der Mutter, wird geboren und von ihr großgezogen. Allein oder zusammen mit einem neuen Partner. Das ist ein Unglück – aber keine Katastrophe.
Anders sieht es aus, wenn eine Mutter ihr Kind nicht will; dann ist die Sache komplizierter: Der Vater wird sich nicht selbstverständlich um es kümmern, sie kann es abtreiben oder nach der Geburt weggeben. Wenn sie verzweifelt ist, wird sie ihr Baby bekommen und verlassen.
Das ist Mord.
Babys werden in Mülltonnen und auf Parkbänken gefunden. Auch im Winter. Auf Parkplätzen von Autobahnraststätten und im Wald. Oft kommt jede Hilfe zu spät. Und dann gibt es noch die, von denen keiner Kenntnis hat, weil sie nie gefunden wurden …
Bruder John folgte in groben Zügen dieser Argumentation, als er während eines Kolloquiums im Benediktinerkloster Einsiedeln zu seinen Ordensbrüdern sprach.
Es war ein Augustnachmittag im Jahr 1995.
Die Quecksilbersäule in Zürich verzeichnete mit zweiunddreißig Grad Celsius einen Höchstwert, doch auf der Anhöhe in Einsiedeln, rund vierzig Kilometer südöstlich der Stadt, herrschten tiefere Temperaturen.
Der Geist von Sankt Benedikt wirkte schon über tausend Jahre an diesem Ort, seit der Heilige Meinrad, Einsiedler aus dem Finsteren Wald, im Jahr 835 den Orden gegründet hatte. Gefördert von Bischöfen und Adelsfamilien, erreichte er bis ins Jahr 1100 eine erste Hochblüte und strahlte als geistliches und kulturelles Zentrum über Alemannien hinaus bis nach Norditalien.
Im Strudel politischer und gesellschaftlicher Wirren verlor die Fürstabtei zunehmend an Einfluss. Bis auf einen einzigen Mann reduziert, trotzte die Bruderschaft schließlich der Reformation. Es waren dunkle Jahre, an deren Ende neues Leben erwachte. Denn in der Folge entwickelte sich Einsiedeln zu einem internationalen Wallfahrtsort und zum Mittelpunkt der katholischen Schweiz. Wie eine Eiche, die alle Stürme überlebt hat und noch immer Früchte trägt, waren sich die Ordensbrüder ihrer kraftvollen Ausstrahlung bewusst. Dennoch gab man sich demütig – ganz im Gegensatz zum nahe gelegenen Zürich –, man wollte mit nichts protzen. Und doch: Der prächtige Barockbau aus dem achtzehnten Jahrhundert, die kostbar ausgestattete Kirche und die kunstvoll verzierten Säle; die Stiftsbibliothek von Weltruhm und die über tausendjährige Pferdezucht – all dies vermochte das selbstauferlegte Gelübde der Bescheidenheit nicht ganz widerzuspiegeln.
In der Arbeitsklause im Westflügel des Klosters war es angenehm kühl. Der Abt Sebastian Watter, ein bedächtiger, weißhaariger Mann, und die vier Mönche, die der Sitzung beiwohnten, folgten den Ausführungen des Vortragenden recht unbeteiligt. Keiner von ihnen war jemals verheiratet gewesen und demzufolge auch noch nie im Leben Vater geworden. Aber sie waren alle weltlich genug, um sich menschliche Katastrophen aller Art vorstellen zu können.
Bevor Bruder John zu seinem eigentlichen Anliegen vordrang, machte er eine kurze Pause. Er hatte viele Wochen lang über einen geeigneten Namen nachgedacht: Ort des Lebens – Hoffnungsbox – Babykasten. Sie schienen ihm alle noch recht unausgegoren, so dass er sie erst gar nicht erwähnte.
»Wir sollten verzweifelten Müttern eine Anlaufstelle bieten – ihnen eine Möglichkeit geben, ihr Baby abzugeben. Bei uns. Anonym. Natürlich in der Hoffnung, dass sie es später wieder abholen. Wenn Gott ihnen in diesen schweren Stunden beisteht, so werden sie sich bei uns melden …«
An dieser Stelle hielt Bruder John inne und ließ das Gesagte nachwirken. Er beobachtete die nachdenklichen Gesichter seiner Ordensbrüder.
Keiner sagte ein Wort.
Stille erfasste den Raum. Eine Ruhe, die Bruder John nicht als unangenehm empfand, denn in den Kolloquien, die sie in Abständen von drei bis fünf Wochen abhielten, war es nicht üblich, dass man sich sofort zu dem vorgebrachten Thema äußerte.
Es galt, in andächtiger Stimmung über das Gehörte nachzudenken und wohlwollend darüber zu befinden. Darin unterschied sich die Gemeinschaft des Benediktinerordens von den meisten anderen Gemeinschaften der westlichen Welt.
Bruder John sah zu Sebastian Watter, der am Kopfende des langen Eichentisches saß und die Augen geschlossen hielt. Hinter dem Abt, auf halber Höhe, hing als einziger Schmuck an der weiß getünchten Wand das Kreuz Jesu Christi.
Unweigerlich dachte Bruder John an Golgatha. Und vielleicht fiel ihm gerade deshalb der springende Punkt erst in diesem Augenblick ein.
»Natürlich müssen wir diese Neuerung öffentlich machen. Schließlich sollen die Mütter wissen, dass sie bei uns diese Möglichkeit haben …«
Der Abt hob langsam das Kinn: »Öffentlich«, sagte er in ruhigem, gefasstem Ton. »Ganz richtig. Und gerade darin liegt das Problem.«
Die Babyklappe, wie Bruder Johns Idee inzwischen klosterintern genannt wurde, war auch in den folgenden Sitzungen ein Thema, auch wenn man sich mit der konkreten Umsetzung Zeit lassen wollte. Bruder John war zuversichtlich, ja, sogar hoffnungsfroh. Wenn die Kirche das ungeborene Leben schützte, warum sollte sie es mit dem geborenen anders halten. Dass der Begriff Babyklappe nicht von ihm selbst stammte, störte ihn nicht. Denn im Kloster Einsiedeln war es kein Geheimnis, dass er der Vater dieses durchaus bemerkenswerten Gedankens war.
So war es kein Zufall, dass man sich an Bruder John wandte, als am Abend des 26. November desselben Jahres ein Mädchen den Weg ins Kloster fand.
»Sie ist in meinem Büro«, war der erste Satz, den Bruder Pachomius herausbrachte, nachdem er mit hastigem Klopfen in Johns Zimmer hereingeplatzt war. Er nahm seine Nickelbrille ab und fuhr sich mit dem Ärmel seiner Kutte über die schweißnasse Stirn.
»Wer?«, fragte John.
»Ein Mädchen. Nach der Vesper ging ich zurück … Ich muss doch die Katalogisierung vorantreiben. Da stand sie … Das Fenster eingeschlagen.«
Die beiden Mönche eilten durch die Gänge in Richtung Westflügel. John tat sich schwer, sein Tempo zu drosseln – auch wenn er kurze Beine hatte, untersetzt und pummelig war. Immer wieder musste er innehalten, weil der zweiundsiebzigjährige Pachomius stehen blieb und schweißgebadet nach Luft rang.
Als sie um die letzte Ecke bogen, sah John, dass die Tür des besagten Zimmers weit offen stand. »Sie ist bestimmt schon über alle Berge«, murmelte er.
»Dass ich so was noch erleben muss«, keuchte Pachomius.
Aber das Mädchen war noch da. Sie saß auf der Kante des Schreibtisches und hielt ein Buch in den Händen. Als sie die beiden Mönche erblickte, stand sie auf.
»Hier.« Pachomius zeigte auf das Mädchen. Es war ungefähr eins fünfzig groß, trug ausgeblichene Jeans und einen verfilzten, sandfarbenen Wollpullover, der ihr bis zu den Knien reichte. »Sie ist noch da.«
Das Mädchen blickte Bruder John direkt an. »Ich bin Judith. Ich brauche etwas zum Essen und neue Kleider.«
Kein Baby, schoss es Bruder John durch den Kopf. Er nickte. »Wie alt bist du?«
»Dreizehn.«
»Ein Teenager also.«
»Ja.« Das Mädchen verzog den Mund. »Ich war bei den Pferden gewesen, draußen …« Sie deutete in die Richtung, in der die Stallungen lagen. »Dort habe ich mich eine Weile versteckt. Aber jetzt habe ich Hunger, und mir ist kalt.«
»Hast du die Scheibe eingeschlagen?«
»Ja. Ich dachte, ich finde hier einen Kühlschrank. Oder Vorräte … In einem Kloster habt ihr doch so was, oder?«
Bruder John musterte das Mädchen. Ihre kurzen schwarzen Haare waren zerzaust. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem energischen Kinn. Obwohl sie abgemagert und bleich war, erschien sie dem Klosterbruder keineswegs hilflos. Das Auffälligste aber waren ihre Augen: Sie glänzten in hellem Grün, wie frischpolierte Jadesteine. Und zu seinem Erstaunen konnte Bruder John keinerlei Angst oder Argwohn in ihnen entdecken. »Das hier ist das Büro von Bruder Pachomius«, sagte der Mönch leise. »Pachomius betreut zusammen mit fünf Brüdern die Stiftsbibliothek.«
Der alte Mann nickte und ließ die Schultern hängen.
Einen Moment dachte Bruder John darüber nach, wie wenig seine bisherigen konzeptionellen Ideen zur Lösung des akuten Problems beitrugen.
»Und jetzt?«, fragte das Mädchen.
»Ich schlage vor, wir essen und trinken erst einmal etwas«, sagte John. »Dann schauen wir weiter.«
Abt Sebastian Watter, der in Zürich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hatte und kurz nach Mitternacht ins Kloster zurückgekehrt war, erfuhr erst am nächsten Morgen von dem neuen Gast. Gleich nachdem ihn Bruder John über den Fall unterrichtet hatte, bat er das Mädchen zu sich, für ein Gespräch unter vier Augen.
Watter war es gewohnt, in seinem Kloster Gäste aufzunehmen. Denn die Gastfreundschaft war Teil jener Regula Benedicti, die der heilige Namensgeber des Ordens vor fünfzehnhundert Jahren verfasst hatte.
Häufig waren es Manager, die sich in ihren Konzernen eine Auszeit erbaten, um über den Sinn des Lebens nachzudenken. Es waren Menschen mit einer wohldefinierten Vergangenheit, die sich über ihre Zukunft im Unklaren...