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E-Book, Deutsch, 304 Seiten, eBook

Tingler Fischtal


1. Auflage, neue Ausgabe 2012
ISBN: 978-3-0369-9164-1
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 304 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9164-1
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gustav bewohnt mit seiner Großmutter ein Haus namens Fischtal und lebt inmitten einer Gesellschaft, deren größte Sorge es zu sein scheint, dass die Putzfrau heimlich das Konfekt isst. Doch je mehr er im Fischtal über seine Familie erfährt, desto deutlicher wird ihm, dass es mit dem Nervenkostüm dieser Verwandtschaft nicht zum Besten steht. Man zahlt einen Preis für das Wahren der Fassade. Als die Großmutter Jahre später stirbt, kehrt Gustav zur 'Sichtung der Erbmasse' ins Fischtal zurück. Es ist sein letzter Besuch in der Festung einer Welt, wo kühler Realitätssinn, glatte Oberfläche und puritanische Sittenstrenge gepredigt werden und über andere Menschen streng Gericht gehalten wird. Aber dabei immer griffbereit in der krokodilledernen Handtasche stets griffbereit: der silberne Flachmann und die Pillendose von Cartier.

Philipp Tingler studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, der London School of Economics sowie der Universität Zürich und ist mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Kein & Aber der Roman 'Rate, wer zum Essen bleibt' (2019). Er ist Kritiker im SRF-Literaturclub und im Literarischen Quartett des ZDF sowie Juror beim ORF-Bachmannpreis und der SRF-Bestenliste. Neben Belletristik und Sachbüchern ist er ausserdem bekannt durch das SRF-Format Steiner&Tingler und seine Essays u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung und im Autokulturmagazin ramp.
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1.KAPITEL

Zauber des Letzten

»Ich weiß nicht«, flüsterte Lilli und fasste Gustav am Arm, »ist es richtig, was wir hier tun?«

»Was meinst du?«, fragte Gustav zurück.

»Ich meine, hier das Haus auszuräumen«, erwiderte Lilli. »Damit will ich sagen: Das ist doch im Grunde … nun ja: skrupellose Raffgier – und steht somit gegen alles, was mir anerzogen wurde.«

Die schwere Eichentür öffnete sich knarrend. Sie hatte immer geknarrt, weshalb unbemerktes nächtliches Nachhausekommen für Gustav nie ein einfacher Vorgang gewesen war, denn seine Großmutter hörte (obschon sie das Gegenteil behauptete) zwar nicht mehr alles, aber das Knarren der Haustüre war ihr doch so vertraut, dass es sie noch in ihrem Schlafzimmer in der Beletage alarmierte. Und dann konnte es passieren, dass sie plötzlich am Kopfe der Treppe erschien, die mit einem schweren himmelblauen Teppich bespannt war, und direkt auf die Haustüre zulief. Dort stand sie, im Nachthemd, und verlangte Rechenschaft. Das war immer sehr unangenehm für Gustav. Deshalb hatte er mit der Zeit eine perfekte Übung darin entwickelt, die Türe mit den leicht verwitterten Messingbeschlägen so zu handhaben, dass sie sich ohne jedes Geräusch öffnete. Man musste dazu einen präzisen kleinen Schwung anbringen, indem man die Haustüre zunächst ganz langsam, ab einem gewissen kritischen Punkt jedoch sehr zügig aufdrückte. Das war nun nicht mehr nötig. Gustavs Großmutter war gestorben.

Vor ihnen lag also die Treppe. Nach rechts und links verzweigte sich der Korridor, einer jener langen Korridore, die charakteristisch für die Bauart Berliner Häuser sind. Es war dunkel. Dabei war draußen heller Vormittag. Nun, nicht vollkommen hell. Es war einer jener nebligen Juni-Vormittage, die charakteristisch für den Berliner Frühsommer sind. Jedenfalls in Zehlendorf. Gustavs Großmutter war tot, und es war Zeit, die Erbmasse zu sichten.

»Wir tun hier nichts Unrechtes!«, sagte Gustav, »wir sichern bloß das Erbe, bevor die Familie einfällt. Du weißt, Lilli, dass ich meine Familie liebe. Auch wenn ich den einen oder anderen manchmal mit dem Auto überfahren möchte. Nein, weiß Gott, wir tun hier nicht Unrechtes. Und meine Großmutter wäre auf unserer Seite! Man kann zwar sagen, dass wir, sie und ich, nun, dass wir beide unsere Differenzen hatten …«

»Du meinst das eisige, ungemütliche Schweigen, das nur hin und wieder durch Beleidigungen unterbrochen wurde?«, erkundigte sich seine Freundin.

»Das ist der normale Umgangston bei uns zuhause«, erklärte Gustav, wobei sein Mund einen widerwilligen Ausdruck annahm.

»Gewiss«, sagte Lilli, »das ist völlig normal. Ich … ich habe nur so ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube – so, als würde ich einem Unfall in Zeitlupe zusehen. Als ob wir schreckliche und egoistische Menschen wären! Außerdem ist es hier kalt und dunkel. Was, wenn ich hinfalle und irgendwelche meiner Organe dabei kaputtgehen?«

Gustav hob ein wenig das Kinn, als hätte er einen Stoß empfangen, und antwortete: »Da du von schrecklichen und egoistischen Menschen sprichst: Tante Gretel ist unterwegs hierher. Sie hat die Inventarliste in ihrer Handtasche und dürfte momentan emotional so stabil sein wie ein Käfig voller Ratten in einem brennenden Crack-Labor. Reiß dich also zusammen, Elisabeth! Gehorche mir einfach blind und roboterhaft und führe jeden Befehl aus, egal wie klein oder absurd er dir erscheint!«

Bei seinen letzten Worten packte Gustav seine alte Kameradin am Arme und schüttelte sie ein wenig, um sie zur Besinnung zu bringen.

»Schon gut, schon gut!«, machte Lilli, »das war bloß so ein Anflug. Los geht’s! Ich muss sowieso um sechs Uhr zur Maniküre bei Amanda sein. Die ist verdammt schwer zu kriegen. Und würdest du mich freundlicherweise loslassen. Du hast den Griff eines Eisenbahnbremsers.«

Der Nebel war gewaltig, ja er schien vor den efeubewachsenen Mauern nicht haltzumachen, sondern schwärzlich durchs Haus zu quellen, zog in gespenstischen Schwaden über die angesprungenen Kacheln aus Solnhofer Platten, die den Boden des Korridors bedeckten, umflorte die Möbel, den hohen, von einem Mahagoni-Frontispiz bekrönten Biedermeierspiegel neben einer kleinen Sitzbank zur rechten Hand, die Garderobe und weiter hinten die Marmorkonsole vor der Küche zur linken. Der Marmor war schwarz, wie der Nebel. Und wie die Bananen, die in einer Schale aus durchbrochenem preußischem Porzellan auf der Konsole lagerten. Gustavs Großmutter hatte irgendwann erklärt, sie würde von nun an zum Frühstück eine Banane essen, und seither hatte Hildchen die Order, Bananen zu kaufen – Bananen, die auf der Konsole lagerten, denn natürlich aß Gustavs Großmutter niemals Bananen zum Frühstück. Insofern waren die Bananen praktisch immer schwarz gewesen, auch als noch Leben im Hause war.

Für einen Augenblick hörte Gustav das Ticken. Das Ticken von Pfennigabsätzen im Korridor. Seine Großmutter hatte bis zuletzt hochhackige Schuhe getragen, hochhackige Schuhe aus butterweichem Saffianleder mit stechenden Pfennigabsätzen und pfeilscharfer Spitze. Dieses Schuhwerk erhöhte ihre feingliedrige, zierliche Gestalt in der Art jener Stelzschuhe, wie man sie im alten Griechenland auf der Bühne anzuschnallen pflegte. Noch in seinem Zimmer in der ersten Etage hatte Gustav jeden ihrer Gänge über den Korridor verfolgen können. Damals. Tick-tick-tick. Ihre Schritte klangen wie das Metronom, das auf dem Blüthner-Flügel im Musikzimmer stand, und ihre hohen Hacken spiegelten sich in den cremefarbenen Kacheln, die sich wie eine Eisfläche vor ihr ausbreiteten. Das hatte nie was Gutes zu bedeuten, dieses Ticken. Dieses ewige Ticken! Übrigens hatte sich Gustavs Mutter gelegentlich darüber mokiert, dass man in diesem Alter noch mit derartigen Schuhen herumlaufen könne. Das sei nicht gesund und gar gefährlich.

Aber jetzt standen die Pfennigabsätze in drei Reihen oben im Ankleidezimmer. Größe sechsunddreißig, beinahe Puppenschuhe. Jedes Paar steckte in einem Beutel aus rohrzuckerfarbenem Leinen, auf den das Monogramm von Gustavs Großmutter gestickt war. Zu den Pfennigabsätzen hatte sie meistens (jedenfalls zu der Zeit, als sie das Haus nur noch verließ, um zum Friseur zu fahren) einen taillierten Kittel aus feiner, schlohweißer Baumwolle getragen. Diese Kittel, von denen eine erkleckliche Zahl vorhanden sein musste, stammten aus der Praxis von Gustavs Großvater. Sie waren in Hüfthöhe mit großen Taschen versehen, die offenbar für medizinische Instrumente gedacht waren, und endeten eine Handbreit unter dem Knie, die makellosen Unterschenkel von Gustavs Großmutter freigebend, wohlgeformt in schwarzem Nylon.

»Okay«, sagte Gustav, indem er das Ticken der Pfennigabsätze mit einer kleinen Willensanstrengung verscheuchte und sich in derselben Bewegung an seine Freundin wandte, »wir haben wenig Zeit. Wir gehen jetzt da rein, und wenn du etwas siehst, was auf der Liste mit einem Kreuz versehen ist, dann packst du es ein, halt dich daran fest, egal, was passiert. Du hast doch die Liste, die ich dir gefaxt habe?«

»Jawohl, Comandante!«, erwiderte Elisabeth, genannt Lilli, und hielt die Liste hoch, ein etwa zwanzigseitiges, von einer Heftklammer zusammengehaltenes Inventar des Hauses, das im Auftrag der Familie von einem Auktionshaus erstellt worden war.

»Gut«, sagte Gustav, »es geht los. Und zwar mit dem Holzschnitt dort hinten, diese Frau mit dem Ding auf dem Kopf, außerdem die Zeichnung mit dem Hahn … nein, warte, die lassen wir für meinen Bruder … und den Gong – nein, nicht den Gong. Den darf Gretel haben. Gretel kann übrigens jeden Moment hier auftauchen. Wir müssen uns wirklich beeilen. Ich wette, sie rast jetzt schon die Transitstrecke hinunter …«

»Ach«, machte Lilli, »die Transitstrecke. Das war früher.«

»Es wird jedenfalls kein Zuckerschlecken«, sagte Gustav, »du kriegst es hier mit meiner Familie zu tun. Vertraue niemandem.«

»Willst du mir Angst machen?«, fragte Lilli leicht zischelnd, denn sie war soeben damit beschäftigt, den Sitz ihres Lippenstiftes im spiegelnden Deckglas ihrer zyklopischen Armbanduhr zu kontrollieren, zu welchem Zweck sie ihre beneidenswert hübschen Zähne fletschte. »Ich habe Angst vor vielen Dingen«, zischelte sie weiter, »Angst vor dem nächsten Ricky-Martin-Album, Angst davor, dass die Sonne ausbrennt oder dass sie irgendwann aufhören, diese Speckschwarten in Tüten zu verkaufen, die ich liebe … aber nicht davor, mit ein paar alten Tanten um irgendwelche Kupferstiche und Bodenvasen zu rangeln!«

»Die Angst wird dir das Leben retten«, erwiderte Gustav.

Lilli hatte wirklich makellose Zähne. Gustav auch.

...


Tingler, Philipp
Philipp Tingler studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, der London School of Economics sowie der Universität Zürich und ist mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Kein & Aber der Roman »Rate, wer zum Essen bleibt« (2019). Er ist Kritiker im SRF-Literaturclub und im Literarischen Quartett des ZDF sowie Juror beim ORF-Bachmannpreis und der SRF-Bestenliste. Neben Belletristik und Sachbüchern ist er ausserdem bekannt durch das SRF-Format Steiner&Tingler und seine Essays u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung und im Autokulturmagazin ramp.

Philipp Tingler studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, der London School of Economics sowie der Universität Zürich und ist mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Kein & Aber der Roman »Rate, wer zum Essen bleibt« (2019). Er ist Kritiker im und im Literarischen Quartett des sowie Juror beim und der . Neben Belletristik und Sachbüchern ist er außerdem bekannt durch das SRF-Format und seine Essays u.a. in der und im Autokulturmagazin .



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