Uhrmann Der lange Nachkrieg
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-99039-054-2
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-99039-054-2
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erwin Uhrmann, 1978 in Niederösterreich geboren, lebt in Wien. Studierte Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Mitbegründer des KünstlerInnenvereins Kunstwerft, zahlreiche Kunstprojekte. Diverse Stipendien und Lesereisen, Mitarbeit im Essl Museum für Gegenwartskunst und Leitung des dortigen Literaturprogramms. Lehrt gemeinsam mit Moussa Kone 'Schreiben über Kunst' an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Bei Limbus: Der lange Nachkrieg (2009), Glauber Rocha (2011).
Autoren/Hrsg.
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II
Nenad wollte mich in Skadarlija treffen. Dem vermeintlichen Viertel der Bohemiens. Oder auch das Viertel der Neureichen in Belgrad. Nenad und sein Gesicht. Es bewegt sich beim Sprechen als Ganzes. Die Wangen ziehen auf und ab. Die Augenwinkel verlagern sich schnell, wenn er gestikuliert. Er spricht von der Stadt. Die Stadt ist immer Thema in Belgrad.
Er trug eine Tasche mit gelbem Aufdruck. Und hielt sie weit vom Körper, als ob sie klebrig wäre. Gekleidet war er in einen langen dunklen Mantel, am Kopf eine Baskenmütze. Wir haben uns nicht gleich erkannt. Er war anders als damals in Novi Sad. Anders gekleidet, andere Bewegungen, in einer anderen Stadt. Dort hatten wir uns nur kurz kennengelernt. Ich hatte leichte Gelenksschmerzen von der langen Fahrt. Ich ging die Skadarska-Straße rauf und runter. Dann fanden wir uns.
Nenad sprach Englisch. Und mit ihm ging ich noch einmal die Skadarska hinauf und hinunter. Und dann in das Café beim Hauptplatz. Mein Magen kratzte. Dann war ich wieder allein.
Drei Stunden saß ich im Kalemegdan. Der Geruch der Stadt war der einer fauligen Zwiebel gemischt mit warmem Kartoffeldampf und altem Gummi. Und ein süßes Element: die grünen Windungen in einer bunten spiraligen Zuckerstange. Oder dunkle Schokolade, wenn es kalt draußen ist. Ein Aroma wie schottischer Whisky, wo man sagt, dass man die Quelle schmeckt, aus der das Wasser dafür kommt, und den Ruß aus den Bourbon-Fässern, in dem er gereift ist.
Hier ist es, als wäre gerade gestern etwas Schreckliches zu Ende gegangen.
Wie an anderer Stelle in der Geschichte. Großmutter zeigte mir das Bild von ihrem verlorenen Haus. Drei Bäume, das mehrteilige Gebäude und eine hohe Wiese, die sich im Wind schief legt. Das Interieur fand ich in ihren Erzählungen vor. Vom Kalemegdan hinunter sah es wahrscheinlich ganz ähnlich aus wie auf Großmutters verlorenem Grundstück. Statt des Meeres rollt ein Fluss bis an die Zehenspitzen heran.
Und dann verging ein Tag und ich fuhr mit Nenad auf einen großen Belgrader Friedhof. Mir war, als wäre Tante Helene da gewesen. Es lag an den weißen Lilien am Friedhofsblumenstand.
Ich stellte mir die Namen bildlich vor. Ich sagte: Nenad – einen Beistrich lang machte ich Pause – und dann kam erst der eigentliche Satz. Und wenn ich an meine Tante dachte, sah ich ihren Namen: Helene. Ich roch dazu das lila-graue Farbengemisch, das nach Mottenkugeln duftete.
„Hier ist das Grab von Djindjic“, flüsterte Nenad.
Vor uns eine schlichte Grabplatte, Rosen, gerahmte Bilder. Mich juckte es an der Nase. Nenad sah mich nervös an.
„Was tust du da?“, fragte er mich.
„Ich fotografiere das Grab.“
„Nein“, flötete er mich flüsternd an.
Ich steckte die Kamera, die ich schon in der linken Hand hielt, aber noch in der Tasche verbarg, wieder zurück.
„Ich werde fragen“, sagte er, drehte sich um und ging zu einem Polizisten, der in einiger Entfernung zu uns stand. Ich konnte die beiden nicht sprechen hören. Der Kies strahlte Kälte in meine Füße.
Nenad machte den Weg vom Polizisten bis zu mir ein neutrales Gesicht. Ich drehte mich zum Grab und steckte die Hand wieder in die Tasche, Nenad trabte und flüsterte mimisch: „Nein, er hat es nicht erlaubt. Kamera weg.“
Ich nahm meine Hand aus der Tasche. Wir standen zwischen den Ehrengräbern und ich versuchte, die Botschaft zu entziffern, die jemand auf Englisch auf einen Zettel geschrieben und neben das Grab gelegt hatte.
„Ich zeige dir jetzt Željko Ražnatovic“, keuchte Nenad, „komm.“ Und er riss mich weg.
Der Kies strahlte noch mehr Kälte aus, je finsterer es wurde. Ich folgte ihm. Nenad ging schnell bergauf.
„Wir müssen uns beeilen, der Friedhof sperrt bald zu“, meinte er wieder mimisch und flüsternd, drehte sich um und ging voran. Wie bei unserem ersten Aufeinandertreffen und dem Treffen in der Skadarska-Straße sah ich sein ganzes Gesicht sich bewegen beim Sprechen.
Links am Weg lagen Gräber aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Ganz oben sah ich den Urnenhain, dann bog Nenad vor mir links ab und ich folgte ihm weiter. Fast unüberhörbar für die Wachen, die sich hinter den größeren Gräbern versteckten. Nenad machte respektvoll seinen Nacken kurz und verschwand in seinem Mantelkragen.
„Sprechen wir leiser“, zog er den Finger vor den Mund.
Hinter uns knackte ein Ast. Er drehte sich um, langsam und ohne sein Gesicht zu verziehen. Dann sah er mich kurz an und wieder auf das Grab, vor dem wir standen. Und er lächelte, sah gleich wieder ernst aus. Seine Augenbrauen waren zusammengewachsen. Es dämmerte.
„Sie sind hier, direkt neben uns, aber wir sehen sie nicht“, sprach Nenad mir tonlos in die Seite, während er die Hände vor seinem Brustkorb verschränkte und gleich wieder in die Taschen fallen ließ, als hätte er etwas Verbotenes gesagt.
Ich konnte ihm glauben oder nicht.
„Das ist keine Polizei“, meinte er, „es sind seine Leute. Sie bewachen sein Grab, seit der Friedhof geschändet wurde. Das gleiche bei Djindjic, dort wacht die staatliche Polizei.“
Meine linke Hand hatte ich in der Tasche. Ich zog die Kamera ein Stück weit heraus und richtete das Objektiv auf das Grab, versuchte, die Büste, die auf dem wuchtigen Grabstein stand, zu fokussieren. Arkan der Kriegsheld, der Verbrecher, versteinert. Dann drückte ich ab und steckte die Kamera gegen den Widerstand in der Tasche wieder zurück. Der Saum fühlte sich an wie kühles Gel. Nenad drehte sich um und ich holte mit der Hand, die noch in meiner Tasche war, ein Kleenex hervor und hielt es an die Nase. Er hatte das Klicken nicht bemerkt.
„Können wir gehen?“
„Ja, gehen wir.“
„Die Gräber“, fragte ich Nenad, „warum sind so viele Sterbedaten offen?“
Ich kniete mich zu einem Grab, um die Inschrift des Steins zu erkennen. Nenad sah sich wieder hektisch um. Das Geburtsdatum war in Rot eingraviert.
„Sie leben noch“, meinte Nenad und schnippte in den Taschen. „Das Sterbedatum wird eingesetzt, wenn die Leute sterben. Wenn ein Familienteil stirbt, dann werden die Geburtsdaten des Ehepartners, des Vaters oder der Mutter mit auf den Stein geschrieben.“
Es waren Hochzeitsfotos dabei, Männer, die wahrscheinlich im Krieg in den 90er Jahren gestorben waren. Und eingemeißelt war die Bindung zu einem toten Menschen.
„Der wartet schon auf sie“, sagte ich verächtlich.
Nenad sah mich lange an. Später lächelte er.
„Was ist, wenn jemand sich wieder verheiratet?“
„Die Ehe ist heilig in Serbien“, sagte Nenad.
„Ein Vorgehen wie bei der Mafia.“
„Im Krieg ist die Tradition für viele wichtig gewesen.“
Der Stein vor mir war glänzend schwarz. Lauter angerissene Kriege, quer durch die Welt.
„Für alle nicht.“
„Nicht für alle. Die einen haben gegen das Regime gekämpft, die anderen dafür. Und alle sind gegen die Angriffe gewesen. Ich habe einen Journalisten gekannt, der ist immer wieder nach Bosnien und in die Republika Srsdka gereist von Belgrad aus, hat hier gewohnt. Und er meinte, dass er sich selbst nicht mehr auskenne, wofür er sein soll.“
Ich schaute über den Hügel in die Stadt, es wurde rasch finster.
„War ein Amerikaner. Er hatte viele Kontakte, und als wir angegriffen wurden, hat er gemeint, er weiß nicht, ob er sich freuen soll.“
Ich nickte nur.
„Er wollte inmitten der Geschehnisse sein und deshalb war er froh hier zu sein. Und weil es mit den anderen Journalisten gut war, im Krieg, wenn du verstehst. Weil sie sich auf den Plätzen aufstellten und die Leute mit den Target-T-Shirts fotografierten und die Bomber über die Stadt zogen. Eine Aufbruchsstimmung, die er zu Hause vermisste.“
„Ist er noch immer da?“
„Glaube ich nicht, er war eine Zeit im Kosovo, dann habe ich nichts mehr von ihm gehört.“
Wir gingen langsam zurück. Durch die Gräberreihen und über Kieswege. Meine Augen juckten. Tango tanzende Kriegskinder. An der Seite wird gegrillt. Die Gräber am Weg sind fußfrei, dort sitzen sie alle: Željko Ražnatovic und sein erster Offizier, der tote Premierminister Zoran Djindjic, und dessen noch lebende Frau, als Gast gekommen. Hinter den einbeinigen Minenopfern verwelkten Ribisel auf einem Strauch. Und sie stieren nach vor, weil sie alle etwas sehen wollen. Und fragen sich, wer die schillernde Dame ist. Ich erkannte Tante Helene. Helles Haar, schmale Taille, schwarzer geschlitzter Rock. Ganz Diva. Wie Marlene Dietrich oder Marilyn Monroe. Sie ist der blaue Engel, singt Lili Marlen. Und sie wusste, für wen sie tanzte. Und ich weiß, dass sie nach ihrem Tod gewählt hatte, eine junge Frau zu sein.
Auf den kleinen Grabsteinen stehen Einmachgläser mit Wasser, in das man die Blüten von Engelstrompeten gelegt hat. Unten am Glas der Bodensatz, der von den Erdfingern abgerieselt ist. Das Klatschen nach den ersten Tönen schwappt vom Halbkreis vorne über bis in die hintersten Reihen. Die Gesellschaft tanzt Tango, Helene immer in der Mitte. Tippt mit ihren Füßen akzentuiert auf den Boden, wirbelt in minimal kurzen Bewegungen, wird gleich aufgefangen, wiegt mit aufgeschlagenen Wimpern, weiten Augen, wenn das Akkordeon tragisch lamentiert.
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