E-Book, Deutsch, Band 3, 336 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 210 mm
Reihe: Jacques Vingtras
Vallès / Kalender Die Revolte
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7550-5021-6
Verlag: März Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jacques Vingtras, Band 3
E-Book, Deutsch, Band 3, 336 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 210 mm
Reihe: Jacques Vingtras
ISBN: 978-3-7550-5021-6
Verlag: März Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im dritten Band von Jacques Vingtras kommt es zum dramatischen Höhepunkt, sowohl im Leben unseres Romanhelden als auch im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts:
Sein Leben lang hat Vingtras darauf gewartet, dass das Volk sich endlich an den bürgerlichen Unterdrückern rächt. Nun kommt es nach heftigen Unruhen zur Errichtung der Pariser Kommune von 1871, und wir erfahren von der Armee von Versailles, einer von Adolphe Thiers organisierten bewaffneten Einheit, die in Paris einmarschiert, vom Barrikadenkrieg, von den Querelen einer Volksregierung, in der Vingtras zu einem der einflussreichen Mitglieder aufsteigen wird, von der »Blutigen Maiwoche«, von zahlreichen Bränden und von Massakern an Geiseln. Und obwohl er glaubt, verloren zu sein, wird es Vingtras am Ende gelingen, dem Tod zu entkommen. Wie auch der Autor dieser nun endlich wieder vollständig vorliegenden Trilogie, Jules Vallès. Sein literarisches Werk machte ihn schlagartig zu einem der meistgelesenen Autoren Frankreichs.
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I
Vielleicht bin ich wirklich ein Feigling, wie die Rotkappen und die Schwarzfüße unter dem Odéon gesagt haben! Jetzt bin ich seit Wochen Hilfslehrer und empfinde weder Kummer noch Schmerz. Ich bin nicht verärgert und schäme mich nicht. Im Gymnasium habe ich die Trockenbohnen1 beleidigt; hier sind die Bohnen offensichtlich besser, denn ich verschlinge ganze Schüsseln voll, lecke und schlecke den Teller ab. In die vollkommene Stille des Refektoriums habe ich neulich, wie einst bei Richefeu, gerufen: »Kellner, noch eine Portion!« Alle haben sich umgedreht und gelacht. Ich habe auch gelacht – ich lege mir die Unbekümmertheit von Galeerensträflingen zu, den Zynismus von Gefangenen, ich richte mich in meinem Zuchthaus ein und tränke mein Herz mit einem Glas dünnen Weins – ich fange an, meinen Trog zu lieben! Wie lange habe ich gehungert! Ich habe mir so oft die Seiten gehalten, um den Hunger abzuwürgen, der in meinen Eingeweiden rumorte und nagte. Ich habe mir so viele Male den Bauch gerieben, ohne dass es auch nur einen Hoffnungsschimmer auf ein Abendessen gegeben hätte, dass ich jetzt meine ausgetrockneten Gedärme mit warmer Sauce schmiere, einem Bären gleich, der sich wollüstig unter Weintrauben räkelt. Es ist fast so genussvoll wie eine heilende Wunde, die noch juckt. Sicher ist, dass ich keine grünliche Haut und keine hohlen Augen mehr habe; oft hängt mir Ei im Bart. Früher habe ich diesen Bart nicht gekämmt; meine Finger haben ihn durchwühlt und zerrupft, während ich über meine Ohnmacht und mein Elend nachdachte. Heute striegle und bürste ich ihn … ebenso meinen Haarschopf, und vergangenen Sonntag, als ich vor dem Spiegel die letzten Hüllen fallen ließ, habe ich mit verhaltenem Stolz meinen kleinen Schmerbauch betrachtet. Mein Vater war mannhafter, ich erinnere mich an den funkelnden Hass in seinen Augen, als er Studienaufseher war, obwohl er nicht Revolution spielte, nicht die Zeiten des Aufruhrs erlebt, nicht zu den Waffen gerufen hatte, nicht durch Aufstand und Duell geschult war! So weit ist es mit mir gekommen – in diesem Gymnasium habe ich die Ruhe eines Asyls, mein Armenbrot, meine Spitalsration gefunden. Einer von den Alten aus Farreyrolles, der Waterloo mitgemacht hatte, erzählte an Feierabenden, dass er am Abend der Schlacht, noch bevor sie beendet war, an einem Wirtshaus gleich hinter den heiligen Stellungen vorbeikam, sich über einen Holztisch fallen ließ, sein Gewehr wegwarf und sich weigerte weiterzugehen. Der Oberst beschimpfte ihn als Feigling. »Wenn Sie wollen, bin ich ein Feigling! Ich kenne keinen lieben Gott und keinen Kaiser mehr … Ich habe Durst und Hunger!« Und er hat seinem Leben im Speiseschrank des Wirtshauses nachgejagt, inmitten von Leichen; niemals hat er, wie er sagte, besser gespeist, das Fleisch war köstlich, der Wein frisch. Dann hat er sich ausgestreckt, sein Ranzen war die Schlummerrolle, und beim Donnern der Kanonen hat er donnernd geschnarcht. Mein Geist schläft fern von Kampf und Getöse ein; die Erinnerung an die Vergangenheit hallt in meinem Herzen nur noch nach wie im Ohr des Flüchtlings der Trommelwirbel, der sich allmählich entfernt und dann stirbt. Möbliertes Freiwild, das Jahre hindurch gezwungen war, das erstbeste Loch zum Schlafplatz zu nehmen und aus Angst vor Schlaflosigkeit oder der Wirtin nur zu dunkler Stunde hineinzukriechen; ein vom Land Entlaufener, der mehr Luft brauchte als andere, aber in den Hinterhöfen der Hotels nur üble Ausdünstungen einzuatmen bekam; ein Ausgehungerter, der sich nie satt aß, aber Heißhunger und Wolfszähne hatte – so sieht der Bursche aus, der sich eines Morgens vor Brot und Bett wiederfindet, vor einem sauberen Tischtuch, einem Schlaf ohne Wanzen, einem Erwachen ohne Gläubiger. Und Vingtras der Wilde hat keine Wut mehr im Herzen, dafür die Nase im Teller, eine Serviette mit Serviettenring und ein schönes Besteck aus Neusilber. Er sagt dir sogar das Benedictus her wie jedermann, mit gehörig demütiger Miene, an der die Autoritäten keinen Anstoß nehmen. Nach der Mahlzeit dankt er Gott (immer lateinisch), lässt die eine Hand auf den Rücken gleiten und eine Westenschnalle lockern, macht vorn einen Knopf auf und schlägt seinen Gehrock darüber zusammen – er hat ihn aus dem Schrank des Toten geholt und für sich zurechtschneidern lassen, ganz der Papa. Mit vollen Eingeweiden und fetten Lippen schlägt er dann mit der Klasse, die er leitet, den Weg zum Hof der Großen ein, von dem man wie von einer Schlossterrasse weit übers Land blickt. Von dieser Höhe kommt mir der Himmel zu gewissen Stunden wie ein zartes Seidenkleid vor, streichelt die Brise mir den Hals wie mit einem Flügelschlag. Ich habe nie zuvor so viel Sanftheit und Heiterkeit erlebt. Abends Das kleine Zimmer am Ende des Schlafsaals, wo die Studienaufseher in ihrer Freizeit arbeiten oder träumen können, geht auf Bäume und eine von Flüssen zerschnittene Landschaft hinaus. Mit dem Atem des Windes weht ein Geruch von Meer heran, der mir die Lippen salzt, die Augen erfrischt, das Herz besänftigt. Unter dem Ansturm meiner Gedanken zuckt dieses Herz nur wie der Fenstervorhang unter einem stärkeren Lufthauch. Ich vergesse meinen Beruf, ich vergesse die Lausejungs, die ich hüte … ich vergesse Kummer und Revolte. Ich drehe den Kopf nicht in die Richtung, wo Paris tobt, ich suche nicht am Horizont nach den rauchenden Stellen, wo sich wahrscheinlich das Schlachtfeld befindet – dort ganz hinten habe ich einen Weidenstrauch entdeckt und einen Obstgarten in voller Blüte, ich starre sie mit feuchtem Blick an, finde sie süßer. Ja, die vom Odéon hatten recht: Verdammter Feigling! Wenn ich aus dem Gymnasium trete, bin ich in stillen, verschlafenen Gassen, und mit hundert Schritten bin ich bei einem Flüsschen, an dem ich entlangschlendere, ohne viel zu denken, dösend verfolge ich Zweige und Grasbüschel, die die Strömung mit sich führt, zu unbekannten Abenteuern. Am Ende des Weges ist eine Gastwirtschaft mit einem Kranz von Äpfeln im Schild; für ein paar Sous trinke ich Cidre, der wunderschön golden ist und mir in den Kopf steigt. O ja! Verdammter Feigling! Man macht es mir aber auch nicht leicht … Ein bürgerlicher Zufall hat es so gefügt, dass dieses Gymnasium voller Licht und Luft ist; ein ehemaliges Kloster mit großen Gärten und großen Fenstern. Breit fällt das Licht in den Speisesaal und wenn die Fenster geöffnet sind, kommt das Rauschen der Blätter herein, und das Beben der vom Herbstrost schon mit warmer Bronze oder Kupfer überzogenen Natur. Bei den Gymnasiasten habe ich keinen Anstoß erregt, sie sind gewohnt, von Neulingen überwacht zu werden, die eben erst von der Schulbank aufgestanden sind, oder von alten, verknöcherten Hilfslehrern, dümmer als Stubenfeldwebel. Sie haben mich empfangen wie einen irregulären Offizier in Not, den der Tod des Vaters – eines regulären Haudegens – zufällig einberufen hat; im Übrigen umgibt mich der Nimbus des Parisers. Das genügt, damit diese Schar jugendlicher Gefangener mich nicht hasst. Auch meine Kollegen finden mich ganz in Ordnung, wenn auch zu nüchtern, da sie selbst ihre freien Stunden in ein kleines dunkles feuchtes Café einsperren, wo sie mit Biertrinken, Branntweinschlürfen, Pfeifeschmauchen ihre Zeit totschlagen. Ich trinke nicht und rauche nicht. Die Zeit, die mir gehört, verbringe ich am Ofen in meinem Studiensaal mit einem Buch in der Hand oder auch in der Philosophieklasse mit einem Heft auf den Knien. Der Lehrer ist der Schwiegersohn vom Direktor persönlich, und es schmeichelt ihm, wenn der großspurige Pariser mit dem schwarzen Bart wie ein Schüler auf einer Bank Platz nimmt und seiner Rede von den Fähigkeiten der Seele lauscht. Beim Bakkalaureat haben sie mir übel mitgespielt, bei der Promotion dürfen sie mich nicht wieder aufs Kreuz legen. Ich muss unbedingt wissen, wie viele man im Calvados nachzählen kann: sechs, sieben, acht … oder mehr, oder weniger! Und ich besuche den Unterricht regelmäßig, um über die Philosophie der Gegend auf dem Laufenden zu sein. 15. Oktober Heute ist Vorlesungsbeginn in der philosophischen Fakultät, die Eröffnungsrede wird der Geschichtsprofessor halten. Aber den Professor, den habe ich doch schon gesehen! Er kam als Absolvent der École Normale ins Gymnasium Bonaparte und hielt die Rhetorikkurse ab, als ich Rhetorik belegt hatte. Das war 1849...