E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Ventura Mein Mann
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-455-01805-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-455-01805-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maud Ventura, geboren 1992, ist eine französische Autorin. Ihr Debütroman Mein Mann, mit dem Prix du Premier Roman ausgezeichnet, wurde in Frankreich zum meistverkauften Debüt des Jahres 2021 und zu einem Best- und Longseller-Phänomen. Auch ihr zweiter Roman Der Rache Glanz sorgt seit seinem Erscheinen 2024 für viel Furore: »Jede Seite ein Peitschenhieb!«, urteilte u.a. die Libération.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Meinen Eltern
»Ich habe nie geschrieben, [...]
Ich bin verliebt in [...]
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Referenzen
Danksagung
Fußnoten
Über Maud Ventura
Impressum
Von meinem Schreibtisch aus beobachte ich das Hin und Her. In unserem Wohnvorort verkehren die Autos mit gezeitenhafter Regelmäßigkeit: eine Abfahrtswelle um 8 Uhr, eine gegenläufige Welle um 20 Uhr 30 (wie am Meer beträgt ein vollständiger Zyklus 12 Stunden und 25 Minuten). Mit meiner Halbtagsstelle am Gymnasium und den Übersetzungen, die ich zu Hause erledige, bin ich eine der wenigen, die sich nicht in diesen Rhythmus einfügen.
Wir wohnen eine halbe Stunde vom Stadtzentrum entfernt: Häuser aus den dreißiger Jahren, gepflegte, vor fremden Blicken geschützte Gärten, Obstbäume und Schaukeln, die man nur erahnen kann, da sie sich hinter riesigen Toren verbergen. In meiner Kindheit war das für mich nur ein unerreichbarer Traum, der allerdings mittwochs kurz in Reichweite kam, wenn ich meinen Mietblock verließ, um in den Häusern meiner Freundinnen zu spielen.
Heute wohne ich im schönsten Haus des Viertels. Ganz objektiv betrachtet hat es die hübscheste Fassade, und unsere Bäume tragen die meisten Früchte (ich habe in einer Dekozeitschrift gelesen, dass Bäume einem Ort seinen besonderen Charakter verleihen). Ich mag den Mühlsandstein, die grünen Fensterläden, weil sie Glücksbringer sind, den Briefkasten, die blumengeschmückte Einfahrt und die Kletterrose, die die Haustür umrahmt (in derselben Zeitschrift habe ich gelesen, dass deren weiße Blüten einen ganzen Garten beduften können).
Drinnen mag ich das knarzende Parkett, die ächzende Treppe, den ersten Stock mit unserem Schlafzimmer und dem Bad, den zweiten mit den Kinderzimmern und meinem Arbeitszimmer: Die Aufteilung ist ideal.
Aber mein liebster Raum ist ohne Frage der Eingangsflur. Jeden Abend wird dort die große Zeremonie des Von-der-Arbeit-nach-Hause-Kommens gespielt: Mein Mann öffnet die Tür, legt seine Schlüssel und die Post ab (er besteht immer darauf, dass er sich drum kümmert), reicht mir das Baguette, küsst mich auf die Stirn oder die Wange (selten auf den Mund). Für so eine bedeutende Szene braucht es eine sehr schöne Einrichtung. Das ist der Grund, warum ich diesen Raum sorgfältig gestaltet habe: ein geschnitzter Spiegel, der ein Vermögen gekostet hat, eine wunderschöne Keramikschale für unsere Schlüssel, unsere übereinanderhängenden gerahmten Familienfotos. Es ist der erste Raum, den mein Mann bei seiner Ankunft betritt, es ist also normal, ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sonst wäre es ganz allein meine Schuld, sollte mein Mann eines Tages nicht mehr zu uns nach Hause kommen wollen.
Der Eingangsflur führt zu den anderen Räumen im Erdgeschoss: ein kleines Wohnzimmer und eine winzige Küche, die allerdings in den Garten hinausgeht. Ich mag keine zu großen offenen Räume – sie bedrücken mich, ich fühle mich wohl in diesen eigenwilligen Räumen, für die ich Möbel nach Maß habe fertigen lassen. Den Art-déco-Marmorkamin habe ich behalten, auch die Stuckdecke mit den komplizierten Girlanden. Ich betrachte sie oft, wenn ich auf dem Sofa liege, und frage mich, ob sie vielleicht von einem Mitglied meiner Familie gemacht wurden; mein Urgroßvater und mein Großvater waren Kunsthandwerker von Beruf, und vor ein paar Jahren erfuhr ich, dass sie sich auf Gipsstuckaturen spezialisiert hatten.
Wir sind, wenige Monate bevor ich als Übersetzerin zu arbeiten begann, in dieses Haus eingezogen. Ein Lehrerkollege vom Gymnasium bat mich, eine Übersetzungsarbeit zu übernehmen, die er nicht rechtzeitig abliefern konnte – ein populäres Sachbuch über die Kopernikanische Wende. Das war nicht mein Fachgebiet, ich wusste kaum etwas über diese historische Zeit, nahm den Auftrag aber trotzdem an. Seither vertraut dieser Verleger mir oft Übersetzungen an: Kurzgeschichten, eine Gedichtsammlung, einen Krimi, der sich ganz gut verkauft hat, Werke zur Wissenschaftsgeschichte.
Im Augenblick arbeite ich am Erstlingsroman einer jungen irischen Erfolgsautorin. Er ist nicht besonders schwer zu übersetzen, aber ich muss gestehen, dass ich mit dem Titel immer noch kämpfe: … »Warten auf den nahenden Tag?«, »In Erwartung des kommenden Tages?«. Diesen Titel habe ich noch nicht geknackt. Es gelingt mir weder, die Poesie wiederzugeben, noch, den korrekten Sinn zu übertragen. Die Heldin wartet nicht nur auf die Ankunft eines neuen Zeitalters, auf einen Mentalitätswandel. Sie wartet auch ganz buchstäblich auf den Sonnenaufgang. Sie muss die Nacht über durchhalten und bis zur Morgendämmerung ausharren. Erst die ersten Sonnenstrahlen werden ihre sichere Rettung sein. Außerdem steckt eine gewisse Ungeduld darin, die ich nicht wiedergeben kann – geradezu eine drohende Gefahr. Wenn man das Buch liest, wird es klar, dass gleich der Tag anbricht. … und was soll ich mit den drei Auslassungspunkten machen?
Der Rest des Romans stellt mich vor keine größeren Probleme. Ich bin vorgegangen wie üblich. Als Erstes habe ich mich mit der Gedankenstruktur der Autorin vertraut gemacht. Habe herausgearbeitet, welche Ausdrücke sie besonders mag und wie sie ihre Sätze am liebsten beginnt, welche Wiederholungen ihr immer wieder durchrutschen und welche Redewendungen sie gern benutzt. Ich bin in ihren Kopf eingedrungen, habe mir ihre Logik anverwandelt, bis ich die Machart des Ganzen entschlüsselt hatte. Nach mehreren arbeitsreichen Wochen kann ich jetzt behaupten, dass ich mir ihre Ausdrucksweise angeeignet habe und in ihrer Stimme schreiben kann.
In dieser Phase kann ich mich dann ganz auf die Feinheiten des Englischen konzentrieren, einer nicht sehr technischen, dafür aber recht gefühlsbetonten Sprache. Das Englische ist eher einfach gestrickt: Man muss keine Deklinationen auswendig lernen und keine Adjektive beugen. Und doch ist es eine vielschichtige Sprache, mit vielen Ausnahmen von der Regel und Varianten: Sie hat eine rudimentäre Grammatik, aber wohlklingende Redewendungen und einen unnachahmlichen Akzent. Sie können noch so sehr Ihre Syntaxfehler ausmerzen, Ihr Vokabular erweitern, sich Sprachticks aneignen, das Englische wird Ihnen trotzdem immer einen Schritt voraus sein. Manchmal frage ich mich, warum ich mir keine logische, vorhersagbare Sprache wie das Deutsche ausgesucht habe. Das Englische entzieht sich meiner letztgültigen Kontrolle, was mich manchmal ärgert und oft frustriert; was aber vielleicht erklärt, warum es mir bisher noch nie langweilig wurde.
Ich wurde schon gefragt, ob ich durch meine Arbeit als Übersetzerin Lust bekommen hätte, selbst zu schreiben. Die Antwort ist immer dieselbe gewesen: Ich fühle mich nicht als Autorin. Wenn ich übersetze, bin ich nur eine Interpretin, und das entspricht mir vollkommen. Ich muss nichts erfinden, und das trifft sich gut, denn ich habe keine große Phantasie. Ich beobachte lieber, analysiere, deduziere; ich mag es, einen Text auseinanderzunehmen, zwischen den Zeilen zu lesen, den impliziten Ton herauszuarbeiten – ihn auf Hinweise abzuklopfen wie eine Ermittlerin auf der Suche nach versteckten Indizien. Außerdem denke ich oft an Marguerite Duras: Der zweite Teil meines Lieblingszitats enthielt von Anfang an die Warnung: Pass auf, glaub nicht, dass du schreibst, du übersetzt.
Nach dem Wolkenbruch steigt der Geruch der regennassen Wiese zu meinen Fenstern auf. Ich wollte, es würde immerfort nur regnen. Mein Mann ist im Büro, die Kinder sind in der Schule, ich kann ungestört weiterarbeiten. Ist mein Mann zu Hause, verliere ich jegliche Konzentrationsfähigkeit. Beim geringsten Geräusch auf der Treppe schrecke ich auf. Sobald ich höre, wie er sich nähert, nehme ich die Brille ab und schalte den Computer aus. Er soll mich dabei sehen, wie ich in ein dickes linguistisches Handbuch oder in die Übersetzung eines dunklen Byron-Gedichts vertieft bin, und nicht, wie ich die Zeugnisnoten meiner Schüler in die Notenverwaltungssoftware der Schule eingebe. Vorsichtshalber habe ich immer einen Füller neben mir liegen, für den Fall, dass mein Mann mein Arbeitszimmer betritt – er liebt es, wenn ich mit der Hand schreibe.
Mein Mann hat immer bewundert, wie gewissenhaft ich die Wörter, die ich für meine Übersetzungen brauche, in kleine thematisch geordnete Hefte notiere. Ich besitze ein Dutzend davon. Ins rote Heft gehören Begriffe, die in der Politik und in Gesellschaftsdebatten verwendet werden, ins blaue gehören Naturbegriffe (das ist besonders voll, es enthält vor allem die Kletterpflanzennamen Englischer Gärten und die Namen verschiedener Eichenarten). Sie stehen alle nebeneinander auf dem Regal über meinem Schreibtisch, aber heute fällt mir auf, dass eines fehlt. Ich suche überall nach meinem gelben Heft, in dem das Vokabular zum Thema Medizin und Geschichte der Wissenschaft steht, aber vergeblich.
Ich habe auch ein Heft, das dem Liebesvokabular gewidmet ist, die Wörter sind thematisch geordnet nach Kennenlernphase, Beziehung, Trennung und allen möglichen Gefühlsvarianten. Einige wiederkehrende Ausdrücke zeichnen ein Bild der Liebesvorstellungen in der englischen Sprache – und damit auch die der irischen Romanautorin (schwer zu beweisen, aber ich habe den Eindruck, sie ist am Boden zerstört, weil sie aus Fahrlässigkeit ihre erste Liebe aufs Spiel gesetzt hat und glaubt, für diesen Fehler...