E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Vigan Tage ohne Hunger
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8321-8968-6
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8968-6
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
DELPHINE DE VIGAN, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman >No & ich< (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman >Nach einer wahren Geschichte< (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihre Romane >Dankbarkeiten< (2019) und >Das Lächeln meiner Mutter< (2020). Die Autorin lebt mit ihren
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II
IN DER NACHMITTÄGLICHEN Stille hat sich die Tür geschlossen. Sie hat sich aufs Bett gelegt. Zum ersten Mal seit Wochen quellen Tränen aus diesem versteinerten Körper, aus diesem erschöpften Körper, der gerade kapituliert hat. Sie beweint diese unverständliche Erleichterung, die sie ganz und gar diesen Leuten ausliefert. Die Tränen brennen an den Lidern. Das ist sie jetzt: ein Sack Knochen auf einem Krankenhausbett. Mehr nicht. Die Augen sind vergrößert und haben tiefe Ringe, die Wangen unter den hervorstehenden Kieferknochen sind eingefallen, als würden sie nach innen gesaugt. Rings um die Lippen bedeckt dunkler Flaum die Haut. In den deutlich sichtbaren Adern pulsiert das Blut zu langsam.
Sie schlottert. Trotz Wollstrumpfhose und Rollkragenpulli. Die Kälte ist innen, sie hindert sie daran, stillzuhalten. Eine Machtübernahme, die dem Tod gleicht, das weiß sie, der Tod ist in ihr wie ein Eisblock. Die Neonröhre summt, doch sie hört nur ihr eigenes Atmen. Ihr Kopf dröhnt von diesem regelmäßigen, verstärkten Atem, der sie verfolgt. Sie ist fast taub geworden, von innen zerfressen, weil sie nichts frisst.
Sie ist aufgestanden, um die orangefarbene Jalousie herunterzulassen. Das gelbliche Licht liegt auf den blassen Wänden. Sie stellt ein Inventar des Zimmers auf: ein Bett, ein großer Tisch, eine Neonröhre, ein Stuhl, ein höhenverstellbares Tischchen auf Rollen, zwei Wandschränke, eine Deckenleuchte, ein Sauerstoffanschluss, eine Klingel. Hinter einer schmalen Tür sind Toilette und Waschbecken, die Dusche ist auf dem Gang.
Draußen wird es gerade dunkel, und sie bringen ihr schon das erste Essenstablett. Unter einem Aluminiumdeckel ein zu lange gegartes Hacksteak mit nicht mehr allzu grünen Bohnen. Versuchen Sie es, auch wenn es schwerfällt. Sie kaut brav. Sie könnte stundenlang kauen, wenn es nur das wäre, den Mund mit Speichel füllen, die Nahrung von einer Seite zur anderen schieben, diesen Brei, dessen Geschmack langsam verschwindet, endlos zermalmen. Das Problem ist das Schlucken. Schon hat sich eine Kugel in ihrem schmerzenden Magen verklemmt. Die Zeit steht still. Sie wird noch einmal lernen müssen zu essen und auch zu leben. Die Schwesterhelferin ist zurück, sie schaut unter den wieder aufgelegten Deckel: Das ist doch gut für den ersten Tag, meinen Sie, Sie können schlafen?
Ausnahmsweise überfällt sie der Schlaf mit einem Schlag. Zwischen den stramm gezogenen glatten Laken braucht man nur die Augen zu schließen.
Sie wollte ein paar Sachen in den Schrank räumen, doch sie hat Mühe, sich aufrecht zu halten. Ihre Beine tragen sie nicht mehr. Nicht mehr wie früher, als sie mit leerem Magen kilometerweit lief oder Treppen hochstieg, so wie sich andere Nadeln in die Adern stechen. Sie hat diesen Körper von allem Leben entleert, ist bis ans Ende gegangen, ans Ende ihrer Kräfte. Sie muss sich hinsetzen. Aus dem zwölften Stock blickt sie auf den Boulevard périphérique. Sie haben ihr Blut abgenommen. Soweit noch welches da war. Eine orangefarbene Flüssigkeit, die sie kaum herausbekommen haben. Man kann ihren Arm mit Daumen und Zeigefinger umschließen. Auch darauf wird sie verzichten müssen. Die Magerkeit als Schrei. Die Krankenschwester drückt fester auf die Adern, bleibt ganz geduldig. Wie kann man nur so weit kommen?, fragt sie. Es ist kein Vorwurf, nur eine laut geäußerte Frage. In ihrer Stimme liegt zögerndes Mitgefühl. Unter ihrem Kittel erahnt man echte Brüste, die sich im Rhythmus ihrer Atmung heben und senken. Sie drückt mit dem Daumen auf die Vene, seufzt, ist ganz bei der Sache und füllt ein Röhrchen nach dem anderen. Beim vierten gibt sie auf. Das sollte reichen. Sonst versuchen wir es später noch einmal. Im Zimmer Nr. 1 im Westflügel ist die Stille schwindelerregend. Morgen wird ihr irgendjemand einen Fernseher anschließen. Morgen wird man ihr Bücher, Zeitungen und Strickzeug bringen. Dann wird sich ein neues Leben organisieren, ein Leben ohne Bewegung, damit sie Fett ansetzt.
Fünfunddreißig Grad Körpertemperatur, ein Blutdruck von achtzig, Amenorrhö, gestörte Behaarung, Schorf, verlangsamter Puls, wir haben also alle Zeichen von Unterernährung.
Stolz steht er am Fußende ihres Bettes. Schauen Sie hin, meine Damen und Herren, in der zwölften Etage dieses demnächst berühmten Krankenhauses ist gestern Abend ein ein Meter fünfundsiebzig großes Skelett mit sechsunddreißig Kilo Körpergewicht gestrandet. Sein bislang extremstes Gewicht-Körpergröße-Verhältnis. Dicht gedrängt stehen sie in ihren makellosen weißen Kitteln vor ihr und stoßen sich mit dem Ellbogen an, während sie ungläubige Blicke auf das Blatt am Fußende des Bettes werfen. Sie wundern sich, dass die Patientin nicht im Koma eingeliefert wurde. Gleich wird man eine Magensonde legen. Das Wort dröhnt in den Ohren und schrillt weiter wie eine Krankenwagensirene. Sie haben die Tür hinter sich geschlossen, doch draußen beendet er noch seinen Kommentar. Sie hört nicht, was er sagt, sie hört nur diesen nasalen Klang, der für seine Stimme charakteristisch ist.
Im Stehen verliert sie das Gleichgewicht. Im Sitzen tut ihr der Po weh. Im Liegen auch. Die Knochen bohren sich in die Haut, in ihre Pappmascheehaut, die überall nur trocken und grau ist. Ja, wirklich, wie kann man nur so weit kommen? Sie wartet, wie eine Zwiebel in Kleidungsschichten gehüllt.
Der Schlauch ist in einem sterilen Beutel verpackt. Keine Angst, sagt er, es ist nur ein bisschen unangenehm, wir schieben ihn durch die Nase, und wenn er in die Kehle kommt, müssen Sie schlucken. Danach machen wir eine Röntgenaufnahme, um sicher zu sein, dass die Sonde richtig im Magen sitzt. Sie müssen nur schlucken. Schlucken. Als sie wieder in ihrem Zimmer ist, sieht sie in den Spiegel. Von der Schlange ist nur noch ein transparentes Plastikende übrig, das ihr aus dem rechten Nasenloch ragt. Es wird von einem Pflaster auf der Wange festgehalten, verschwindet hinter dem Ohr und pendelt dann blöde über der Schulter.
Sie werden es selbst an die Maschine anschließen, die ganze Nacht lang und mindestens vier Stunden tagsüber. Die Ernährungspumpe ähnelt einer großen Kaffeemaschine. Sie ist auf dem Tischchen neben ihrem Bett aufgebaut worden. Wenn es im Bauch wehtut, kann man die Geschwindigkeit verringern. Die Krankenschwestern werden mehrmals täglich Flaschen mit Sondenkost in den Behälter entleeren und das Gerät reinigen. Eine Flasche, dann zwei, dann drei … bis zu fünf am Tag, je nachdem, wie sie zunimmt. So läuft die Nährlösung hinunter bis zum Magenausgang. Ganz tief nach unten, für den Fall, dass sie auf die Idee kommt, sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg zu machen. Hunderte von Kalorien, gut angepasst und vorverdaut, echte, tückische Kalorien, die man nicht bekämpfen kann. Das ist die einzige Lösung, sagt er. Weil sie zu weit gegangen sei und der Körper es nicht mehr allein schaffen könne. Er sagt auch, dass man den Schlauch in der Nase und den Lärm des Geräts nach einigen Stunden nicht mehr bemerke. Sie müsse wieder lernen zu essen, und es werde eine Diätassistentin kommen, die Werte überprüfen und ihr noch einige Extras verordnen.
Zunächst einmal windet sie sich auf ihrem Bett wie ein Aal. Das Röhrchen zuckt und bebt die ganze Speiseröhre hinunter. Sie spürt jeden Tropfen, den das Gerät freigibt, und sie spürt, wie sie sichtlich anschwillt. Sie horcht so angespannt auf ihren Bauch, dass sie nicht mehr atmet. Einige Hundert Milliliter Angst überfluten summend ihren Körper. Sie gerät in Panik, bekommt keine Luft mehr, schluchzt. Sie sind zu zweit gekommen und versuchen, sie zu beruhigen. Es geht nicht mehr, sagt sie, ich schaffe es nicht, ich will gehen, auch wenn ich dann krepiere.
Er kommt zu ihr. Ganz nah, ganz vorsichtig. Als würde er mit dem Finger ein verletztes Tier berühren. Als wollte er sehen, was noch möglich ist. Sie weiß, dass er nicht nachgeben wird. Er sieht angegriffen aus und wirkt wie jemand, der gern nach Hause gehen würde. Dabei fühlt er sich doch wohl in seinem Kittel und trägt die Arroganz der Gesunden zur Schau. Er hat auf dem Bett seine Hand dicht neben ihre gelegt, er versucht ihr zu verstehen zu geben, dass sie da rauskommen muss, dass sie die Wahl der Mittel nicht mehr hat. Er umhüllt sie mit Worten, umarmt diese Angst, die sie im Griff hat, er bietet ihr die Stirn mit dem ganzen Vertrauen, das er in sie setzt, mit dem ganzen Vertrauen auch auf ihr Leben danach, das nur er sich vorstellen kann. Und wenn ihm die Argumente ausgehen und alle bisherigen nur von Schluchzen beantwortet wurden, würzt er seine Sätze mit einem überzeugten »Scheiße aber auch!«. Ein Kraftausdruck, der alles Übrige zusammenfasst, alles, was gesagt worden war, und auch, wie dringend und wichtig es war. Die Angst verflüchtigt sich. Sie ist nicht mehr ganz allein in diesem Kampf gegen sich selbst. Die Nacht ist hereingebrochen. Sie wartet ohne große Hoffnung auf den Schlaf.
An diesem Abend denkt sie an Louise. Ihre unglaubliche Schwester, die ihr als Schwester unglaublich nahesteht, und das für immer. Louise allein mit den beiden, Louise allein gegen die beiden. Louise allein, aber hellsichtig. Heute Abend denkt sie an Louise und wünscht sich, es wäre nie so weit mit ihr gekommen, sie hätte nie versagt, sie würde immer noch wie früher Louise’ kleine Hand in ihrer spüren, auf dem Bahnsteig der Gare du Nord, wo sie beide standen, auf immer zusammengeschweißt.
Anorexie. Es fängt an wie Anorak, aber es endet mit xie. Anscheinend sterben zehn Prozent daran. Vielleicht aus Unachtsamkeit. Ohne es zu merken. Ganz sicher vor Einsamkeit. Daran denkt sie manchmal. So konnte sie nicht weitermachen, vor allem wegen der Kälte, aber auch wegen der Müdigkeit. Sie ist erschöpft. Jetzt weiß sie, dass man unter einer...




