Weingartner Villa Klestiel
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-99039-019-1
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-99039-019-1
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gabriele Weingartner, Kulturjournalistin und Literaturkritikerin, wurde 1948 in Edenkoben/Pfalz geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Cambridge (Massachusetts). Nach zwei Jahrzehnten im pfälzischen St. Martin lebt sie seit 2008 wieder in Berlin. Zahlreiche Literaturpreise und Stipendien, Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): Der Schneewittchensarg (1996), Bleiweiß (2000, 2009 als Taschenbuch bei dtv), Die Leute aus Brody (2005), Fräulein Schnitzler (2006). Bei Limbus erschienen: Tanzstraße (2010, als Limbus TB 2014), Villa Klestiel (2011, als Limbus TB 2014)
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Altes Herz
Die Morgenkühle war noch um sie, als sie sich zu ihm legte, und er schmiegte sein Gesicht an ihren Nacken und umfasste ihren zarten Körper mit beiden Armen, da er die späten Rosendüfte aus dem Botanischen Garten an ihr riechen wollte. Schon seit über einem Jahr traf sie sich dort täglich mit Leidensgenossen zum Qigong, bei Wind und Wetter, bei Regen und Sonnenschein, bei Schnee und Eis. Und manchmal sah er sie – während sie fort und er noch einmal eingeschlafen war – in seinen Träumen über blühende Wiesen schweben, mit knappen Handbewegungen und anmutigen weiten Gebärden die Luft zerteilend. Bisweilen trat sie auch aus dichten Nebeln hervor und winkte ihm zu, so als ob sie ihn über eine Grenze ziehen wollte mit der Kraft ihrer Gedanken, dahin, wo er nie gewesen war, sie aber schon deutlichere Kunde hatte.
Er mochte ihre Kniekehlen und ihre Armbeugen, die Stellen, wo ihm ihre Haut so dünn erschien, dass er manchmal dachte, man hätte sie nur leicht kratzen müssen, damit Blut floss. Und er hatte auch nichts dagegen, dass sie ihre kalten Füße an ihm wärmte, weil er es liebte, wenn sie sich allmählich entspannte und die Embryostellung aufgab, die sie so klein machte wie ein Kind.
Es ist Herbst, flüsterte sie, ich werde meine Thermojacke aus dem Schrank holen müssen, meine Angora-Unterwäsche und bald auch meine Mütze und die Handschuhe. Dann ist es dunkel, wenn ich morgens aufbreche. Und ich werde wieder lernen müssen, mich im Finstern anzuziehen.
Auch dein Gesicht kann ich dann nicht mehr sehen, antwortete er, wenn es denn eine Antwort war, die er ihr gab, und fuhr mit dem Finger über ihre kurze, gerade Nase, dabei steht dir die Mütze so gut, sie zeigt, wie hübsch und schön du bist.
Wie hübsch und schön ich noch immer bin, korrigierte sie und klammerte sich an seinen Zeigefinger. Wer weiß, wie es in meinem Inneren aussieht. Willst du es wissen? Ich nicht.
Er hielt sie und spürte, wie sie noch einmal einschlief, sich auszustrecken und von ihm abzurücken begann. Regungslos, um den Prozess nicht zu stören, wartete er auf ihre gleichmäßigen Atemzüge, auf das sachte Glucksen, das er kannte, seit sie sich vor mehr als vierzig Jahren zum ersten Mal miteinander in ein Bett gelegt hatten. Allmählich schälten sich ihre Gesichtszüge aus der Dämmerung, ihr kleines scharfes Profil gegen das sich durch die Jalousien kämpfende Morgenlicht. Alles war klein an ihr, darüber musste er sich noch heute wundern, wenn er sie sah oder anfasste. Ein kleiner Mund und kleine Zähne, eine kleine Nase, nicht zu große Augen, die dazu im rechten Verhältnis standen. Kleine Ohren. Er war sich immer ungeschlacht vorgekommen im Vergleich zu ihr, mit einer Hand konnte er ihre zudecken, sodass man sie nicht mehr sah. Und wenn sie zufälligerweise hinter ihm stand, verbarg er unschwer ihre ganze Gestalt. Vielleicht war ihre Zerbrechlichkeit der Grund, dass er von Anfang an meinte, es mit einem Kind zu tun zu haben, mit einem Kind allerdings, das sich intelligenter und wacher durchs Leben schlug, als er es je getan hatte.
Auch sehr viel mutiger war Marianne gewesen in ihren jungen Jahren. Während Viktor im Seminar saß oder in der Bibliothek, versunken in die Probleme der mittelalterlichen Königswahl und die Geheimnisse des Geblütsrechts, legte sie sich auf der Straße mit Polizisten an und wollte mit ihnen über die Freiheit der Andersdenkenden diskutieren. Der harte Strahl eines Wasserwerfers hatte ihr einmal sogar – wegen ihrer zarten Knochen und weil sie partout nicht weichen wollte – den Arm gebrochen. Auch den Vopos an der Grenze gab sie Widerworte, während Viktor zitterte, wenn sie ihn zwangen, seinen Kugelschreiber auseinanderzuschrauben.
Das erste juristische Staatsexamen aber machte sie im gleichen Jahr wie er – da wohnten sie schon zusammen. Mit einer besseren Note, die ihr ein Jahresstipendium an der Harvard Law School einbrachte. Und auch die Trennung verkraftete sie gut, viel besser als angenommen. Freunde hatten damals mit ihm gewettet, dass sie viel zu kapriziös sei, einem einzigen – ihm – treu zu bleiben, er selbst hatte sich sofort nach ihrem Abflug in Tempelhof an Edelgard herangemacht, ihre Freundin, an der alles viel größer war, der Po, die Brüste, das Gesicht, an Edelgard, die sich auch heute noch gelegentlich in ihrem neuen Domizil zur Stippvisite anmeldete und Anzeichen von Eifersucht äußerte auf die nicht enden wollende gute Ehe ihrer ehemaligen Kommilitonen.
Nach dem erfolgreichen Aufenthalt in Massachusetts bestand Marianne darauf, alle zwei Jahre ein paar Wochen allein in den Staaten zu verbringen. (Edelgard ließ da nie lange auf sich warten, Viktor und sie trafen sich in einer Pension in einer der Ku’damm-Seitenstraßen.) Aber wenn Marianne es aus irgendeinem Grund nicht schaffte, besuchten ihre Freundinnen aus Boston oder New York sie in Berlin: Ann, Julia, Nan, Dotty, Leslie, wie sie alle hießen. Sie kamen, machten sich in der Wohnung breit. Ließen am helllichten Tag den Fernseher laufen. Ann schleppte sogar ihre Popcornmaschine mit, wenn abzusehen war, dass sie länger blieb. Und alle zwangen Viktor, Englisch zu reden, obwohl er auf ein altsprachliches Gymnasium gegangen war und nicht einmal über den Grundwortschatz verfügte. Während er ihnen das Abendbrot servierte, redeten sie davon, den Männern die Schwänze abzuschneiden, wenn sie sich nicht schleunigst besserten, freiwillig die Reinigung der Familientoilette übernähmen zum Beispiel oder die Haare aus den Waschbecken entfernten. Und natürlich erwähnte Viktor nicht, dass er es heute und gestern und vorgestern gewesen war, der die Tochter vom Kindergarten abgeholt und für sie und Marianne gekocht hatte. Ja überhaupt für den Haushalt zuständig war und außerdem wirklich der Meinung, dass die alte Rollenverteilung nur zum Schaden der Männer existierte.
Leslie war übrigens die einzige der Freundinnen, mit der Marianne noch Kontakt hatte, alle zwei bis drei Jahre kam sie zu Besuch, wenn ihr Mann, ein renommierter Rechtsphilosoph, über dessen Spezialgebiet alle rätselten, an Europas Universitäten Vorträge hielt. Dann sprach sie mit glockenheller Stimme, lachte oft aus nicht ganz erkennbaren Gründen und hatte auch ihre unglaubliche Anmut und ihren zarten Nacken nicht verloren, gegen dessen besondere Attraktion Viktor – in fernen Anti-AKW-bewegten Zeiten, als Marianne und Leslie aus reiner Lust Thoreaus Schrift Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat übersetzten und tagelang den Küchentisch blockierten – gewiss vergeblich angekämpft hätte, wäre sie je auf einen seiner Flirtversuche eingegangen. Damals lief im Lichtblau’schen Bekanntenkreis das Gerücht um, dass Leslie die Geliebte von Max Frisch gewesen war, sie sich näher gekommen seien vielmehr, als der Autor eine Tournee an der Ostküste absolvierte und sie ihm als Übersetzerin und Managerin seiner Lesungen diente: was Viktors Entflammtheit vorübergehend noch verstärkte.
Alle, wirklich alle, also auch Marianne und er, obwohl er sich für Belletristik kaum erwärmen konnte, hatten sich damals begierig auf Montauk gestürzt und in der Erzählung die amerikanische Freundin wiedergefunden, in sämtlichen Details, inklusive der Beschreibung ihrer kleinen Brüste. Dass Marianne selbst dann nicht von ihren Erkenntnissen abrückte, als sie Jahre später – Frisch war da schon tot – zufällig in der Zeitung las, dass es eine ganz andere gewesen war, mit der der Schriftsteller seine damalige Gattin betrog, rechnete Viktor ihrer Unfähigkeit zu, sich von Träumen zu verabschieden. Es sei doch sehr die Frage, hatte sie trotzig gesagt, als sie Viktor die Passage aus dem Artikel wiedergab, in der sogar der Name der Ostküsten-Liebe vorkam, ob das nicht einfach nur einer Variante von Wahrheit entspreche. Frisch sei bekannt für seinen Frauenverschleiß, ein Blaubart sei er gewesen, nichts anderes. Außerdem hätte ihn keiner daran hindern können, gleich zwei Frauen in eine Gestalt zu gießen. Schließlich habe er Literatur produziert.
Ja, Marianne war ein Kind. Viktor musste lächeln. In weniger als drei Stunden würde das andere Kind kommen, Jessica, seine Enkelin, die zwei Wochen bei ihren Großeltern verbringen sollte. Er konnte nicht sagen, dass er sich freute. Traudls auf dem Schwarzen Kontinent zusammengesammelte Adoptivkinder blieben ihm fremd. Er sah keinen Sinn darin, dass seine Tochter die Zeugungsunfähigkeit ihres Mannes ausgerechnet in Afrika kompensieren musste. Und auch die Schnelligkeit, mit der sie sich mit dessen an der Börse verdienten Millionen angefreundet hatte, war ihm suspekt. Jessica, das jüngste Mädchen mit der dunkelsten Hautfarbe und den größten Augen von allen, hatte Probleme mit ihren älteren Brüdern, sie musste heraus aus dem Familienverband, so hatte Traudl dies auf den Punkt gebracht, wenigstens für ein paar Tage, aber doch in einer Atmosphäre bleiben, in der sie geliebt würde. Viktor fiel ein, dass Jessica beim letzten Sommerfest von ihren Brüdern ständig übers Grundstück gehetzt worden war, aber auch Herrn Friedrich ein Bein gestellt hatte, sodass dieser sich die Schulter brach, als er vom Tanzpodium fiel und über eine Baumwurzel stolperte.
Davon abgesehen hatte sich Herr Friedrich, der wohl ungefähr so viele Jahre zählte wie er selbst, den ganzen Abend über ziemlich unwürdig benommen und war bis an die Grenzen der Schicklichkeit einer aufgedackelten Journalistin nachgestiegen, die etwas über den Geist des Wohnprojekts...