Werner Der ägyptische Heinrich
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-401267-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-10-401267-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren und starb 2016 in Schaffhausen. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane ?Zündels Abgang?, ?Froschnacht?, ?Die kalte Schulter?, ?Bis bald?, ?Festland?, ?Der ägyptische Heinrich? und ?Am Hang?. Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band ?»Allein das Zögern ist human«?. Literaturpreise: Joseph-Breitbach-Preis (2000) Johann-Peter-Hebel-Preis (2002) Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2005) Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen (2006) ProLitteris Preis 2016
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Ich hatte viel von ihr gehört, viel über sie gelesen, und ihr Erscheinungsbild war mir so gut vertraut wie ihre Herkunft und ihre Körpermaße, und alles, was ich wußte und mir während der Fahrt zu ihr noch einmal nicht ohne Erregung vergegenwärtigte, deutete Großes an. Trotzdem verlor ich, als ich vor ihr stand, die Fassung, die Knie zitterten mir, ich schrumpfte. Nie zuvor hatte eine wirkliche Wirklichkeit mein Bild von ihr so entschieden verkläglicht, daß ich mich meiner Vorstellungskraft hätte schämen müssen. Nun tat ich es – wenn auch nur für ein paar Augenblicke – , denn vor dem sinnlichen Da des Wunders, ich spürte es, wird Malerei des Hirns zum bleichen Pfusch.
Ich stand ihr gegenüber, erschüttert, überwältigt von ihrer Ausstrahlung und gelassenen Wucht. Hinfällig war ich, ein markloser Zwerg, ein Erdenwurm halt, der sich endlich, nachdem die Benommenheit ein wenig gewichen war, dazu anschickte, um sie herumzukriechen, immer ehrfürchtig und immer ungläubig aufschauend zu ihr und zum Tiefblau des Himmels, dem sie entgegenwuchs. Andere umkreisten das Phänomen auf Kamelen, der Rummel war groß.
Aber als ich, nach Bezahlung des Eintritts, ins Innere und Dunkle drang, war ich plötzlich allein. In tief gebückter Haltung folgte ich dem abwärts führenden Schacht. Die Luft wurde stickig, ich dachte an Umkehr. Am Ende des Gangs konnte ich mich aufrichten und etwas Atem schöpfen. Dann begann der ansteigende Stollen, der endlos schien. Ich quälte mich vorwärts und dachte an Umkehr. Ich dachte an die Millionen von Tonnen Gestein über mir, die, aufgeschichtet von Menschenhand vor Jahrtausenden, jederzeit und gerade jetzt, wo ich so gern noch ein Weilchen gelebt hätte, ins Wanken kommen konnten. Endlich mündete der Tunnel in eine hohe, langgestreckte Galerie, eine Art Treppenhaus, nach dessen oberster Stufe nochmals ein kurzer Engpaß folgte, der sich als Gang und Eingang zum Zentrum erwies. Ich stand in der Königskammer, ich stand in der Grabkammer, die in Wahrheit keine Kammer, sondern ein kleiner Saal ist, ein Grabsaal, leer bis auf den leeren Granitsarg des verschollenen Cheops.
Ich blieb nicht lange, es roch so arg nach Urin, daß ein gemessenes Verweilen nicht in Betracht kam. Auch huschte jetzt ein asiatisches Pärchen herein und sagte Good morning. Ich warf noch einen Blick in den offenen Sarkophag, Kaugummis, eine zerknüllte Tampaxschachtel, ich kroch zurück ans Licht.
Es war schon später, als ich geglaubt hatte, es blieb mir keine Zeit mehr für die zwei anderen Pyramiden und für die Sphinx. Wenn mir die Botschafterin schon eine Audienz gewährte, so durfte ich sie weder warten lassen noch in verschwitztem und verstaubtem Zustand vor sie treten. – Antreiben mußte ich den Taxifahrer nicht, er fuhr so mörderisch wie alle, und ich hatte im Hotel noch Zeit genug, mich zu duschen und die Kleider zu wechseln. Ich hätte sogar noch etwas essen und trinken können, glaubte aber, da ich auf dreizehn Uhr geladen war, an einen kleinen Imbiß oder Umtrunk auf der Botschaft.
Sie lag nur wenige Fußminuten vom Hotel entfernt, ich fand sie auf Anhieb, obwohl man die schneeweiße und durchaus stattliche Villa aus kolonialen Zeiten leicht übersehen kann, da sie von den umstehenden Gebäuden überragt und insbesondere von der direkt neben ihr sich erhebenden ARAB INVESTMENT BANK förmlich erdrückt wird. Und da sie zudem von der brodelnden Straße zurückversetzt und vom einzigen Grün weit und breit umgeben ist, erscheint sie vollends als Insel und sonderbares Relikt, verloren, unwirklich fast. Umso eigensinniger, so schien es mir, blähte sich die auf der hellblauen Holzbalustrade aufgepflanzte Schweizerfahne im Wind der Gegenwart.
Als der ägyptische Wachmann, der in einer verglasten Loge zwischen dem äußeren und dem inneren Gitterportal saß, bemerkte, daß ich Einlaß begehrte, plauderte er noch ein wenig mit einem Kollegen, ehe er auf den Knopf drückte, der die Verriegelung des äußeren Tores öffnete, das gleich nach meinem Passieren wieder zuschnappte. Ich war jetzt gefangen, mußte Rede und Antwort stehen und meinen Paß durch einen Schlitz schieben. Der Wachmann studierte ihn und telefonierte dann lange mit dem Inneren der Botschaft, worauf er mir mit Knopfdruck das zweite Gittertor öffnete. Ich eilte über den Vorplatz, ich hatte aufgrund der Schleuse rund zehn Minuten Verspätung und nahm auf der Freitreppe zwei Stufen auf einmal. Die Eingangstür war angelehnt, ich stieß sie zögernd auf und kam in ein geräumiges Entree. Links und rechts befand sich je ein Büroraum hinter Glas. Ich trat zum rechten hin, da ich nur dort jemanden sah, eine junge Frau, die sich erhob, zum Schalter kam und mich mit Namen begrüßte. Sie sagte, die Frau Botschafterin sei im Moment noch besetzt, wies auf den Tisch und die Stühle in der Ecke des Vorraums und bat mich, noch ein wenig Platz zu nehmen. Ich setzte mich, stand aber gleich wieder auf, als ich ein Anschlagbrett entdeckte. Die Mitteilungen, die ich überflog, richteten sich an die Mitglieder der hiesigen Schweizerkolonie, hatten aber keinen amtlichen Charakter, sondern verwiesen auf private Veranstaltungen und Aktivitäten. Auf einem der Blätter, einem ziemlich veralteten offenbar, las ich, daß es nach den jüngsten Erfolgen unserer Fußballnationalmannschaft an der Zeit sei, auch hier in Kairo Farbe zu bekennen und die bereits bestehenden Teams von Italien und Holland herauszufordern. Gesucht würden deshalb elf senkrechte Männer, vorzugsweise Schweizer, die Kampfgeist und Kameradschaftssinn hätten. – Ich las nicht weiter, setzte mich wieder und dachte an meinen Vorfahren, um dessentwillen ich hier war und der das unermeßliche Glück gehabt hatte, in einer Zeit zu leben, in der es zwar mancherlei Seuchen gab, aber wenigstens keinen Sport.
Nach einer Viertelstunde war es soweit, und die Botschaftssekretärin führte mich über eine Steintreppe ins Obergeschoß, klopfte dort an eine halboffene Tür, wartete das Ja ab und meldete mein Hiersein. Die Botschafterin empfing mich nicht herzlich, aber höflich. Sie war etwa Mitte fünfzig und wie erwartet von gepflegter und gesetzter Erscheinung und mittelkühler Aura. Zwischen den beiden schwarzledernen Polstersesseln, auf denen man Platz nahm, stand ein Glastisch, auf dem in einer farblosen Klarsichthülle der Brief lag, in dem ich der Botschafterin die Gegebenheiten, soweit sie mir bekannt waren, geschildert, mein Vorhaben skizziert und sie um ihre Hilfe gebeten hatte. Die Botschafterin fragte, ob ich mich in Kairo schon etwas umgesehen hätte. Ja, sagte ich, ich sei noch ganz benommen von den ersten Eindrücken, vor allem von den Pyramiden, die so aufreizend unerschütterlich im Strom der Zeit stünden, während unsereins von ihm fortgerissen … – Ich brach ab vor Schreck über den zutraulichen Schwulst, und die Botschafterin räusperte sich und sagte dann: Sie suchen hier also nach Spuren Ihres Großvaters. – Meines Ururgroßvaters, sagte ich. – Sie warf einen raschen Blick auf meinen Brief. – Ja, richtig, sagte sie, das ist ja eine schöne Weile her. – Ich gab ihr recht und meinte, daß eben dieser Umstand die Nachforschungen erschwere. – Dabei schaute ich hinüber zum großen Schreibtisch, auf dem sich Berge von Dossiers stapelten – warum zögerte die Botschafterin mit der Aushändigung der Akte meines Ururgroßvaters? – Die Botschafterin, als ahne sie, was in mir vorging, sah jetzt schon den Zeitpunkt gekommen, das Ende der Audienz einzuleiten, indem sie mir zu erkennen gab, daß sie solche Familiengeschichten überaus interessant finde, daß aber mit Anliegen wie den meinigen nicht sie selbst, sondern der Konsul sich befasse und sogar schon befaßt habe, er stehe mir jetzt zur Verfügung. – Und damit wußte ich nach acht Minuten einerseits, daß ich entlassen war, und andrerseits, daß ich empfangen worden war, obwohl ich keine Sache von eidgenössischem Belang verfolgte.
Der Konsul empfing mich nicht herzlich, aber freundlich. Ich sah, daß er eine farblose Klarsichthülle vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, in der sich eine Kopie meines Briefes an die Botschafterin befand. Wie sich zeigte, war der Konsul meinen Fragen auf gründliche und hilfsbereite Weise nachgegangen und hatte alles in Erfahrung gebracht, was über meinen Ururgroßvater mit den Mitteln der Botschaft in Erfahrung zu bringen war, nämlich so gut wie nichts. Einzig in einem Buch mit dem Titel CENT ANS DE VIE SUISSE AU CAIRE, erschienen in den vierziger Jahren in Alexandrien, war der Konsul auf eine Erwähnung meines Vorfahren gestoßen: . – Das war mager und mir bereits bekannt, so bekannt wie die Tatsache, daß Heinrich nur während fünf von fünfzig Jahren, die er an den Ufern des Nils verbracht hatte, Generaldirektor der ägyptischen Salzwerke gewesen war, aber ich machte ein freudiges Gesicht, und dies fiel mir umso leichter, als im gleichen Augenblick ein dunkelhäutiger Dienstbote mit einem Tablett eintrat, auf dem ein Glas Orangensaft stand. – Was Ihre Frage nach möglichen noch hier lebenden Nachkommen Ihres Ururgroßvaters betrifft, sagte der Konsul, nachdem er das Glas vom Tablett genommen und einen Schluck getrunken hatte, so ist das Ergebnis meiner Nachforschungen negativ. Was nicht heißen muß, sagte der Konsul,...




