Kapitel 3
Einen Tag zuvor Bei Einbruch der Dämmerung fährt Andreas die Schloßstraße von Nümbrecht Richtung Bierenbachtal hinunter. Er fährt schnell, viel zu schnell. In der Rechtskurve auf Höhe Schloss Homburg schießt der Wagen auf die Gegenfahrbahn. Hektisch reißt er das Steuer nach rechts, sein schwerer Geländewagen stellt sich quer. Nur mit Mühe gelingt es ihm, das Auto wieder unter Kontrolle und zurück auf die richtige Fahrspur zu bringen. Ausgangs der Kurve tritt er das Gaspedal erneut durch. Am Ende der Geraden steigt er heftig auf die Bremse. Die Reifen blockieren und quietschen. Rauch steigt an beiden Seiten des Autos auf. Dann biegt er nach rechts in den Weg nach Spreitgen ein und gibt wieder Gas. Die Strecke führt zunächst durch ein Waldstück. Niemand begegnet ihm um diese Uhrzeit. Als die schmale Straße am Ende des Wäldchens eine Biegung nach rechts macht, stoppt er den Wagen und stellt ihn am linken Fahrbahnrand ab. Von hier aus führt ein Schotterweg zu den beiden nebeneinander liegenden Hexenweihern. Dort sollen früher sogenannte „Hexenproben“ stattgefunden haben. Diese führte man durch, wenn eine Frau der Hexerei bezichtigt wurde. Das konnte aus banalen Gründen geschehen, zum Beispiel wenn eine Kuh in der Nachbarschaft keine Milch mehr gab. Die Angeklagte wurde an Händen und Füßen gefesselt und ins Wasser geworfen. Ertrank sie, war dies der Beweis für ihre Unschuld. Schwamm sie, galt sie als Hexe überführt und endete auf dem Scheiterhaufen. Andreas steigt aus und schaut sich um. Er sieht weder Spaziergänger, noch Radfahrer oder Autos. Das ist gut. Dann holt er einen zerknitterten Zettel aus seiner Jackentasche hervor und faltet ihn auseinander. Die mit krakeliger Handschrift verfasste Nachricht lag am Morgen im Flur hinter der Wohnungstür. Irgendwann in der Nacht musste sie jemand unter der Tür hindurch geschoben haben. Den ganzen Tag über konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Das ging sogar so weit, dass er sich auf der Arbeit mehrmals dabei ertappte, Fehler gemacht zu haben. Wer ist die Person, die angeblich über die Nacht zum 1. Mai 2009 Bescheid weiß? Was will sie von ihm? Warum war sie nicht direkt zur Polizei gegangen? Ein Fahrzeug nähert sich aus Richtung Spreitgen. Er hält die Luft an. Hoffentlich ist es kein Spaziergänger, der auch hier parken und zu den Hexenweihern gehen will. Oder ist es der Verfasser der Nachricht? Kurz darauf taucht ein roter Sportwagen unterhalb von Spreitgen auf. „Verdammt“, schimpft Andreas. Er kennt das Auto. Der Fahrer verringert die Geschwindigkeit und hält neben Andreas an. Dann lässt er das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. „Hallo Andreas. Was machst du denn um diese Uhrzeit hier?“, fragt sein Arbeitskollege Anton. „Ich will eine Runde spazieren gehen. Ich brauche noch etwas frische Luft.“ Als er diese Worte ausgesprochen hat, würde er sich am liebsten ohrfeigen. Was ist, wenn Anton ihn begleiten will? Fahr weiter! Bitte fahr weiter! „Na dann wünsche ich dir viel Spaß. Ich muss meine Frau in Ründeroth vom Bahnhof abholen. Die war heute in Köln einkaufen!“ „Wir sehen uns morgen.“ Andreas atmet auf und schaut dem sich entfernenden Sportwagen hinterher. Er legt den Zettel ins Handschuhfach, nimmt sein Taschenmesser heraus und steckt es in die Jackentasche. Für alle Fälle. Mit schnellen Schritten geht er in Richtung der beiden Weiher. Seit fast zehn Jahren ist er diesen Weg nicht mehr gegangen. Dabei hat er sich als Jugendlicher oft mit seinen Schulfreunden hier getroffen. Sie haben gefeiert, das ein oder andere Bier getrunken, Musik gehört und gegrillt. Es war eine tolle, unbeschwerte Zeit. Sie wurden langsam erwachsen, planten ihre Zukunft und hatten Träume. Es schien keine Grenzen für sie zu geben, die Welt stand ihnen offen. Aber dann kam der 1. Mai 2009 und mit ihm das Ende der Freundschaften. Wie oft hat er sich gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können und alles ungeschehen zu machen. Er hätte sich nach dem Vorfall anders verhalten müssen. Auf Ben zu hören und zu tun, was der von ihnen verlangte, war der größte Fehler seines Lebens. Er hätte sich mehr gegen dieses aufgeblasene Arschloch auflehnen sollen. Dann hätten sie alle nicht die ganzen Jahre mit einer unfassbaren Lüge gelebt. Doch damals konnten sie sich gegen das Alpha-Tier Ben nicht durchsetzen. Sie standen unter Schock. Ben hingegen fasste als erster einen klaren Gedanken und schmiedete den teuflischen Plan. Trotzdem hat Andreas seinen Wunsch Lehrer zu werden verwirklicht und den Vorfall erfolgreich verdrängt. Und jetzt holt sie die alte Geschichte ein. Sollte er die anderen verständigen? Sie warnen? Nach kurzer Überlegung entscheidet er, sie nicht zu beunruhigen. Er will erst einmal abwarten und herausfinden, was die Person tatsächlich von ihm will. Nach ein paar Minuten Fußmarsch erreicht Andreas den größeren der beiden Hexenweiher. Er liegt friedlich in der Abenddämmerung eingerahmt von einzelnen Bäumen an der einen und dichtem Wald an den anderen Seiten. Die Oberfläche ist spiegelglatt, am Ufer dösen zwei Enten im Gras. In den Bäumen zwitschern Vögel und fliegen emsig hin und her. Eigentlich ein idyllischer Ort, an dem man Ruhe und Entspannung findet. Trotzdem läuft ihm bei diesem Anblick ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wenn seine Freundin sonntags einen Spaziergang unternehmen wollte, hat er stets nach einer Ausrede gesucht, um nicht hier entlang gehen zu müssen. Einmal war sie deswegen ziemlich sauer gewesen und warf ihm vor, immer seinen Kopf durchsetzen zu wollen. Andreas schaut sich um. Wo wird die Person auf ihn warten? Vermutlich nicht auf dem Abschnitt, wo jederzeit Spaziergänger vorbeikommen könnten. Deshalb geht er ein Stück weiter und biegt nach links in den schmalen Pfad ein, der zwischen den beiden Weihern hindurch in den Wald führt. Weder der große, noch der kleine Teich ist von der Straße nach Spreitgen und dem Ort selber einsehbar. Lediglich von den Wanderwegen in der Umgebung. Doch auf diesen ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Neben dem Vogelgezwitscher ist nur das Rauschen des Windes in den Baumkronen zu hören. Andreas Herz schlägt schneller, sein Mund ist trocken. Er blickt auf seine Armbanduhr. Dabei war keine Uhrzeit vereinbart. Nervös schaut er nach rechts und links. Er fühlt sich beobachtet, spürt Blicke auf sich gerichtet. Er kann es nicht ertragen, dass er nicht weiß, wer die Person ist und wo sie sich versteckt. Seine schweißnassen Hände wischt er an der Jeans ab, dann fährt er sich mit dem Unterarm über die Stirn. Plötzlich ein Rascheln. Dicht hinter ihm. Reflexartig dreht er sich um, sucht mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung ab. Nichts. Vielleicht ist ein Vogel aufgeflogen oder eine Maus durch das Unterholz gelaufen. Andreas tritt von einem Fuß auf den anderen, denkt unwillkürlich an seine Freundin Katrin. In all den Jahren des Zusammenlebens hat er ihr nie von damals erzählt. Er darf sie keinesfalls in Gefahr bringen. Deswegen ist er hier. Aufmerksam behält er die Ufer der beiden Weiher im Auge, registriert jede Bewegung der Zweige, jeden Vogel in den Bäumen. Dann das Knacken eines Astes, der unter Druck zerbricht. Laut und sehr nah. Ruckartig schnellt sein Kopf herum. Ihm stockt der Atem, als er die großgewachsene, schlanke Gestalt ungefähr zehn Meter entfernt erblickt. Wo war sie so plötzlich hergekommen? Sie ist dunkel gekleidet und trägt eine schwarze Sturmhaube. Andreas hat keine Vermutung, um wen es sich handeln könnte. Sie nähert sich bis auf zwei Meter. Dann bleibt sie stehen, die rechte Hand hinter dem Rücken verborgen. Sie schaut ihm in die Augen, zeigt ansonsten keinerlei Reaktion. Andreas hört seinen Puls schlagen. Wieder und wieder wischt er seine Handflächen an der Hose ab. Was nun? Soll er weglaufen? Sie ansprechen oder abwarten, was passiert? „Wer bist du? Was willst du von mir?“, fragt er, nachdem sich sein Gegenüber nicht rührt. Doch die Person reagiert nicht, starrt ihn mit ihren eiskalten blauen Augen nach wie vor an. Andreas’ Brustkorb zieht sich zusammen. Sein Oberkörper verkrampft sich. Der Abendwind weht durch sein verschwitztes T-Shirt. Er fröstelt, steckt die Hände in die Jackentaschen und umklammert mit der Rechten das Messer. Was weiß sie? Was hat sie vor? Ihr Schweigen ist schlimmer als jede Drohung. „Warum hast du mich herbestellt?“ Andreas versucht sein Gegenüber zum Reden zu bringen. Sie sagt immer noch nichts, doch ihr Blick durchbohrt ihn wie ein Dolch. Das Schweigen wird unerträglich. Seine Knie zittern. „Wenn du nichts sagst, kann ich ja wieder gehen“, provoziert er, um sie aus der Reserve zu locken. Jetzt reagiert die Gestalt zum ersten Mal. Langsam hebt sie den linken Arm, zieht die...