Wilhelm | Inseln im Chaos | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 100 Seiten

Wilhelm Inseln im Chaos

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-23143-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 100 Seiten

ISBN: 978-3-641-23143-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Im Zweifel für die Angeklagte
Vor fünf Jahren hat Barbara Holloway ihren Beruf als Anwältin aufgegeben, weil sie nicht länger Politik über Gerechtigkeit stellen wollte. Als ihr Vater sie bittet, ihm bei einem Fall zu helfen, bei dem es um Leben und Tod geht, kehrt Barbara in den Gerichtssaal zurück: Nell Kendricks wird angeklagt, ihren Mann Lucas ermordet zu haben. Sollte sie schuldig gesprochen werden, droht ihr die Todesstrafe. Doch ist Nell wirklich eine Mörderin? Sie und ihr Mann haben sich vor sieben Jahren getrennt, als Lucas im Auftrag der Regierung seine Forschungen zur Chaostheorie vorangetrieben hat. Kurz darauf ist er verschwunden. Und jetzt soll Nell ihn einfach erschossen haben, als er vor ihrer Tür aufgetaucht ist? Wo war Lucas sieben Jahre lang? Je tiefer Barbara in diesen verwickelten Fall vordringt, desto mehr Fragen stellen sich. Es scheint, als wären Lucas' Forschungen der Schlüssel zu allem - und die sind viel mehr als bloße Zahlenspiele auf dem Papier, wie Barbara schnell feststellen muss ...

Kate Gertrude Meredith wurde am 8. Juni 1928 in Toledo, Ohio geboren. Nach ihrem Highschool-Abschluss arbeitete sie zunächst als Model, Telefonistin und Schreibkraft, ehe sie 1947 Joseph Wilhelm heiratete. Sie begann 1956 mit dem Schreiben von Science-Fiction-Kurzgeschichten; noch im selben Jahr erschien 'The Pint-Size-Genie' im Magazin Fantastic. 1963 erschien ihr Debütroman 'More Bitter Than Death'. Zwei Jahre später - Wilhelm hatte sich inzwischen von ihrem Mann scheiden lassen und den Schriftsteller Damon Knight geheiratet - veröffentlichte sie ihren ersten Science-Fiction-Roman, 'Der Klon, Wesen aus Zufall', der für den Nebula Award nominiert wurde. Sie etablierte sich als Vertreterin einer weniger technisch, sondern mehr psychologisch orientierten Science-Fiction: für ihren Roman 'Hier sangen früher Vögel' wurde sie 1977 mit dem Hugo und dem Locus Award ausgezeichnet; ein Erfolg, den sie 2006 mit ihrem Sachbuch 'Storyteller' wiederholte. Zudem gewann sie mehrfach den Nebula Award. Zusammen mit Damon Knight und Robin Scott Wilson gründete sie den Clarion Workshop für angehende Phantastik-Autoren, der im Laufe der Jahrzehnte Schriftsteller wie Octavia Butler, Monica Byrne, Cory Doctorow, Kim Stanley Robinson oder Jeff VanderMeer prägte. Sie starb am 8. März 2018 in Eugene, Oregon.
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1


Sie nannten ihn immer Tom. Die Wartungsmannschaft, die Ärzte, alle nannten ihn so, und obwohl er wusste, dass es nicht sein wirklicher Name war, reagierte er darauf. Tue dies, Tom, tue das, komm her, Tom, fass mit an.

Manchmal konnte er beinahe einen anderen Namen für sich denken, aber er wollte sich niemals ganz in seinem Bewusstsein bilden. Es fing mit einem Gedanken an, einer Idee, einer Regung, einen anderen Namen zu sagen, sich nicht umzusehen, wenn sie Tom sagten, aber dann bekam er es mit der Angst, und der Gedanke verschwand wieder. Guten Morgen, Tom. Wie geht's? Irgendwelche Träume, Episoden? Hier ist deine Medizin. So ist's brav. Und nun geh zur Arbeit. Bis morgen früh, Tom.

Er bewohnte ein kleines Apartment auf dem Gelände. Manchmal bereitete er seine Mahlzeiten dort, meistens aber aß er in der Cafeteria. Er hatte eine Essenmarke. Guten Morgen, Tom. Schinken, Spiegeleier, was soll es sein? Von der Cafeteria zum Sprechzimmer der Ärztin. Von dort zum Büro der Wartungsabteilung. Dann draußen auf dem Gelände, Abfälle einsammeln, Mülltonnen leeren, manchmal Reinigungsarbeiten in den Gebäuden, mit der Bohnermaschine. Die Arbeit mit dieser gefiel ihm am besten von den Arbeiten im Innern, aber am liebsten war er draußen beschäftigt. Unkraut jäten, Mulch ausbreiten, mit der Mähmaschine fahren, lange, geschwungene Muster in die Rasenfläche machen, die wie eine Erinnerung roch. Einmal musste er Fenster reparieren, und das war ihm zuwider gewesen. Durch die Scheiben hinein zu schauen, als sähe er eine separate Welt, die nicht seine Welt und nicht einmal wirklich war, hatte ihn nervös gemacht. Nicht, dass er sich vor Fenstern gefürchtet hätte, nervös machte ihn, dass die Fenster falsch waren, hatte er der Ärztin gesagt. Das war aber auch nicht genau, was es war.

Wie ist es dann, Tom? Sag mir, was du meinst.

Er konnte es ihr nicht sagen. Er hatte versucht, ihre Hand an die fensterähnliche Schale zu führen, die ihn umgab, nicht hart wie die Fenster des Gebäudes, sondern nachgiebig, sich dehnend, wenn es nötig war, dann wieder schrumpfend, dass sie genau passte, aber immer vorhanden. Er hatte versucht, sie ihre eigene Schale fühlen zu lassen, zu erklären, dass sie nicht so eng angepasst sein müsse. Als er versuchte, ihre Schale zu berühren, hatte sie nach jemand gerufen, und jemand hatte ihm eine Spritze gegeben. Gestern. Heute morgen. Irgendwann. Alles, was nicht jetzt war, war irgendwann.

Hin und wieder musste er die Fenster putzen, und sie fragten ihn, ob die Fenster ihn ängstigten. Er sagte, nein. Sie fragten ihn, ob er ihre Schalen sehen könne. Er sagte, nein. Er sagte, er wisse nicht, was sie meinten. Sie fragten ihn, ob er eine Schale habe, die sich dehnen und zusammenziehen könne. Es sagte, nein. Er sagte, er wisse nicht, was sie meinten. Er fürchtete sich vor der Ärztin. Wenn er ihr die Wahrheit sagte, rief sie jemanden, der ihm eine Spritze gab. Und wenn er dann hinausging, war es anders. Statt grüne Blätter zu sehen, konnten sie ganz verschwunden sein, oder es konnte Schnee am Boden liegen. Oder es konnte in einer anderen Weise anders sein, die ihn nervös machte. Er sagte ihnen nie, wenn die Blätter nicht richtig waren.

Irgendwann. Er wachte vor seinem Fernseher auf, ein beschriebenes Stück Papier in den Fingern: Nimm die Medizin nicht. Er warf ihn fort.

Irgendwann. Er erwachte in einem Sessel in seinem winzigen Wohnraum, einen Zettel in den Fingern: Nimm die Medizin nicht. Er warf ihn fort.

Irgendwann. Er erwachte und hielt sich die Hand, die blutig war. Als er sie säuberte, sah er Kratzer in der Handfläche, wie mit einer Nadel eingeritzt: Nicht.

Guten Morgen, Tom. Wie geht's? Irgendwelche Träume, Episoden? Hier ist deine Medizin. So ist es brav. Nun geh zur Arbeit.

Die Medizin war eine lange rote Kapsel in einem kleinen weißen Papierbecher, zu dem ein zweiter kleiner Papierbecher mit Wasser gehörte. Er steckte die Kapsel in den Mund und schluckte sie mit dem Wasser hinunter und ging hinaus zur Wartungsabteilung, um seine täglichen Aufträge entgegenzunehmen. Unterwegs spuckte er die Kapsel in die Hand und steckte sie in die Tasche.

Mehrmals berührte er die Kapsel in seiner Tasche. Klebrig. Er zerbrach sie zwischen den Fingern und öffnete sie. Körner wie feiner Sand waren in der Tasche.

Tom, jäte den Löwenzahn aus den Osterglocken. Er bückte sich, um anzufangen, aber er zitterte vor Kälte. He, Tom, bist du krank oder was? Muss die Grippe sein. Alle Welt hat die Grippe. Geh nach Hause, Tom. Leg dich ein paar Tage ins Bett, und alles wird wieder gut sein.

Irgendwann. Guten Morgen, Tom. Man sagte mir, du seist krank, also brachte ich dir die Medizin herüber. Möchtest du zum Arzt?

Als sie gegangen war, spuckte er die rote Kapsel aus. Er zitterte so stark, dass er sie fallen ließ. Kein Arzt. Keine Medizin. Kein Arzt. Keine Medizin. Kein Arzt. Er schlief.

Irgendwann. Guten Morgen, Tom. Geht es dir besser? Die Hälfte des Wartungspersonals hat die Grippe oder was immer es ist. Der Arzt sagt, du sollst einfach ausruhen und viel Flüssigkeit trinken und Aspirin nehmen, wenn du dich schlecht fühlst. Hier ist deine Medizin. Ja, nimm sie schon.

Sie beobachtete ihn so lange, dass die klebrige rote Kapsel in seinem Mund zu schmelzen begann und er die Körner wie Sand fühlte. Er hustete sie in ein Papiertaschentuch. Sie zog sich zurück.

Er schwitzte und fror abwechselnd. Sein Herzschlag raste, verlangsamte, pochte dumpf und heftig. Tiefe, den ganzen Körper erfassende Krämpfe nahmen ihm den Atem, und er krümmte sich vor Schmerz, und als sie nachließen, zitterte er so heftig, dass er kein Glas halten konnte, keinen Löffel, um die Suppe zu essen. Wenn sie ihn fragten, wie es ihm gehe, sagte er immer: »besser«. Sie brachten ihm jeden Tag das Essen, und eines Tages nahm er die Schüssel und trank die ganze Suppe aus, dann trank er alle Milch und den Saft. Er hatte lange nichts gegessen.

An dem Tag, als er die Suppe trank, wurde ihm bewusst, dass er schmutzig und unrasiert war, dass er seine Kleidung nicht gewechselt hatte, seit … Er wusste nicht, seit wann. Er duschte. Beim Rasieren betrachtete er sein Gesicht im Spiegel, wie er es manchmal tat. Sein Gesicht, nicht Toms. Wenn er dies tat, geschah es mit großer Anspannung und Intensität, als könnte dieses fremde Gesicht heute vielleicht vertrauter werden. Dann würde sich dieser fremde Mund öffnen und ihm etwas sagen, was er wissen musste. Blaue Augen, blutunterlaufen, als ob er geweint hätte. Er erinnerte sich, wie er zusammengekrümmt auf dem Bett gelegen und wie ein Kleinkind geweint hatte. Braunes, leicht gewelltes Haar. Ein schmales Gesicht, dünne Lippen, spitzes Kinn. Er war gut genährt, mit gut entwickelten Muskeln.

Einen Augenblick lang dachte er, sein Spiegelselbst würde ihm den anderen Namen sagen; er wusste ihn beinahe, seinen wirklichen Namen; er war da und wartete nur darauf, dass er ihn aussprechen würde. Er öffnete den Mund, wie um jenes andere Selbst zum Sprechen zu ermutigen, und der Schrecken durchfuhr ihn, dass er den Rand des Waschbeckens umklammerte und die Augen fest zudrückte. Als er wieder normal atmen und die Augen öffnen konnte, sah er sein Spiegelbild nicht an.

Er rasierte sich fertig und zog rasch saubere Kleider an: Bluejeans, Hemd, Pullover, Socken, Stiefel. Dann setzte er sich auf die Bettkante. Er wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Ein Zittern überkam ihn, aber es war nur ein schwaches Nachbeben der reißenden Krämpfe, die er ertragen hatte. Er wartete, bis das Zittern sich legte, dann stand er auf und sah sich in seinem Quartier um.

Es war sehr klein. Ein Sofa und ein Stuhl und eine Lampe waren im Wohnzimmer, und ein Fernseher auf einem Ständer. Alles war braun oder beige, sogar ein schäbiger Teppich. Eine kleine Küche mit einem Kühlschrank halber Größe, ein Herd mit drei Platten, zwei winzige Schrankteile, die ein paar Teller, Gläser, eine einzige Tasse enthielten. Ein hellbrauner Tisch mit Resopalplatte und zwei Stühle aus Metall und Plastik nahmen den größten Teil des Raumes ein. Die Schlafkammer war ähnlich, kahl und anstaltsmäßig: ein Feldbett, eine schmale Kommode und ein kleiner Kleiderschrank, der Arbeitskleidung wie die enthielt, welche er jetzt trug.

Und noch etwas, dachte er unbestimmt, aber mehr kam ihm nicht in den Sinn. Etwas anderes. Er sah in den Kühlschrank: Milch, die sauer geworden war, ein paar Eier, Käse, Saft, Äpfel … Etwas anderes, dachte er wieder.

Er kehrte in den Wohnraum zurück und schaltete den Fernseher ein. Drei Kanäle kamen klar herein, eine Unterhaltungssendung, ein Kinderprogramm und ein Film über Löwen. Zwei Fenster waren ihm gegenüber, dahinter Dunkelheit und starker Regen, der gegen die Scheiben schlug. Er wollte aufstehen, um die Rollläden herunterzulassen, dann ließ er es sein. Tom hatte nie bemerkt, dass er wie ein Fisch in einem Aquarium war. Er wusste alles über Tom, was er tat, wie er seine Zeit vor dem Fernseher verbrachte, die meisten Abende davor einschlief und sich benommen in die Schlafkammer schleppte, wenn er aufwachte und Schnee den Bildschirm füllte. Nie hatte er bemerkt, ob die Rollläden aufgezogen oder heruntergelassen waren. Er wusste alles über Tom. Er wusste, dass er und Tom derselbe Mann waren, und dass sein Name nicht Tom war, und in einer Weise, die er nicht begreifen konnte, war ihm bewusst, dass Tom nicht wirklich war, dass er aber niemandem von dieser Erkenntnis erzählen durfte.

Er zwang sich, vor dem Fernseher zu sitzen, wo Leute herumsprangen und schrien und einander umarmten. Sein Kopf begann zu schmerzen,...


Wilhelm, Kate
Kate Gertrude Meredith wurde am 8. Juni 1928 in Toledo, Ohio geboren. Nach ihrem Highschool-Abschluss arbeitete sie zunächst als Model, Telefonistin und Schreibkraft, ehe sie 1947 Joseph Wilhelm heiratete. Sie begann 1956 mit dem Schreiben von Science-Fiction-Kurzgeschichten; noch im selben Jahr erschien „The Pint-Size-Genie“ im Magazin Fantastic. 1963 erschien ihr Debütroman „More Bitter Than Death“. Zwei Jahre später – Wilhelm hatte sich inzwischen von ihrem Mann scheiden lassen und den Schriftsteller Damon Knight geheiratet – veröffentlichte sie ihren ersten Science-Fiction-Roman, „Der Klon, Wesen aus Zufall“, der für den Nebula Award nominiert wurde. Sie etablierte sich als Vertreterin einer weniger technisch, sondern mehr psychologisch orientierten Science-Fiction: für ihren Roman „Hier sangen früher Vögel“ wurde sie 1977 mit dem Hugo und dem Locus Award ausgezeichnet; ein Erfolg, den sie 2006 mit ihrem Sachbuch „Storyteller“ wiederholte. Zudem gewann sie mehrfach den Nebula Award. Zusammen mit Damon Knight und Robin Scott Wilson gründete sie den Clarion Workshop für angehende Phantastik-Autoren, der im Laufe der Jahrzehnte Schriftsteller wie Octavia Butler, Monica Byrne, Cory Doctorow, Kim Stanley Robinson oder Jeff VanderMeer prägte. Sie starb am 8. März 2018 in Eugene, Oregon.



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