Wissler | Kolumbus, der entsorgte Entdecker | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 100 Seiten

Reihe: Hirzel Literarisches Sachbuch

Wissler Kolumbus, der entsorgte Entdecker

Das Desaster des legendären Seefahres

E-Book, Deutsch, 100 Seiten

Reihe: Hirzel Literarisches Sachbuch

ISBN: 978-3-7776-2979-7
Verlag: S. Hirzel
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Da steht er, dem ganz Spanien zugejubelt hat, vor dem die allerkatholischsten Könige Isabella und Ferdinand sich erhoben haben, und blickt auf sein vom Schiffsbohrwurm zerfressenes Schiff Capitana, gestrandet vor Jamaika. Teile der Mannschaft meutern, die Einheimischen lassen sich nicht mehr mit Glasperlen abspeisen, die Spanier auf der nahen Insel Hispaniola helfen ihm nicht, die Welt will nichts mit ihm, dem fordernden Nörgler, zu tun haben. Er, Christoph Kolumbus, ist ein König Ohneland, ein Eroberer ohne Eroberung. Zwischen Fiktion und historischer Wahrheit erzählt Wissler die letzte Expedition des legendären Seefahrers völlig neu – welch eine Geschichte!
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I Weltgeschichte zu machen bedeutet oft bloß, eine endlose Reihe langweiliger Tage ertragen zu können, denkt der Admiral des Ozeanischen Meeres und kratzt sich am Stoppelbartkinn. Übellaunig stapft er durch den schmutzigen Sand am zerlöcherten, modernden Rumpf der Capitana entlang zu den Palisaden, wo die Leute in größtmöglichem Abstand zum Lager ein Latrinenhäuschen gebaut haben. Christoph Kolumbus öffnet den Verschlag und springt, wie vom Skorpion gestochen, drei Schritte zurück. Sein Gesichtsausdruck: fassungslos angeekelt. Der Zustand der Latrine ist derart, dass … aber lassen wir das. Niemand bezahlt viel Geld für ein Buch, um dann solche Sauereien zu lesen. Gut, besinnt sich der große Admiral, man muss gerechterweise bedenken, dass Seemänner, die es jahrein, jahraus gewohnt sind, ihre Hintern schlicht über die Reling zu hängen, deren Abort sozusagen der endlose Ozean ist, sich an die Begrenztheit einer solchen Landlatrine erst gewöhnen müssen. Oder auch, dass eine einzige Latrine doch zu wenig ist für 60 verwahrlosende, schmutzige Männer. Trotzdem. Das hier, das ist respektlos. Eine Unverschämtheit. Sie wissen doch, dass auch er, der Admiral des Ozeanischen Meeres und Vizekönig aller von ihm entdeckten Reiche, gelegentlich hierherkommt, zwangsläufig und naturgetrieben hierherkommen muss. Darf man da nicht ein bisschen Respekt erwarten? Ohne noch einmal auf das Entsetzliche zu blicken, beschließt Kolumbus, dass sein Harndrang doch stark nachgelassen hat, und stapft durch den Schmutzsand – Schmutz ist überall, wirklich überall – zurück zur Capitana. Weltgeschichte zu machen bedeutet oft, eine endlose Reihe langweiliger Tage und widrigster Umstände ertragen zu können, modifiziert er seinen schönen Leitsatz. Widrigste Umstände wie versaute Latrinen, stinkende Baumratten an Garnichts als Nachtmahl, Schwaden von Schweißgestank, undankbares, dauermaulendes Personal, rebellierende Nichtskönner und Besserwisser, Indianerpfeile und natürlich die Hitze. Diese unerträgliche, lähmende Hitze. Alles schwitzt und klebt. Eine Heimsuchung. Schon jetzt, am frühen Morgen, ist es viel zu heiß. Kein Lüftchen regt sich. Das Wasser in der weiten Bucht ist glatt und träge, ölig fast, wie verklebt von widerlicher Hitze. Der Himmel gnadenlos blau. Auch heute wird ihm – wie gestern und vorgestern und all die Tage davor – wenig anderes übrig bleiben, als in den Schutz seiner kleinen Hütte auf dem Oberdeck zu kriechen, dort schwitzend und schnaufend die Stunden zu verplempern und dem unzweifelhaften Höhepunkt des Tages entgegenzufiebern: ein Stück gegrillte Baumratte, am Abend, wenn die Sonne gesunken ist und es hoffentlich etwas kühler wird. Ein Tag wie all die anderen Tage. Trostlos. Nicht zu vergessen die Gespräche. Er kennt seinen Text auswendig. Er wird sagen, dass die Retter unterwegs sind. Ganz sicher sind sie das. Vor hundert Tagen ist Méndez nach Hispaniola aufgebrochen. Selbstverständlich hat er die Überfahrt geschafft, keine Frage, Diego Méndez ist schließlich ein Held. Wie oft hat er das auf dieser elenden Reise schon bewiesen, wie oft seine Kameraden aus Gefahren gerettet, die ungleich größer waren. Erinnert euch, Leute, wie unser tapferer Méndez an jener schrecklichen Küste den Weg für uns freischlug, als uns die Wilden einzukreisen drohten. Ohne ihn, unseren Helden Méndez, wären wir nicht einmal hier. Also? Was ist da eine Fahrt im Kanu über ruhige See, die paar Meilen? Für Méndez eine seiner leichtesten Heldenübungen. Ganz gewiss wird er inzwischen ein Schiff gefunden haben. Das ist natürlich nicht so einfach, aber Méndez ist auch ein großer Diplomat. Ein Schiff und eine tüchtige Mannschaft. Die Retter sind gewiss schon auf dem Weg hierher, mit Speck an Bord und Brot und Schnaps und Wein. Ja, natürlich, da sei er ganz und gar sicher. Er sei Kolumbus, der Entdecker, die Legende, er habe immer Recht gehabt. Vielleicht werden sie heute schon am Horizont die Segel des rettenden Schiffes ausmachen. Ganz gewiss aber morgen. Diese kurze Zeit noch müssten sie durchhalten. Gemeinsam durchhalten. Eisern. Ein paar Stunden noch, mein Freund. Schau her, mir, Kolumbus, dem Herrn unermesslicher Welten, geht es auch nicht besser als dir. Esse ich Besseres als du? Trinke ich etwas anderes als Flusswasser? Natürlich nicht. Wir sind gleich, du und ich. Gefährten in der Not. Und wir schaffen das. Überhaupt keine Frage. Natürlich schaffen wir das. Das alles wird er sagen, immer und immer wieder, den gleichen Text an verschiedene Sturschädel ran, bis zum Erbrechen. Weiß eigentlich irgendwer auf Hispaniola oder, noch besser, in den weiten, kühlen Schlössern Spaniens, wie mühsam es für Eroberer ist, die kleinmütige Gefolgschaft bei Laune zu halten? Wie anstrengend? Wie maßlos anstrengend? Seemänner, mit angsterfüllten Augen, stark schweißelnd und vor Schmutz starrend, werden zu ihm in die sowieso schon enge, heiße Hütte kriechen, zu ihm, der Autorität, dem unfehlbaren Orakel, und fragen, wie die Chancen stehen. Sie werden von Frauen und sieben mal sieben Kindern erzählen, die sie unbedingt wiedersehen wollen. Sorge dich nicht, wird der gütige Admiral sagen und dabei das Gähnen zu unterdrücken versuchen. Du wirst sie wiedersehen. Als reicher Mann wirst du nach Spanien zurückkehren. Reich und überaus angesehen, denn du segeltest mit Kolumbus. Du bist Teil seiner Geschichte, die eine der größten Geschichten überhaupt ist. Du wirst dir ein schönes Haus kaufen und Acker und Weiden und für deine sieben mal sieben Kinder einen Privatlehrer einstellen, damit sie etwas Ordentliches lernen und sich später nicht den Gefahren der See aussetzen müssen. Heute nochmals Baumratte, mein guter Freund, und morgen dann ein mächtiges Stück gegrillten Rindfleischs und hektoliterweise roten Wein. Du und ich, wir werden dann fröhlich anstoßen auf die gelungene Rettung. Ja, da bin ich mir ganz sicher. Kolumbus denkt: Weltgeschichte zu machen bedeutet oft bloß, Tag für Tag, Jahr für Jahr die Jammereien und Meckereien seiner Leute auszuhalten. Dazu noch die Gerüchte. Sie sind überhaupt das Allerschlimmste. Dass selbst wenn – was höchst unwahrscheinlich, ja kaum vorstellbar sei – Méndez in seinem lächerlich winzigen Kanu das erbarmungslose Meer überquert und Hispaniola erreicht hätte, trotzdem kein Schiff zur Hilfe kommen werde. Weil nämlich bei Hofe niemand Kolumbus retten wolle. Er sei dort lästig und wegen seiner dauernden Forderungen auch extrem teuer im Unterhalt. Gut und praktisch, wenn der Seeheld irgendwo ehrenhaft verrotte. Dass seine wackeren Leute mit verrotten, das sei dann eben ein Kollateralschaden. Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Wenn Kolumbus so etwas hört, dann wird er hart, sein Blick wird eisig. Dass er es wage, so etwas zu sagen, herrscht er den armen Seemann an. Überhaupt so etwas zu denken und es dann auch noch ihm, dem Admiral, ins Gesicht zu sagen. Unfassbar. Respektlos. Enttäuscht sei er, enttäuscht und viel mehr noch. Entsetzt. Beleidigt. Nur so viel: Er, der große Entdecker, genieße die unbegrenzte Huld der Königin wie auch des Königs. Habe er ihnen doch die Wege zu unendlichem Reichtum gewiesen, zu neuen Ländern, gegenüber deren Größe Spanien wie ein Vorgärtchen wirke, und das, entdecken und den Reichtum Isabellas und Ferdinands und überhaupt ganz Spaniens größer und noch größer werden lassen, genau das tue er auch jetzt. Auch hier. Ja, in diesem verschwitzten Moment in dieser erbärmlichen Behausung, selbst wenn es vielleicht auf den ersten Blick nicht danach aussehe. Auch hier, in dieser elenden Bucht, werde Weltgeschichte geschrieben, und zwar unablässig. Kolumbus stapft an der Capitana – man muss bedauerlicherweise sagen: am wurmzerfressenen Wrack der Capitana – vorbei Richtung Meer. Elende Hitze, denkt er und wischt sich ein erstes Schweißbächlein von der Brust. Elende Lage. Dieses Nichtstun. Nichtstunkönnen. Eine Folter. Nichtstun ist ja eigentlich das Gegenteil von entdecken. So viel gäbe es zu entdecken, das weiß er, unendliche Welten, stattdessen hockt er hier bleischwer auf diesem Strand und verschwendet seine Zeit damit, kleinmütige Seeleute zu bequasseln und davon abzuhalten, ihm vielleicht vor lauter Langeweile die Haut abzuziehen. Auf halbem Weg zwischen Wrack und Meer bleibt er stehen. Er dreht sich um und sieht zum Wald hoch, der die weite Bucht säumt. Ein lückenlos wildes, dschungeliges Grün. Vor Monaten, an der düsteren Küste jenes geheimnisvollen und mutmaßlich riesengroßen Landes, hätte er es niemals wagen dürfen, so ungedeckt auf freiem Gelände zu sinnieren. Sofort hätten im wahrsten Sinne des Wortes hinterhältige Indianer ihre Pfeile auf ihn geschossen. Alle mussten sie dauernd darauf achten, gut gedeckt zu sein, die Pfeile kamen aus den aberwitzigsten Winkeln heran und rissen schreckliche Wunden in Seefahrerschultern, -arme und -beine. Einem der Männer hatte ein Pfeil den Bauch aufgerissen. Gedärm quoll heraus, er schrie die ganze Nacht, bis er am regnerischen Morgen endlich sterben durfte. Unnötig zu sagen: regnerischer Morgen. Es gab ausschließlich regnerische Morgen. Und regnerische Nachmittage, Abende, Nächte. Es hatte geregnet und nur geregnet, ohne Pause, erbarmungslos. Wochenlang waren sie alle nass bis auf die Knochen, nein bis ganz tief in die Knochen hinein, sie waren aufgeweicht und begannen sichtlich zu faulen. Finstere, regensatte Wolken klebten an den steilen Urwaldhängen, und dann kamen wieder die Pfeile. Aus den Wolken, aus den Bäumen. Niemals haben sie einen Schützen zu Gesicht bekommen. Dagegen, denkt Kolumbus, während er weiter das helle, freundliche Grün oberhalb der Bucht nach irgendeiner Bewegung absucht, haben wir es hier richtig gemütlich. Lieber die heiße Sonne als diesen...


Wissler, Wolfgang
Wolfgang Wissler arbeitet seit fast drei Jahrzehnten für den 'Südkurier' in Konstanz, derzeit als Politikredakteur. Zuletzt erschien von ihm 'Er sagt: Töte ihn!' mit sieben mörderisch spannenden Kurzgeschichten.


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